dunklen Wunde am Berg, wo der Pfad hätte sein sollen.
Ǫni kam angelaufen. »Der Pfad ist weggebrochen. Sie werden einen anderen Weg finden. Warte hier, Hirka«, sagte sie und winkte Hungl mit sich.
Tyla drängte sich an Hirka vorbei und folgte ihnen, um nachzusehen, was passiert war.
Hirka lehnte sich an die Felswand, dankbar für die Pause. Dafür, einen Augenblick allein sein zu können. Aber ganz allein war sie nicht.
Sie drehte den Kopf. Kolail stand direkt neben ihr, die Klauen im Schnee vergraben. Er trank durch sie. Hirka hatte die anderen das auch tun sehen. Ob sie mit dem Mund oder den Klauen tranken, schien völlig egal zu sein. Verdammt ärgerlich. Sie hatte einen gefrorenen Wasserbeutel, der wie eine Rassel klang, und er brauchte nur die Klauen in den Schnee zu stecken und konnte sich satt trinken …
Hirka nahm den Beutel ab und stellte ihn neben sich. Sie ballte Schnee in der Hand zusammen und steckte sich einen Brocken in den Mund. Er schmolz langsam. Ein Tropfen. Zwei. Die Zunge wurde kalt und taub. Sie spuckte den Schnee wieder aus. Merkte, dass Kolail sie beobachtete. Was war das für ein Zug um seinen Mund? Verwunderung? Oder versuchte er zu verbergen, dass er sich amüsierte?
Sein Schaffell war ebenso grau wie sein Haar. Es sah aus, als hätte sich schmutziger Schnee um seine breiten Schultern gelegt. Er hatte dichte Bartstoppeln und einen kräftigen Unterkiefer. Fast wie Vater, wie sie verwundert feststellte. Ein blinder und etwas hässlicherer Thorrald.
Der Gedanke an Vater versetzte ihr einen Stich von Wehmut. Es war lange her, dass ihr die Erinnerung an ihn so nahe gewesen war. Sie konnte nicht daran denken. Musste sich auf etwas anderes konzentrieren. Auf ihren Überlebenswillen. Auf Wasser. Sie brauchte Wasser.
Sie ging zu Kolail und nahm seine Hand. Er entzog sie ihr. Starrte sie an, als hätte sie versucht, sie ihm abzuschlagen. Hirka deutete auf ihren Mund. »Wasser …«
Er runzelte die Stirn, wodurch der Tropfen sich näher an seine Nasenwurzel bewegte. Sie griff wieder nach seiner Hand und jetzt ließ er sie gewähren. Sie hob seine Hand an ihre Lippen.
»Warte …«
Das war das erste Wort, das sie ihn sagen hörte. Ymsländisch.
Es stimmt. Er hat den Krieg mitgemacht.
Er steckte die Klauen wieder in den Schnee. Zog sie heraus und ließ sie von Hirka ergreifen. Sie legte seine Finger in ihren Mund und spürte, wie Wasser ihren Hals hinunterfloss. Wärmer als alles, was sie seit über einem Tag getrunken hatte. Es tat unglaublich gut.
Sie umfasste sein Handgelenk und sog an seinen Fingern. Seine Klauen zitterten auf ihrer Zunge. Dann riss er die Hand zurück.
Hirka wurde von dem Gefühl gepackt, etwas Furchtbares getan zu haben. Etwas, das sie nicht hätte tun sollen. Ein Wassertropfen rann von ihren Lippen. Sie wischte ihn mit dem Handrücken ab, bevor er zu Eis werden konnte.
Kolail sah starr an ihr vorbei. Hirka drehte sich um.
Vor ihr auf dem Pfad stand Skerri. Ihre schwarzen Lippen wurden schmal. Sie schnauzte Kolail an, unverständliche Worte. Kolail ging an Hirka vorbei. Verließ sie. Ließ sie allein mit Skerri zurück. Es fühlte sich an wie ein Verrat.
Skerri kam wütend auf sie zu, holte aus und versetzte ihr eine Ohrfeige. Hirka hatte den Arm gehoben, aber zu spät, um sich zu schützen. Der Schlag brannte auf ihrer Wange.
»Du rührst die Gefallenen nicht an! Du demütigst dein Haus nicht!«
Hirka wich zurück. Spürte warmes Blut hinunter zum Kinn laufen. Panik erfasste sie. Die Klauen … Wie viel Schaden hatten sie angerichtet? Sie berührte ihre Wange und blickte auf ihre Hand. Zwei rote Streifen färbten den provisorischen Wollhandschuh. Kleine Kratzer, nicht schlimm. Die Kapuze war im Weg gewesen.
Skerri starrte sie an. Ihre Wut schien verraucht zu sein, sie wirkte jetzt eher verwirrt. Hirka begriff, dass Skerri darauf wartete, dass sich die Wunden schlossen. Es gab ihr einen bitteren Geschmack von Befriedigung.
»Es stimmt. Ich verheile nicht so wie ihr.«
Skerri schloss die Augen und seufzte resigniert. »Nicht mal das hast du geschafft zu erben … Es ist nicht geplant, dass du überlebst, oder?«
Sie zog die Kapuze enger um Hirkas Gesicht. »Lass es sie nicht sehen. Sie halten sowieso schon nicht viel von dir.« Dann ging sie.
Hirka schluckte ihren Ärger hinunter und folgte ihr.
Hirka konnte nicht schlafen. Sie hatten ihr Lager an einem Eisberg aufgeschlagen, der aus dem Schnee ragte und sich über die Zelte krümmte wie ein enormer Reißzahn. Drohend. Drückend. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, hörte sie ihn knacken. Als könnte er jeden Moment brechen und sie unter sich begraben.
Skerri hatte den Platz ausgesucht. Zweifellos aus Rache, weil Hirka sich über den vorigen Lagerplatz beschwert hatte.
Hungl schnarchte im Zelt nebenan. Er klang wie ein knurrender Hund. Das Eis knirschte.
Hirka wälzte sich wieder auf die andere Seite. Das Strickhemd wickelte sich um ihren Körper. Sie meinte, gebratenen Fisch zu riechen. Offenbar eine Einbildung. Also hatte ihr Gehirn wohl unter der Kälte gelitten … Seit sie hierhergekommen war, hatte sie noch nichts Anständiges zu essen gesehen. Die Blinden steckten ihre Klauen in grüne Kekse, die grauenhaft schmeckten. Ǫni hatte gesagt, dass sie aus Tang gemacht wurden und aus einem Pilz, der in Höhlen gezüchtet wurde. Sie enthielten fast alles, was ein Umpiri brauchte.
Hirka hatte gefragt, ob sie nie auf normale Art aßen. Auf Hirkas Art. Sie taten es an einigen wenigen Feiertagen im Jahr und waren am nächsten Tag sterbenskrank. Es war, als hätten sie früher mal richtig gegessen, aber einfach damit aufgehört. Dafür tranken sie jede Menge seltsames Zeug. Wahrscheinlich, weil es akzeptabel war zu sitzen, wenn man trank.
Aber sie hätte schwören können, dass sie Fisch roch. Fetten, frischen Fisch …
Sie kroch zum Zelteingang, schob das Fell beiseite und spähte hinaus.
Ein Stück entfernt sah sie rote Glut in der Dunkelheit. Die Reste des Lagerfeuers.
Sie zog ihre Stiefel an. Die waren kalt, aber trocken. Dann wickelte sie sich in die Wolldecke und ging nach draußen, von der Wärme und dem Geruch angelockt wie ein Tier. Es war so dunkel, dass sie fast nichts anderes sehen konnte als den Schnee zu ihren Füßen. Die Nächte hier waren pechschwarz, schwärzer als in Ymsland.
Am Feuer saß jemand und stocherte mit einem Stock in den Glutresten. Er war groß und trug ein zottiges Fell um die Schultern.
Kolail.
Hirka zögerte. Ihre Wange brannte immer noch von Skerris Klauen. Aber sie konnte keine Scham darüber empfinden, dass sie jemanden berührt hatte, ganz gleich, was man von ihr erwartete. Sie war nicht länger Fäulnis. Sie konnte berühren, wen sie wollte. Sitzen, bei wem sie wollte. Essen, mit wem sie wollte.
Sie ging näher heran, überzeugt, dass er sie längst gehört hatte. Ihr Magen kribbelte nervös und das lag nicht nur am Hunger. Hirka wollte etwas sagen, wusste aber nicht, was. Sie waren einander überhaupt nicht vorgestellt worden.
»Kolail?«
Er stieß ein Wiehern aus, eine Art abgehacktes Lachen. »Nicht hier.«
Es dauerte einen Moment, bis ihr aufging, was er meinte. Dass er hier nicht so genannt wurde.
Sie ging zu ihm hin. »Aber das ist dein Name?«
Er nickte. Auf dem Stein neben ihm war Platz.
»Darf ich mich setzen?«, fragte sie.
Er sah aus wie ein Toter, der Stahlmann. Graues Haar, graue Bartstoppeln, die Wangen ein wenig hohl. Und dann die Totgeborenen-Augen, die immer verdreht aussahen …