Reich, das sich vor Jahrtausenden über die ganze obere Adria hingezogen haben soll, vom Damm durchschnitten, der zur Insel führt, von Mal zu Mal vertrauter deren Silhouette, dahinter das Meer. Die Sonne war herausgekommen; umspielt war dieses gleißende und doch so unendlich sanfte Licht, dieser bittersüße Duft von Salz, Tamarisken, Akazien und Meerwermut, mit dem die Grappa gewürzt wird, von Rossinis „Stabat Mater“ – für diesen Moment komponiert.
Die Lagune als Fluchtort, beim Einfall von Feinden. Hütten aus Holz, Stroh, Schilf und Ruten wurden gebaut. Ist so Grado entstanden? Lange vor Attila … die wahre Geschichte der Sonneninsel liegt im Dunkeln. Ein Sandhügel in der Lagune, mehr war es nicht, 200 Jahre v. Chr. immerhin schon ein Fischerdorf, das ist das Früheste, was man weiß …
Vor 100 Jahren war hier, in Belvedere, Schluss mit der Landreise, die Gäste wurden in Booten nach Grado gerudert. Sigmund Freud wählte die Route mit dem Dampfboot von Aquileia über den Fluss Natissa und notierte dafür eine Reisezeit von zweieinhalb Stunden. Die Lagune fand er: „ödest“*.
Heute hat man den Damm, der die Lagune in einen Westteil (palù de soto) und einen Ostteil (palù de sora) spaltet, in Minuten überwunden, es sei denn, man nimmt ihn zu Fuß oder per Rad und stimmt sich auf das gemächliche Inseltempo ein. Selbst Gradeser (oltreponti nennt man jene, die außerhalb Grados, „jenseits der Brücke“, leben) erzählen, dass sie hier die Geschwindigkeit drosseln, überwältigt von der Schönheit der Kulisse. Ringsum die Laguneninseln, links Barbana mit der Wallfahrtskirche. Angler zu beiden Seiten. Am Ende die ponte girevole, die für größere Schiffe geöffnet wird, am Fuße der Brücke Werften und die Einfahrt des Kanals zum Alten Hafen.
Der erste Spaziergang – vorzugsweise am Strand oder am von den Österreichern errichteten Lungomare, der Meerespromenade. Verwundert lässt der Reisende die Pullover fallen. Gegen die Eiswelt seiner Heimat, die er heute Morgen verlassen hat, ist hier am Nachmittag schon Sommer – obwohl in manchen Gesichtern noch Winter steckt. Die Sehnsucht nach Grado ist immer auch die Sehnsucht nach Beschaulichkeit. Ein Gefühl, sich selbst wieder „zurückzusetzen“, wie man das bei Computern selbstverständlich macht, bei sich aber gerne vergisst. Überhaupt streicheln wir uns selbst viel weniger als unsere Smartphones. Grado übernimmt das gerne. Wir können wieder lernen, was ein Meereshorizont ist (an den zu schauen die ersten Stunden schwerfällt, so hausmauer- und bildschirmverdorben sind die Augen), nach oben zu blicken und die Gedanken vom Himmel zu nehmen (wir alle haben immer so viel Himmel über uns, warum nur sind wir so bodenorientiert).
Das wirklich jedesmal Staunenmachende ist, dass alles wieder da ist: die Luft, das Licht, die Stimmung, die Geräusche und die Stillen, die Häuser und die Horizonte, und alles zugleich dich anspringt, aufnimmt, integriert, als wärst auch du nie weg gewesen, als hättest du nur einen Tag verschlafen nach einem herrlichen Rausch oder einer heftigen Bootstour. Es ist so wichtig, an einen Endpunkt zu reisen, an dem es, mit den uns vertrauten Mitteln, nicht weitergeht. Man „fällt hinunter“ nach Grado – und sie fängt uns auf mit ihrer Wärme, ihrer Milde, vor allem der Österreicher erfährt hier – auch historisch – einen süßen Schauer des Heimkommens. Nach einer längeren Abwesenheit und einer mehr oder weniger beschwerlichen Anreise kannst du diesem Ansturm des Schönen nicht anders standhalten, als dich niederzulassen (auf deine Knie, wenn du deiner Empfindung wirklich entsprechen willst und es dir nichts macht, wenn die Möwen dich auslachen, aber das tun sie immer) und zu warten, bis dein Herz, deine Augen, all deine Sinne und durch sie (oder vor ihnen?) deine Seele dieses schrecklich süße Gift in sich aufzunehmen bereit sind – denn das geht nur tröpfchenweise, so verstopft sind deine Schönheitsrezeptionsporen vom Hässlichkeitsstaub deines Alltags, deiner Arbeit, deines falschen, weil zu nördlichen, deines allzu mitteleuropäischen Lebens. Vieles fällt ab, vieles relativiert sich. Schon in den ersten Minuten.
Und es ist, am Ende des Golfs von Venedig verweilend, der sich da an Triest und den istrischen Karst verliert, so, wie Grillparzer es am nicht weit entfernten Markusplatz empfunden hat: „Wer hier sein Herz nicht schlagen fühlt, hat keines.“
* „Poi, ecco, si spalanca una grande occhio celeste, e tu rimani con l’anima aperta, e sorridi come in sogno all’incantesimo.“ (Biagio Marin, „L’isola d’oro“)
* „Und wirklich, was war, ist ganz da – und dein Herz springt auf.“
** Die römische Bernsteinstraße verlief ebenfalls hier, von Carnuntum an der Donau bis Aquileia, wo das aus dem Baltikum kommende Bernstein verarbeitet und weiter auf die Märkte Roms und anderer Städte des Reichs gebracht wurde. Aquileia verband so das Meer des Nordens mit dem des Südens. Die Bernsteinstraße war eine Art antike Autostrada del sole, auf der auch Gold, Silber, Felle, Tiere und Sklaven transportiert wurden.
* Assoziationen zu „Grat“ (Berggrat, Einsamkeit, dünne Luft, klare Gedanken); „Grad“ (der Fieberkurve des Thermometers im Sinn von extremen Temperaturen nach unten und oben); sono in grado heißt „ich bin in der Lage“; sono a Grado: „ich bin in Grado“; a Grado sono in grado: „in Grado bin ich in der Lage“; andare per gradi: „schrittweise vorgehen“; al massimo grado: „im höchsten Grade“; der Wein misst sich im grado alcolico; und ein schöner poetischer Ausdruck für „gerne“ ist di buon grado.
* „Làdove la terra s’affonda con infinita dolcezza.“ (Biagio Marin)
* Damit ist aber keineswegs „öde“ im heutigen Sinn, also „langweilig“, zu verstehen. Thomas Mann schreibt im „Tod in Venedig“ von der „ungeheuren Scheibe des öden Meeres“. „Öde“ wurde also vor rund hundert Jahren im Sinne von „leer“ verwendet.
1Mercato ittico (Fischmarkt)
2Trattoria „Al Pescatore“
3Osteria „Zero Miglia“
4Bar „Manzoni“
5Bar „Bomben“
6Bar „Al Porto“
Und jeder Tag, der vergeht, und jede Stunde
sind voll von Licht und guter Bestimmung.*
Die unbekannteste unter den sehenswerten Straßen Grados ist wohl die Riva Dandolo. Unbekannt, weil sie „nirgends hinführt“, sehenswert, weil sie die Straße der Fischer ist. Hier laufen sie aus und ein, löschen ihre Fracht und verkaufen sie am mercato ittico (Fischmarkt), putzen ihre Netze und präparieren ihre Boote für die nächste Fahrt. Das „Al Pescatore“ ist das authentischste Fischlokal der Insel, nicht nur wegen seiner Lage. Die Osteria „Zero Miglia“, schon fast am Ende der Uferstraße, kocht köstlich – wenn auch prätentiöser und teurer. An zwei Wochenenden im Juli und August gibt die Cooperativa pescatori in der Riva ihre traditionelle sardelada: Die Seefahrer selbst kredenzen allerlei Frittiertes mit Polenta, Wein und Bier, das Volk schmaust mit den Fischerfamilien an Holztischen. Eine Atmosphäre, die man nicht vergisst.
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