Aristoteles

Aristoteles: Metaphysik, Nikomachische Ethik, Das Organon, Die Physik & Die Dichtkunst


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      Manche nämlich sehen das Gefühl der Lust als das Gute selber an, andere betrachten es in geradem Gegensatze dazu als ganz und gar verwerflich; jene in der Überzeugung, daß ihre Auffassung der Sache entspreche, diese in der Meinung, daß es für die Lebensführung der Menschen zuträglicher sei, wenn man das Lustgefühl unter die verwerflichen Dinge einreihe, auch dann wenn es eigentlich nicht dazu gehöre. Denn die Masse laufe der Freude nach und sei sklavisch den Lüsten ergeben: deshalb müsse man die Triebe in die entgegengesetzte Richtung ablenken. So würden die Leute am ehesten dazu gelangen, die mittlere Straße einzuschlagen.

      Indessen, diese Ansicht trifft schwerlich das Richtige. Wo es sich um starke Empfindungen und um die Betätigung im Leben handelt, da erringt sich weit weniger Glauben das was die Leute lehren, als das was sie tätig üben, und wenn zwischen der Lehre und dem was man tatsächlich wahrnimmt, ein Zwiespalt hervortritt, so erregt das bei den Leuten Geringschätzung, und sie ziehen dann auch das was etwa an der Lehre wahr ist, in die gleiche Verwerfung mit hinein. Eifert jemand gegen die Lust und sieht man ihn den noch begehren was Lust bereitet, so meinen die Leute, seine Neigung sei in jedem Falle der Lust zugewandt, als wäre jede Lust von gleicher Art; denn streng zu unterscheiden liegt nicht in der Art der großen Masse. Man wird daher annehmen dürfen, daß diejenigen Lehren, die der Wahrheit entsprechen, nicht nur im Sinne der Theorie, sondern auch für die Praxis des Lebens die wertvolleren sind. Man schenkt ihnen Glauben, weil ihnen die Taten entsprechen, und sie bilden deshalb für die Hörer den Antrieb, sich nach ihnen zu richten. Indes genug davon. Treten wir nunmehr an das heran, was über die Lust von altersher gesagt worden ist.

      Eudoxus erklärte die Lust geradezu für das Gute, und begründete es damit, daß man alle Wesen, die vernünftigen, wie die vernunftlosen, ihr nachjagen sehe. Überall sei das Wertvolle das, was Gegenstand des Begehrens sei, und was mit dem größten Eifer begehrt werde, das sei auch das am höchsten Stehende. Die Tatsache, daß alle Wesen auf dasselbe Ziel gerichtet seien, deute also darauf hin, daß eben dies für alle das Beste sei; denn jedes Wesen wisse wie bei der Nahrung ganz wohl herauszufinden was ihm dienlich sei; was aber für alle dienlich sei und was alle Wesen begehren, das sei eben das Gute.

      Wenn nun diese seine Ausführungen Glauben fanden, so geschah es doch mehr wegen der Trefflichkeit seines Charakters als wegen ihres inneren Wertes. Denn er galt für einen Mann von ungewöhnlich ehrenfestem Charakter, und darum meinte man, was er sage, das sage er nicht als Liebhaber der Lust, sondern es verhalte sich wirklich so. Er nun meinte, sein Satz werde ebenso bekräftigt durch das was der Lust als ihr Gegenteil gegenüberstehe. Der Schmerz gelte schon an und für sich jedem für etwas was zu meiden sei, und darum sei sein Gegenteil in gleichem Maße das wonach man strebe. Am meisten begehrenswert aber sei dasjenige, was die Menschen nicht wegen eines anderen oder als Mittel für ein anderes, sondern um seiner selbst willen begehren; diesen Charakter aber trage nach allgemeinem Zugeständnis die Lust. Denn niemand frage, wozu die Lustgut sei, offenbar weil die Lust an und für sich begehrenswert sei. Komme sie zu irgendeinem Guten noch als Zusatz, so werde dessen Würdigkeit als Gegenstand des Strebens durch sie noch erhöht; das gelte z.B. für Gerechtigkeit im Handeln und für Selbstbeherrschung. Was aber am Guten eine Steigerung bewirke, das sei selbst ein Gutes.

      Dieser Ausführung darf man nun wohl so viel zugestehen, daß sie die Lust wirklich als eines in der Zahl der Güter, aber nicht, daß sie dieselbe als ein größeres im Vergleich mit anderen erweist. Denn das gilt von jeglichem, daß es durch seine Verbindung mit einem anderen Gute begehrenswerter wird als es außer solcher Verbindung ist. Durch eine derartige Betrachtung beweist denn auch Plato, daß die Lust nicht das Gute selber ist. Denn ein lustvolles Leben werde in Verbindung mit der Einsicht begehrenswerter als ohne sie; wenn aber solche Mischung ein Besseres sei, so sei die Lust nicht das Gute selber: denn das Gute werde durch keinen Zusatz noch begehrenswerter. Dann würde aber offenbar auch nichts anderes, was durch die Verbindung mit einem an sich Guten noch begehrenswerter würde, das Gute selber sein. Was ist es nun, was als das Gute selbst durch keinen Zusatz vermehrt wird und woran wir auch Anteil haben? Danach gerade halten wir ja Umschau.

      Wenn andererseits manche den Einwand erheben, das was alle begehren sei gar kein Gutes, so will das schlechterdings nichts besagen. Denn was alle für ein Gut halten, das behaupten wir ist wirklich ein Gut. Wer diesen Glauben aufhebt, wird schwerlich etwas aufzuzeigen imstande sein, was mehr Glauben verdiente. Wenn bloß die vernunftlosen Geschöpfe danach strebten, so hätte jener Satz vielleicht einen Sinn; tun es aber auch die vernunftbegabten, was kann er dann bedeuten? Ist doch selbst in den geringwertigen Dingen noch ein natürlich Gutes, das besser ist als ihr sonstiges Wesen, und dieses strebt nach dem ihnen eigentümlich zukommenden Guten. Aber auch jener aus dem Gegenteil hergenommene Beweis darf nicht ohne weiteres als zutreffend gelten. Denn wenn der Schmerz ein Übel ist, wendet man ein, so ist das noch kein Beweis, daß die Lust ein Gut ist. Es stehe ja auch ein Übel im Gegensatze zu einem anderen Übel, und beide zusammen wieder im Gegensatze zu dem was weder ein Gut noch ein Übel ist. Darin nun haben sie gewiß ganz recht; indessen was den Satz anbetrifft, so ist ihr Gedanke sicher nicht richtig. Denn wenn beide, Lust und Schmerz, zu den Übeln gehören, so müßten auch beide gemieden werden; sind sie weder ein Gut noch ein Übel, so wäre keines von beiden oder beide gleichmäßig zu meiden. Nun aber meidet man augenscheinlich den Schmerz als ein Übel und begehrt die Lust als ein Gut, und so stehen sie sich denn auch gegenüber, das eine als ein Gut und das andere als ein Übel.

      Auch daß die Lust nicht zu den dauernden Qualitäten gehören soll, ist kein Beweis dafür, daß sie deshalb auch nicht zu den Gütern gehöre. Die sittlichen Tätigkeiten bedeuten gleichfalls keine Qualitäten und die Glückseligkeit auch nicht. Man sagt aber weiter, das Gute sei ein begrifflich Bestimmtes, die Lust dagegen sei unbestimmt, weil sie ein Mehr oder Minder zuläßt. Wenn man nun dieses Urteil auf die subjektive Lustempfindung der Menschen bezieht, so verhält es sich ganz ebenso mit der Gerechtigkeit und den anderen Tugenden, in bezug auf welche man den Menschen ausdrücklich ein Mehr oder Minder der Beschaffenheit wie des tugendhaften Handelns zuschreibt. Es kann einer mehr oder minder gerecht und tapfer sein und auch mehr oder minder Gerechtigkeit und Selbstbeherrschung bewähren. Wenn man aber die Unbestimmtheit in den Lustgefühlen selbst findet, so gibt man kaum den wahren Grund für jenen Satz an, nämlich daß die einen ungemischt, die anderen gemischt sind. Was hindert denn daß ebenso, wie die Gesundheit, die doch ein begrifflich Bestimmtes ist, das Mehr oder Weniger zuläßt, es sich auch mit der Lustempfindung verhalte? Denn die Menschen haben nicht alle die gleiche Konstitution; ja in einem und demselben Menschen ist sie nicht immer die gleiche, sondern sie erhält sich, auch wenn sie bis zu einem gewissen Punkte nachläßt, und läßt einen Unterschied des Mehr und Minder zu. Etwas derartiges kann doch auch bei der Lustempfindung der Fall sein.

      Weiter versucht man es damit, daß man, indem man das Gute als etwas Vollendetes, dagegen die Bewegungen und die Prozesse des Werdens als etwas Unvollendetes darstellt, die Lustempfindung als eine bloße Bewegung und einen Prozeß kennzeichnet. Auch hier kann man nicht zugeben, daß sie damit das Rechte treffen und daß die Lust wirklich solch eine Bewegung sei. Denn wo Bewegung ist, da kommt ihr als eigentümliches Attribut Schnelligkeit und Langsamkeit zu, und wo dies nicht an sich zutrifft, z.B. bei der Bewegung des Universums, dann doch im Verhältnis zu anderem. Der Lustempfindung kommt aber keines von beiden Attributen zu. Von Schnelligkeit kann man wohl reden, wo jemand in den Zustand der Lust wie in den des Zornes gerät, aber nicht wo jemand Lust empfindet; hier gibt es Schnelligkeit auch nicht im Verhältnis zu anderem, wie da wo jemand geht oder wächst und in allen ähnlichen Prozessen. Man kann schnell und langsam in den Zustand der Lust übergehen, aber man kann nicht im wirklichen Zustande der Lust, das heißt im Genüsse selber schnell sein. Und in welchem Sinne soll es ein Prozeß sein? Man kann doch nicht annehmen, daß Beliebiges aus Beliebigem werde, sondern daß jegliches sich in dasjenige wieder auflöse, woraus es entspringt. Der Schmerz soll dann der Untergang eben dessen sein, dessen Entstehung die Lust ist. Ferner sagt man, Schmerz sei Mangel an dem was die Natur fordert, Lust dagegen sei die Befriedigung solcher Forderung. Diese Vorgänge indessen sind leiblicher Art. Ist nun die Lust die Befriedigung des natürlichen Bedürfnisses, so müßte auch das Substrat, dem solche Befriedigung zuteil wird, also der Leib, dasjenige sein, das die Lust empfindet, und das will doch nicht einleuchten. Also ist die Lust auch nicht die Befriedigung selber; sondern das Verhältnis ist dies, daß man, wenn