Staatsmannes ist der Muße feindlich; auch sie sucht etwas außer der staatsmännischen Tätigkeit selber Liegendes, Machtstellung und Ruhm oder auch Glückseligkeit für ihn selbst und für seine Mitbürger, eine Glückseligkeit, die etwas anderes ist als staatsmännische Tätigkeit, und offenbar auch eine andere als die, von der wir eben hier handeln.
Erwägt man nun, daß unter den Tätigkeiten, in denen hohe Vorzüge wirksam werden, diejenigen, die sich um Staat und Krieg drehen, die an Glanz und Bedeutung hervorragendsten sind, eben diese aber der Muße feindlich sind, einem äußeren Zwecke zustreben und nicht um ihrer selbst willen zu begehren sind; erwägt man ferner, daß wohl mit Recht die Betätigung der denkenden Vernunft, weil sie der reinen Betrachtung zugewandt ist, an innerem Werte den Vorrang beansprucht, daß sie keinen Zweck erstrebt, der außer ihr selbst läge, und daß sie eine ihr eigentümliche Befriedigung mit sich bringt, die selbst wieder die Betätigung zu steigern vermag; daß das Selbstgenüge aber, das Element der Muße und Ungestörtheit in ihr, soweit es einem Menschen zugänglich ist, und alles was sonst noch Attribut eines seligen Lebens bildet, daß das alles augenscheinlich in dieser Art der Betätigung vorhanden ist: so darf eben diese als die vollendete Eudämonie eines Menschen gelten, falls sie nur die normale Dauer eines Menschenlebens hindurch währt. Denn in dem was zur Eudämonie gehört, gibt es nichts was nicht vollendet wäre.
Ein Leben dieser Art nun ist herrlicher als daß es der bloß menschlichen Natur zukäme. Denn nicht sofern einer Mensch ist, wird er solch ein Leben führen, sondern sofern in ihm etwas Göttliches wohnt. So weit aber dieses Leben über das mit der sinnlichen Natur verbundene Leben hervorragt, so weit übertrifft auch diese Form der Betätigung diejenige, die aller sonstigen Vorzüglichkeit gemäß ist. Wenn aber die denkende Vernunft im Vergleich mit dem Menschen etwas Göttliches ist, so ist auch das dieser Vernunftgemäße Leben ein göttliches im Vergleich mit dem menschlichen Leben.
Es soll also nicht, wie die Moralprediger mahnen, wer ein Mensch ist auf Menschliches gerichtet sein, noch wer sterblich ist sich am Sterblichen genügen lassen; sondern man soll, soweit es möglich ist, das Unsterbliche ins Herz fassen und all sein Tun darauf einrichten, daß man lebe entsprechend dem was in uns das Herrlichste ist. Denn wenn dies auch dem äußeren Maßstab nach in uns ein Unscheinbares ist, so ist es doch seiner Macht und seinem Werte nach das bei weitem über alles Hervorragende. Ja, man darf sagen, daß jeglicher eben dieses Göttliche selber ist; ist dies doch an ihm sein eigentliches Wesen und sein besseres Teil. Es wäre also wider die Vernunft, wenn er nicht sein eigenes Leben, sondern das eines fremden Wesens führen wollte. So wird denn, was wir früher ausgeführt haben, auch mit dem jetzt Dargelegten übereinstimmen: was für einen jeden seinem eigentümlichen Wesen nach das Entsprechende ist, das ist für jeden auch das Wertvollste und Erfreulichste. Für den Menschen also ist es dasjenige Leben, das der denkenden Vernunft entspricht, wenn doch diese am meisten der Mensch selber ist. Dieses Leben ist also auch das glückseligste.
3. Die moralische Betätigung
Die zweite Stelle nimmt sodann das Leben im Sinne sonstiger moralischer Beschaffenheiten ein. Die Betätigungsweisen in dieser Richtung sind die eigentümlich menschlichen. Wir benehmen uns gegeneinander gerecht, mutig oder sonst der moralischen Anforderung entsprechend in Geschäften und Angelegenheiten jeder Art, indem wir auch in unseren Affekten die Linie innehalten, die jedesmal das Gebührende bezeichnet; und was sich so ergibt, ist offenbar lauter solches, was der eigentümlich menschlichen Natur entspricht. Darunter ist mancherlei, was mit der leiblichen Natur des Menschen zusammenhängt; vielfach scheint auch die angemessene Haltung des Charakters in engster Verbindung mit den Affekten zu stehen. Zu der rechten Haltung des Charakters steht ferner auch die verständige Einsicht in naher Beziehung und ebenso umgekehrt der Charakter zur Einsicht, wenn doch die in der Einsicht wirksamen Grundsätze den rechten Beschaffenheiten des Charakters, und das was im moralischen Sinne das Rechte ist, dem entspricht, was in der Einsicht lebt. Da sie nun beide wiederum auch mit den Affekten im Zusammenhange stehen, so werden sie doch wohl dem aus Leib und Seele bestehenden zusammengesetzten Wesen zuzuweisen sein, und die Attribute dieses zusammengesetzten Wesens ebenso wie die ihnen entsprechende Lebensführung mit ihrer Art von Eudämonie machen das eigentümlich Menschliche aus, während das was der reinen Vernunft angehört, vom Leiblichen getrennt ist. Soviel mag hier darüber bemerkt sein; genauer ins einzelne zu gehen, würde über die Aufgabe, die uns hier beschäftigt, hinausreichen.
Von der Eudämonie im Sinne der reinen Vernunft darf man wohl sagen, daß sie der Ausstattung mit äußeren Gütern nur in geringerem Grade oder doch in geringerem als die dem moralischen Verhalten entsprechende bedarf. Des Lebens Notdurft mag beide in gleichem Maße beschäftigen, wenn auch derjenige der sein Leben in den Geschäften zubringt, sich in höherem Maße um den Leib und was mit ihm zusammenhängt zu bekümmern hat; das würde aber einen so großen Unterschied nicht machen. Dagegen ist der Unterschied sehr groß, was ihre Betätigungsweisen anbetrifft. Ein hochgesinnter Mann bedarf der äußeren Güter, um seine hohe Gesinnung zu betätigen: ein gerechter Mann bedarf ihrer, um Empfangenes zu vergelten. Denn das bloße Wollen ist unerkennbar, und auch Leute ohne gerechte Gesinnung tun so als wäre es ihre Absicht gerecht zu handeln. Ein mutiger Mann bedarf der Stärke, wenn er eine Tat im Sinne dieser wertvollen Eigenschaft vollbringen soll, und ein besonnener Mann bedarf der Möglichkeit der Unbesonnenheit. Wie sollte man sonst erkennen können ob jemand mit dieser oder mit anderen edlen Eigenschaften ausgestattet ist?
Man streitet darüber, ob die Hauptsache bei der moralischen Beschaffenheit eines Menschen die innere Gesinnung oder die äußeren guten Werke sind. Erforderlich dafür ist beides, und soll die Moralität vollkommen sein, so muß sie offenbar in beiden Formen zur Erscheinung kommen. Für die äußeren Handlungen wird an äußeren Mitteln vieles erfordert, und je bedeutender und herrlicher jene sind, desto mehr. Dagegen bedarf der der reinen Betrachtung Lebende nichts dergleichen für seine Tätigkeit; ja man möchte sagen: die äußeren Güter bilden für die reine Betrachtung eher eine Störung. Indessen, sofern er ein Mensch ist und mit vielen zusammenlebt, entscheidet auch er sich für ein tätiges Leben im Sinne moralischer Handlungsweisen, und so wird denn auch er jene Dinge gebrauchen, um als Mensch unter Menschen zu leben.
Daß demgegenüber die vollkommene Eudämonie eine Betätigung des kontemplativem Vermögens ist, wird auch aus folgendem deutlich werden. Die Götter stellt man sich doch vor als im höchsten Grade selig und vollkommen. Welche Art von Betätigung soll man nun wohl ihnen zuschreiben? Etwa Handlungen der Gerechtigkeit? Es wäre aber doch lächerlich die Götter sich vorzustellen, wie sie Tauschgeschäfte machen, ein Depositum zurückerstatten oder andere ähnliche Geschäfte betreiben. Oder Handlungen der Tapferkeit, so daß sie in Schrecknissen standhielten und Gefahren beständen, weil das edle Handlungen sind? Oder Handlungen der Freigebigkeit? Wem sollen sie denn geben? Und ist es nicht töricht ihnen den Besitz von barem Gelde oder dergleichen zuzuschreiben? Was soll man aber bei ihnen unter Betätigungen idealer Gesinnung verstehen? Wäre es nicht eine grobsinnliche Anschauung, sie deshalb zu preisen, weil sie niedrigen Begierden nicht zugänglich sind? Und wenn wir so alles einzelne durchgehen, immer würde das Ergebnis das sein, daß ein handelndes Leben für die Götter zu niedrig und ihrer nicht würdig wäre. Und doch stellen sich alle vor, daß die Götter leben und also auch daß sie tätig sind, nicht etwa daß sie schlafen wie Endymion. Wenn man aber dem Lebenden das Tätigsein nach außen und noch mehr das äußere Hervorbringen abnimmt, was bleibt dann übrig als die reine Betrachtung? Die Wirksamkeit Gottes, die an Seligkeit alles übertrifft, wird also in der reinen Betrachtung bestehen, und von den menschlichen Wirksamkeiten wird diejenige mit der größten Glückseligkeit verbunden sein, die jener am nächsten verwandt ist.
Man sieht das ferner auch daraus, daß die übrigen lebenden Wesen an der Eudämonie keinen Anteil haben, weil ihnen eine derartige Wirksamkeit vollkommen versagt bleibt. Der Götter Leben ist ganz und gar selig; das Leben des Menschen ist es nur so weit, als ihm ein Ebenbild einer derartigen Wirksamkeit zugänglich ist. Von den übrigen Lebewesen kommt keinem Eudämonie zu, weil es in keiner Weise an der reinen Betrachtung teil hat. So weit sich die reine Betrachtung erstreckt, so weit erstreckt sich auch