Armand Amapolas

Emma erbt


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Ha, als wenn eine von denen heute noch unkündbar ist! Die sitzen doch alle auf Schleudersitzen, arbeitsrechtlich gesehen, die armen Schweine. Davon verstand sie, Emma C. Schneider, jetzt etwas. Sie musste unwillkürlich seufzen, so dass der Jungrentner in der Sitzreihe gegenüber – auch so ein gelassen Weltläufiger – überrascht zu ihr hinübersah, die Augenbrauen hochziehend. Sie lächelte. Ein Fehler, auch das. Er lächelte zurück. »Zeit für die Insel, was?« schien er ein Gespräch eröffnen zu wollen. Emma nickte kühl und fixierte den Blick auf die Zeitung, die sie nicht las.

      Vielleicht einfach: Die-am-Schalter-Sitzenden. Oder: die Zurückbleibenden. Nein, das wars: FlugschäferInnen. Denn das beschrieb doch ihre Aufgabe, jedenfalls hier, in dieser Werkhalle, die Flughafen spielte: Menschenherden beisammen halten, ihnen Richtung geben, Ausbrechende wieder einfangen, Stürmische bremsen.

      Schon allein, weil sie sich nicht gern als Schaf sah, blieb Emma sitzen, bis außer ihr nur noch der flirtgeile Jungrentner und drei, vier andere übriggeblieben waren. Dass sie von Jersey Air dafür bestraft wurde, wusste sie, sobald sie die Maschine betrat. Alle vorderen Reihen waren wohlgefüllt, außer zweien, die mit einem gelben Plastikband abgesperrt blieben wie eine Unfallstelle. Eine Flugschäferin bewachte Band und Sitze. Alle paar Minuten musste sie einem wie Emma sitzplatzsuchend Vorwärtsdrängenden erklären, diese Sitze seien reserviert, sorry. Sie sprach Englisch, mit einem harten slawischen Akzent.

      Also blieb Emma nichts anderes übrig, als sich bis ins hintere Ende der Maschine durchzuquälen und sich dort blitzschnell für zwei Sitzpartner zu entscheiden, einen links, einen rechts. Sie wählte die Poloniaks und versuchte, ihre Umhängetasche im Gepäckfach zu verstauen. Unmöglich! Das steckte bereits voller Pilotenköfferchen, Sacktaschen, Tüten und Jacken. Ihre Tasche passte nirgendwo mehr dazwischen. Sie musste sie wohl oder übel vor ihren Füßen unter den Vordersitz klemmen. Auch das noch.

      Natürlich wusste sie da noch nicht, dass die Frau mit den amüsierten Augen im rosigen Gesicht, die Emmas Gepäckverstaubemühungen mit heiterem Lächeln und guten Tipps begleitet hatte, und der stille Herr am Fenster ein Ehepaar darstellten und Poloniak hießen und eine Woche später »auf den Hund kommen« würden.

      »Da! Da ist er!« Emma spürte einen Ellenbogen an ihren Rippen. Ihr Sitznachbar, der sonst so ruhige, hatte sich ruckartig zur Seite gedreht und zappelte vor Glück. Er drückte sein Gesicht jetzt ganz eng an das kleine Oval des Flugzeugfensters. Gleichzeitig kniff er mit der linken Hand erst in Emmas Arm, dann griff er über sie hinweg und tastete nach Sitz C. Dort saß seine Frau. Johanna.

      Johanna Poloniak, wie Emma seit vier Stunden wusste. Und der Mann rechts von ihr hieß Heinz. Heinz Poloniak. Aus Oberhausen. Er war Pensionär, früher Beamter bei der Stadtverwaltung, im Katasteramt. Sie: Hausfrau und Mutter. Zwei Kinder, Uwe und Claudia. Beide ganz toll geraten; Lehrer und Kauffrau. Super erfolgreich im Beruf – aber leider beide selber kinderlos, immer noch. Emma wusste inzwischen fast alles über Claudia und Uwe. Und über das Leben der Poloniaks. Und ihrer Nachbarn. Sie wusste, dass Poloniaks Skat spielen, dass sie auf ihrem Balkon seltene Wildpflanzen pflegen, dass sie mal einen Dackel hatten, der auf Harry hörte – wie der Assistent von »Derrick«, aus einer Krimiserie, die im vorigen Jahrhundert wohl mal populär gewesen sein muss. Vier Stunden auf Sitz B zwischen A und C im Billigflieger, ohne Fütterung und Film, das kann langweilig werden. Aber nicht mit den Poloniaks.

      Emma war selbst schuld. Erstens war sie nun mal von Natur aus freundlich – und zweitens aus Professionalität. Also hatte sie nicht stur zur Seite gestarrt, als Frau Poloniak ihr die Hand reichte, kaum dass Emma sich auf den Plastiksitz gedrückt und die Enden Sicherheitsgurtes ausgegraben hatte. Die Frau auf dem Gangplatz lächelte sie strahlend an und eröffnete die Konversation: »Also, wenn wir jetzt hier vier Stunden aneinandergeschmiegt sitzen, können wir uns auch gleich bekannt machen!« Emma lächelte zurück, und das hatte sie nun davon.

      Das hier war ihr erster Flug mit Jersey Air. Von Düsseldorf-Weeze. Ha! Von wegen Düsseldorf! Im zu Recht so genannten Morgengrauen hatte sie Paul Bärkamp von Bochum nach Weeze gefahren, über die A 42, die so früh am Morgen Gott sei dank noch völlig staufrei war, und dann quer durch die Pampa. Niederrhein. Nebelland. Nur auszuhalten, wenn man Hanns-Dieter Hüsch mochte. Ihre Eltern waren Hüsch-Fans. Und Paul Bärkamp auch. Heute früh war Emma aber noch weniger als sonst nach Hüsch zumute, dem Verständnisvollen, der immer alles nett gefunden hat, schrecklich nett. Emma war an diesem grauen Morgen überhaupt nicht nach Menscheln zumute. Sie dachte abwechselnd an »ihre« Zeitung, die eigentlich natürlich nie ihre gewesen war und jetzt schon gar nicht mehr, und an Oma Ilse, die gute. Die jetzt tot war. Wie die Zeitung, dachte Emma. Nur dass ihre Oma sich selbst umgebracht hatte, mit Schlaftabletten und Alkohol.

      Aus heiterem Himmel, wie man so schön und meist gedankenlos sagt, war die Nachricht von Teneriffa gekommen: Ilse Schneider habe Selbstmord begangen; aus heiterem kanarischen Himmel. Oma hatte nie über irgendeine Krankheit geklagt. Krankheiten schien es für sie nicht zu geben, und Klagen war für sie sowieso keine Haltung. Ärzten ging sie aus dem Weg. So war sie über 80 Jahre alt geworden. Selbstmord, fand Emma, war ein geistlos unpassendes Wort. Jedenfalls keines, das sie mit Oma Ilse in Verbindung bringen konnte. Freitod vielleicht: dass Oma Ilse keine Lust mehr hatte, einsam war, an Krankheiten litt, ohne darüber zu reden, und beschloss, statt ergeben auf Schlimmeres zu warten, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen: das konnte Emma sich vorstellen, wenn auch nur mit Mühe.

      Emma überkam ein schlechtes Gewissen. Wann hatte sie zuletzt mit Oma Ilse telefoniert, wann zuletzt an sie gedacht? Sie hatte sie behandelt wie eine CD, die man früher oft gehört und geliebt hat, die nun aber schon seit Jahren ungehört im Regal stand. Aber hatten das ihre Großeltern letztlich nicht selber so gewollt? Als sie vor über zwanzig Jahren ihre Herner Wohnung aufgegeben haben und ganz nach Teneriffa zogen? Im Grunde, dachte Emma bitter, hatte Oma Ilses »Freitod« damals schon begonnen.

      Die Zeitung hingegen, die Halterner Post, war, so empfand Emma es, gemeuchelt worden, von Jungverlegern, bei denen ihr nicht klar war, ob sie außer dreist und skrupellos vor allem bösartig waren oder nur unfähig.

      Oma Ilse ist auf ihrem geliebten Balkon gestorben. Also Tod mit Meerblick. Und, wer weiß, womöglich vor einem malerischen Sonnenuntergang. Von Oma Ilses Apartment im elften Stock konnte man nämlich bei klarem Wetter die Nachbarinsel La Palma sehen, jedenfalls wenn man den Hals ein wenig verbog. Und genau hinter La Palma ging die Sonne unter, vom 13-stöckigen Apartmenthaus gleichen Namens aus gesehen, das Ilse und Heinrich Schneider zu ihrem Altersruhesitz gemacht hatten. Wenn das Wort »Ruhe« zu Oma Ilse gepasst hätte.

      Man hatte Ilse am Morgen im Büro der Asociación de Propietarios vermisst. Der engere Vorstand und die Sekretärin der Eigentümergemeinschaft des Apartmenthauses hatten sich eingefunden, weil Ilse mit ihnen noch ein letztes Mal die Buchhaltung durchgehen sollte. Ilse hatte großen Wert auf dieses Treffen gelegt – und dann erschien sie nicht! Wo sie doch lange die Vorsitzende der Asociación gewesen war und normalerweise überpünktlich, gern überall die erste, und vermutlich schon Kaffee gekocht gehabt hätte. Und Brötchen geschmiert, für alle. Stattdessen: Kein Kaffee, keine Brötchen, keine Ilse. Auf Anrufe reagierte sie nicht. Ihr Anrufbeantworter sprang an: »Hier ist Ilse. Ich habe zu tun. Also fassen Sie sich kurz!« Das war ihr Humor. Sehr trocken – oder westfälisch, wie Ilse Schneider selbst zu sagen pflegte.

      Man fand sie in ihrem Klappstuhl sitzend, ganz entspannt, nur der Kopf hing unnatürlich zur Seite. Auf dem Beistelltischchen neben ihr stand noch ein Cognacschwenker und die leere Flasche 103 neben der leeren Schachtel Schlaftabletten. 103, Ciento Tres, das war ihr Lieblings-Brandy. »Preiswert, aber gut.« Davon nahm sie, wie jeder wusste, abends immer noch einen letzten Schluck oder zwei. Wobei abends manchmal auch heißen konnte: morgens sehr früh. Ilse Schneider ging nicht gern zu Bett. Schließlich war immer noch irgendwas zu tun. Oder mindestens zu bekakeln.

      Dass ihre Oma tot war, erfuhr Emma ausgerechnet an ihrem letzten Arbeitstag. Ihr kam es vor, als schlüge ihr jemand mit der Faust in den Magen. Dabei war ihr ohnedies seit Tagen flau zumute gewesen. Zum Essen musste sie sich fast zwingen. Sie konnte nicht fassen, dass ihr junges Berufsleben schon wieder beendet sein sollte, von einem Tag auf den nächsten. Dieses Leben, das sie so geliebt hatte. Diese Rumpflaumerei in der Redaktion, diese tägliche Neuerfindung der Welt. Jedenfalls ihrer kleinen Welt