Moses Mendelssohn

Ausgewählte philosophische Werke von Moses Mendelssohn


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von dergleichen Vorspiegelungen von Gründen und Gegengründen, die sich einander aufheben, dahin verleiten, daß er nicht sich und seiner Unfähigkeit die Schuld gäbe, sondern aus Unwillen sie lieber der Vernunft selbst zur Last legte, und die übrige Zeit seines Lebens alle Vernunftgründe hassete und verabscheuete, alle Wahrheit und alle Erkenntniß ferne von sich seyn ließe: wäre das Unglück dieses Menschen nicht bejammernswerth? Beym Jupiter! antwortete ich, sehr bejammernswerth. Wir müssen also fürs erste diesen Irrthum zu vermeiden, und uns zu überzeugen suchen, daß nicht die Wahrheit selbst ungewiß und schwankend, sondern unser Verstand öfters zu schwach sey, dieselbe feste zu halten, und sich ihrer zu bemeistern; daher wir unsere Kräfte und unsern Muth verdoppeln und immer neue Angriffe wagen müssen. Wir alle sind dazu verpflichtet, meine Freunde! Ihr des bevorstehenden Lebens, und ich des Todes halber; ja, ich habe so gar einen Bewegungsgrund dazu, der ziemlich nach gemeiner, unwissenden Leute Denkungsart, mehr rechtsüchtig, als wahrheitliebend scheinen dürfte. Wenn diese etwas Zweifelhaftes zu untersuchen haben, so bekümmern sie sich wenig, wie die Sache an sich selber beschaffen sey, wenn sie nur Recht und ihre Meynungen von den Anwesenden Beyfall erhalten. Ich werde von diesen Leuten nur in Einem Punkte unterschieden seyn. Denn daß ich die Anwesenden von meiner Meynung überführe, ist bey mir nur eine Nebenabsicht; meine vornehmste Sorge gehet dahin, mich selbst zu bereden, daß sie der Wahrheit gemäß sey, weil ich gar zu großen Vortheil dabey finde. Denn siehe, liebster Freund! ich mache folgenden Schluß: Ist die Lehre, die ich vortrage, gegründet, so thue ich wohl, daß ich mich davon überzeuge; ist aber den Verstorbenen keine Hoffnung mehr übrig, so gewinne ich wenigstens dieses, daß ich meinen Freunden noch vor meinem Tode nicht durch Klagen beschwerlich falle. Ich ergetze mich zuweilen an dem Gedanken, daß alles, was dem gesamten menschlichen Geschlechte wahren Trost und Vortheil bringen würde, wenn es wahr wäre, schon deswegen sehr viel Wahrscheinlichkeit für sich habe, daß es wahr sey. Wenn die Zweifelsüchtigen wider die Lehre von Gott und der Tugend verwenden, sie sey eine bloße politische Erfindung, die zum Besten der menschlichen Gesellschaft erdacht worden: so möchte ich ihnen allezeit zurufen: O! meine Freunde! erdenket einen Lehrbegriff, welcher der menschlichen Gesellschaft so unentbehrlich ist, und ich wette daß er wahr sey. Das menschliche Geschlecht ist zur Geselligkeit, so wie jedes Glied zur Glückseligkeit berufen. Alles, was auf eine allgemeine, sichere und beständige Weise zu diesem Endzwecke führen kann, ist unstreitig von dem weisesten Urheber aller Dinge als ein Mittel gewählt, und hervorgebracht worden. Diese schmeichelhafte Vorstellungen haben ungemein viel Tröstliches, und zeigen uns das Verhältniß zwischen dem Schöpfer und dem Menschen in dem erquickendsten Lichte: daher ich nichts so sehr wünsche, als mich von der Wahrheit derselben zu überzeugen. Jedoch, es wäre nicht gut, wenn meine Unwissenheit hierüber noch lange dauren sollte. Nein! ich werde bald davon befreyet werden. – In dieser Verfassung, Simmias und Cebes! wende ich mich zu euren Einwürfen. Ihr, meine Freunde! wenn ihr meinem Rathe folgen wollet, so sehet mehr auf die Wahrheit, als auf den Sokrates. Findet ihr, daß ich der Wahrheit getreu bleibe, so gebt mir Beyfall; wo nicht, so wiedersetzet euch ohne die geringste Nachsicht: damit ich nicht, aus gar zu guter Meynung, euch und mich selbst hintergehe, und wie eine Biene, die ihren Stachel zurück läßt, von euch scheide. –

      Wohlan, meine Freunde! merket auf, und erinnert mich, wo ich etwas von euren Gründen auslassen, oder unrichtig vortragen würde. Simmias räumet ein, daß unser Denkungsvermögen entweder für sich geschaffen seyn, oder durch die Zusammensetzung und Bildung des Körpers hervorgebracht werden muß: Nicht? – Richtig! – In dem ersten Falle, wenn die Seele nehmlich als ein für sich geschaffenes unkörperliches Ding zu betrachten, billiget er ferner die Reihe von Vernunftschlüssen, durch welche wir bewiesen, daß sie nicht mit dem Körper aufhören, durchaus nicht anders vergehen könne, als durch den allmächtigen Wink ihres Urhebers. Wird dieses noch zugegeben, oder stehet unter euch jemand noch an? – Wir stimmten alle willig ein. – Und daß dieser allgütige Urheber kein Werk seiner Hände jemals zernichte: so viel ich mich erinnere, hat auch hieran Niemand gezweifelt. – Niemand. – Aber dieses befürchtet Simmias: Vielleicht ist unser Vermögen zu empfinden und zu denken kein für sich erschaffenes Wesen; sondern, wie die Harmonie, wie die Gesundheit, oder wie das Leben der Pflanzen und der Thiere, die Eigenschaft eines künstlich gebildeten Körpers: war es nicht dieses, was du besorgtest? – Eben dieses, mein Sokrates! – Wir wollen sehen, sprach er, ob dasjenige, was wir von unserer Seele wissen, und so oft wir wollen erfahren können, nicht deine Besorgniß unmöglich machet. Was geschiehet bey der künstlichsten Bildung oder Zusammensetzung der Dinge? werden da nicht gewisse Dinge näher zusammengebracht, die vorhin von einander entfernet waren? – Allerdings! – Sie sind vorhin mit andern in Verbindung gewesen, und nunmehr werden sie unter sich verbunden, und machen die Bestandtheile des Ganzen aus, das wir ein Zusammengesetztes nennen? – Gut! – Durch diese Verbindung der Theile entstehet erstlich in der Art und Weise, wie diese Bestandtheile neben einander sind, eine gewisse Ordnung, die mehr oder weniger vollkommen ist. – Richtig! – So dann werden auch die Kräfte und Wirksamkeiten der Bestandtheile durch die Zusammensetzung mehr oder weniger verwandelt, nachdem sie durch Wirkung und Gegenwirkung bald gehemmet, bald befördert, und bald in ihrer Richtung verändert werden: Nicht? – Es scheinet. – Der Urheber einer solchen Zusammensetzung siehet bald einzig und allein auf das Nebeneinanderseyn der Theile: Z. B. bey der Wohlgereimtheit und dem Ebenmaß in der Baukunst, wo nichts als diese Ordnung des Nebeneinanderseyenden in Betrachtung kömmt; bald hingegen gehet seine Absicht auf die veränderte Wirksamkeit der Bestandtheile, und die daraus erfolgte Kraft des Zusammengesetzten, wie bey einigen Triebwerken und Maschinen; ja es giebt dergleichen, wo man deutlich siehet, daß der Künstler sein Absehen auf beides, auf die Ordnung der Theile und auf die Abänderung ihrer Wirksamkeit zugleich gerichtet hat. – Der menschliche Künstler, sprach Simmias, vielleicht etwas selten, aber der Urheber der Natur scheinet diese Absichten allezeit auf das allervollkommenste verbunden zu haben. – Vortrefflich, versetzte Sokrates; jedoch ich verfolge diese Nebenbetrachtung nicht weiter. Sage mir nur dieses, mein Simmias! kann durch die Zusammensetzung eine Kraft im Ganzen entstehen, die nicht in der Wirksamkeit der Bestandtheile ihren Grund hat? – Wie meynst du, mein Sokrates! – Wenn alle Theile der Materie, ohne Wirkung und Wiederstand, in einer todten Ruhe nebeneinander lägen, würde die künstlichste Ordnung und Versetzung derselben, im Ganzen irgend eine Bewegung, einen Widerstand, überhaupt eine Kraft hervor bringen können? – Es scheinet nicht, antwortete Simmias; aus unwirksamen Theilen kann wohl kein wirksames Ganzes zusammengesetzt werden. – Gut! sprach er, wir können diesen Grundsatz also annehmen. Allein wir bemerken gleichwohl, daß in dem Ganzen Uebereinstimmung und Ebenmaß angetroffen werden kann, ob gleich jeder Bestandtheil für sich weder Harmonie, noch Ebenmaß hat: wie gehet dieses zu? Kein einzelner Laut ist harmonisch: und gleichwohl machen viele zusammen eine Harmonie aus. Ein wohlgeordnetes Gebäude kann aus Steinen bestehen, die weder Ebenmaß noch Regelmäßigkeit haben. Warum kann ich hier aus unharmonischen Theilen ein harmonisches Ganzes, aus regellosen Theilen ein höchst regelmäßiges Ganzes zusammensetzen? – O! dieser Unterschied ist handgreiflich, versetzte Simmias, Ebenmaß, Harmonie, Regelmäßigkeit, Ordnung, u. s. w. können, ohne Mannigfaltigkeit, nicht gedacht werden: denn sie bedeuten das Verhältniß verschiedener Eindrücke, wie sie sich uns, zusammengenommen, und in Vergleichung gegeneinander, darstellen. Es gehört also zu diesen Begriffen ein Zusammennehmen, eine Vergleichung mannigfaltiger Eindrücke, die zusammen ein Ganzes ausmachen, und sie können daher den einzelnen Theilen unmöglich zukommen. – Fahre fort, mein lieber Simmias! rief Sokrates mit einem innern Wohlgefallen über die Scharfsinnigkeit seines Freundes; sage uns auch dieses: Wenn jeder einzelne Laut nicht einen Eindruck in das Gehör machen sollte, würde aus vielen wohl eine Harmonie entstehen können? – Unmöglich! – So auch mit dem Ebenmaße: Jeder Theil muß in das Auge wirken, wenn aus vielen das, was wir Ebenmaß nennen, entstehen soll. – Nothwendiger Weise. – Wir sehen also auch hier, daß im Ganzen keine Wirksamkeit entstehen kann, wovon der Grund nicht in den Bestandtheilen anzutreffen, und daß alles übrige, was aus den Eigenschaften der Elemente und Bestandtheile nicht fließt, wie die Ordnung, Symmetrie, u. s. w. einzig und allein in der Art der Zusammensetzung zu suchen sey. Sind wir von diesem Satze überzeugt, meine Freunde? – Vollkommen. – Es kömmt also bey jeder, auch der allerkünstlichsten Zusammensetzung