Michael Dangl

Grado abseits der Pfade


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gnadenlos persönliche Aufzeichnungen. Als Schauspieler wie als Schriftsteller wie als Mensch sehe ich das Leben als ein buntes Spektakel – und Grado als unendlich vielfältiges, täglich neu sich abspielendes Insel- und Welttheater. Ein Fischer, erzählte mir Adriano, einer meiner Lieblingsdarsteller im Buch, entscheidet im allerletzten Moment, ob die Fahrt geschieht – und wo sie hingeht.

      Machen Sie es auch so! Halten Sie Ihre Nase in den Wind. Werden Sie eine Möwe! Die stets vielfachen Möglichkeiten, in Grado von hier nach dort zu kommen, haben eines gemeinsam: Sie sind immer schön. Eine Spezialität, die ich sonst nur von Grados „Tochter“, der weltbekannten Kurtisane namens Venedig kenne.

      Gute Reise!

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      Dann, da!, geht weit ein großes Auge des

      Himmels auf, und du stehst mit offener Seele

      Die wahre Verzauberung einer Ankunft in Grado erfährt der Reisende, wenn in seinem eigenen Land noch Winter ist. Das mag es, dem Kalender nach, auch hier sein, doch wenn er sich durch Regen, Schnee und Eis der Alpenpässe gekämpft hat, vernimmt er schon nach den ersten Tälern des Friaul eine wundersame Transformation: Die Temperatur steigt – alle fünf Kilometer um 0,5 Grad. Und das Gebirge hört fast unvermittelt auf – diese Alpen kennen kein Vorland, die friulanische Ebene beginnt am Fuß des letzten Bergkamms und fällt sanft zum Meer hin ab. Anders als im übrigen Norditalien ist auch, dass es gleich „wie Italien aussieht“ – die Trockenheit der Winter gibt dem Friaul, trotz der Bora, mit Zypressen, Pinien, Maulbeer- und Olivenbäumen, Steineichen und Palmen ein mediterranes Aussehen (dafür fehlt ihm die Poesie der Morgennebel wie in der Poebene).

      Weder San Daniele zwingt zum Halt noch sein berühmter Schinken. Dem übrigens zur Konservierung nur wenig Salz hinzugefügt werden muss – die Luft trägt es in sich. Das spürt der Reisende, wenn er das erste Mal sein Fenster öffnet, ein wenig schon an der Mautstelle der Abfahrt Palmanova, und gleich danach mit voller Wucht beim Ampelrot an der Kreuzung vor Cervignano – ein Sekundenrausch: oben im endlich blauen Himmel die weitausschwingende Möwe (viel zu groß für die schwalben-, höchstens taubengewöhnten Stadtaugen) als Abgesandte des Meeres, dessen wilder Duft zugleich in den Wagen einströmend, sein Salz-, Algen-, Fischaphrodisiakum, und die davon getränkten Eindrücke, Bilder, Erinnerungen aus 44 Jahren und mehr. „Tränen, fassungsloses Glück“, hat der Reisende einmal in sein Tagebuch notiert.

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      186 v. Chr. hatte die Zahl der zugezogenen Kelten dermaßen überhandgenommen, dass der römische Senat sich veranlasst sah, eine Kolonialstadt zur Festigung der Herrschaftsansprüche zu gründen. Als die Grenzen gezogen und der erste Stein gelegt wurde, erschien ein weißer Adler (aquila) am Himmel und flog in Kreisen über den Ort – man nahm es als gutes Omen. Mit Recht, denn die kleine Siedlung, in die Rom seine edelsten Söhne und Töchter entsandte, wurde zu einer blühenden Stadt, einer der wichtigsten des ganzen Reichs. Als Ausgangspunkt für Eroberungszüge war sie zeitweise Quartier für Julius Cäsar und andere Kaiser – Friuli kommt von Forum Julii.

      Die romanisierten Kelten sprachen einen lateinischen Dialekt, aus dem sich dann das Friulanische entwickelte. Dante hat als Erster daraufhingewiesen, dass im Raum Aquileia eine ganz besondere Mundart zu hören war, dort würde „Ce fastu?“ (statt „Cosa fai?“) gebrüllt, um zu fragen „Was machst du?“. Friulanisch ist auf magische Weise eng mit dem Katalanischen und Mallorquinischen verwandt (und so für Spanier leichter verständlich als für Italiener) und gehört heute mit Slowenisch, Italienisch und Deutsch zu den vier offiziellen Sprachen der autonomen Region Friaul-Julisch-Venetien.

      Von all dem hatte der Reisende, als er die ersten Male hier ankam, keine Idee. Er wollte nur eines: ans Meer. Das sich, nach vielen Stunden der Anfahrt, aufreizend lange entzieht: noch eine Biegung, noch ein langes Zypressenspalier, die kurze Strecke von Palmanova wird zu einem Geduld- und (die Erregung steigernden) Vorspiel. Unbeabsichtigt ahmt der Reisende so die Bewegung nach, aus der Grado großgeworden ist: die der Flucht. Seit dem ersten Einfall nordischer Völker (barbari) blieben immer mehr Menschen in Grado, als die Gefahr vorüber war, bis 452 n. Chr. ein Schwarm Störche, der auf der Stadtmauer Aquileias sein Nest hatte, seine Kleinen sammelte und floh. Wieder nahm man das als Omen – als ein schlechtes diesmal, und wieder zurecht: Der heranstürmende Attila war schon durch starken Wind, der Häuser abdeckte und Felder verwüstete, angekündigt worden. Nun lag der Hunnenkönig vor der Stadt und erwog bereits, die Belagerung aufzugeben – doch der nämliche Schwarm auffliegender Störche erinnerte ihn an die aufgebrauchten Nahrungsvorräte und er machte sich an die Erstürmung. Die Aquileianer stellten Soldatenpuppen auf die Mauern und schifften sich bei Nacht, schwarz gekleidet und auf schwarzen Schiffen, nach Grado ein. Erst kurz vor den Mauern bemerkte Attila den Betrug, eilte zum Hafen, aber die Schiffe waren schon weit. Als sein Pferd das Wasser berührte, bäumte es sich auf und die „Geißel Gottes“ (Flagellum dei), wie Attila genannt wurde, seufzte: „Addio, bel grado!“ – er soll damit namensstiftend für eine Stadt gewesen sein, Grado, während er eine andere, Aquileia, anzündete und zerstörte. Beinahe alle Zurückgebliebenen starben.

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      Der duomo von Aquileia

      Bewohner, die vorhatten, irgendwann von Grado zurückzukehren, versteckten ihre Schätze unter der Erde. Daher ist es manchmal heute noch Sitte, dass sich der Besitzer bei Landverkauf in einer Vertragsklausel das Recht vorbehält, auf etwa zu findende Verstecke und deren Preziosen Anspruch zu haben. Und wirklich werden immer wieder Gefäße, Vasen und andere antike Gegenstände freigelegt.