Michael Dangl

Grado abseits der Pfade


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Reich, das sich vor Jahrtausenden über die ganze obere Adria hingezogen haben soll, vom Damm durchschnitten, der zur Insel führt, von Mal zu Mal vertrauter deren Silhouette, dahinter das Meer. Die Sonne war herausgekommen; umspielt war dieses gleißende und doch so unendlich sanfte Licht, dieser bittersüße Duft von Salz, Tamarisken, Akazien und Meerwermut, mit dem die Grappa gewürzt wird, von Rossinis „Stabat Mater“ – für diesen Moment komponiert.

      Die Lagune als Fluchtort, beim Einfall von Feinden. Hütten aus Holz, Stroh, Schilf und Ruten wurden gebaut. Ist so Grado entstanden? Lange vor Attila … die wahre Geschichte der Sonneninsel liegt im Dunkeln. Ein Sandhügel in der Lagune, mehr war es nicht, 200 Jahre v. Chr. immerhin schon ein Fischerdorf, das ist das Früheste, was man weiß …

      Heute hat man den Damm, der die Lagune in einen Westteil (palù de soto) und einen Ostteil (palù de sora) spaltet, in Minuten überwunden, es sei denn, man nimmt ihn zu Fuß oder per Rad und stimmt sich auf das gemächliche Inseltempo ein. Selbst Gradeser (oltreponti nennt man jene, die außerhalb Grados, „jenseits der Brücke“, leben) erzählen, dass sie hier die Geschwindigkeit drosseln, überwältigt von der Schönheit der Kulisse. Ringsum die Laguneninseln, links Barbana mit der Wallfahrtskirche. Angler zu beiden Seiten. Am Ende die ponte girevole, die für größere Schiffe geöffnet wird, am Fuße der Brücke Werften und die Einfahrt des Kanals zum Alten Hafen.

      Der erste Spaziergang – vorzugsweise am Strand oder am von den Österreichern errichteten Lungomare, der Meerespromenade. Verwundert lässt der Reisende die Pullover fallen. Gegen die Eiswelt seiner Heimat, die er heute Morgen verlassen hat, ist hier am Nachmittag schon Sommer – obwohl in manchen Gesichtern noch Winter steckt. Die Sehnsucht nach Grado ist immer auch die Sehnsucht nach Beschaulichkeit. Ein Gefühl, sich selbst wieder „zurückzusetzen“, wie man das bei Computern selbstverständlich macht, bei sich aber gerne vergisst. Überhaupt streicheln wir uns selbst viel weniger als unsere Smartphones. Grado übernimmt das gerne. Wir können wieder lernen, was ein Meereshorizont ist (an den zu schauen die ersten Stunden schwerfällt, so hausmauer- und bildschirmverdorben sind die Augen), nach oben zu blicken und die Gedanken vom Himmel zu nehmen (wir alle haben immer so viel Himmel über uns, warum nur sind wir so bodenorientiert).

      Das wirklich jedesmal Staunenmachende ist, dass alles wieder da ist: die Luft, das Licht, die Stimmung, die Geräusche und die Stillen, die Häuser und die Horizonte, und alles zugleich dich anspringt, aufnimmt, integriert, als wärst auch du nie weg gewesen, als hättest du nur einen Tag verschlafen nach einem herrlichen Rausch oder einer heftigen Bootstour. Es ist so wichtig, an einen Endpunkt zu reisen, an dem es, mit den uns vertrauten Mitteln, nicht weitergeht. Man „fällt hinunter“ nach Grado – und sie fängt uns auf mit ihrer Wärme, ihrer Milde, vor allem der Österreicher erfährt hier – auch historisch – einen süßen Schauer des Heimkommens. Nach einer längeren Abwesenheit und einer mehr oder weniger beschwerlichen Anreise kannst du diesem Ansturm des Schönen nicht anders standhalten, als dich niederzulassen (auf deine Knie, wenn du deiner Empfindung wirklich entsprechen willst und es dir nichts macht, wenn die Möwen dich auslachen, aber das tun sie immer) und zu warten, bis dein Herz, deine Augen, all deine Sinne und durch sie (oder vor ihnen?) deine Seele dieses schrecklich süße Gift in sich aufzunehmen bereit sind – denn das geht nur tröpfchenweise, so verstopft sind deine Schönheitsrezeptionsporen vom Hässlichkeitsstaub deines Alltags, deiner Arbeit, deines falschen, weil zu nördlichen, deines allzu mitteleuropäischen Lebens. Vieles fällt ab, vieles relativiert sich. Schon in den ersten Minuten.

      Und es ist, am Ende des Golfs von Venedig verweilend, der sich da an Triest und den istrischen Karst verliert, so, wie Grillparzer es am nicht weit entfernten Markusplatz empfunden hat: „Wer hier sein Herz nicht schlagen fühlt, hat keines.“

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       1Mercato ittico (Fischmarkt)

       2Trattoria „Al Pescatore“

       3Osteria „Zero Miglia“

       4Bar „Manzoni“

       5Bar „Bomben“

       6Bar „Al Porto“

      Und jeder Tag, der vergeht, und jede Stunde

      sind voll von Licht und guter Bestimmung.*

      Die unbekannteste unter den sehenswerten Straßen Grados ist wohl die Riva Dandolo. Unbekannt, weil sie „nirgends hinführt“, sehenswert, weil sie die Straße der Fischer ist. Hier laufen sie aus und ein, löschen ihre Fracht und verkaufen sie am mercato ittico (Fischmarkt), putzen ihre Netze und präparieren ihre Boote für die nächste Fahrt. Das „Al Pescatore“ ist das authentischste Fischlokal der Insel, nicht nur wegen seiner Lage. Die Osteria „Zero Miglia“, schon fast am Ende der Uferstraße, kocht köstlich – wenn auch prätentiöser und teurer. An zwei Wochenenden im Juli und August gibt die Cooperativa pescatori in der Riva ihre traditionelle sardelada: Die Seefahrer selbst kredenzen allerlei Frittiertes mit Polenta, Wein und Bier, das Volk schmaust mit den Fischerfamilien an Holztischen. Eine Atmosphäre, die man nicht vergisst.