Blutsbrüderschaft die Aufnahme ins Reich der Asen antrug. Der einfältige Narr hatte ein Auge geopfert, um Weisheit zu erlangen, und besaß einen Thron, mit dem er alle Welten überschauen konnte – aber das Naheliegende übersah er immer noch.
Lange Zeit hatte Loki über seinen gelungenen Streich gelacht, er war als Trickster stets der unerreichte Meister darin gewesen. Er hatte seinem Blutsbruder nie die Wahrheit gesagt, erst recht nicht über seine echte Unsterblichkeit. Genauso wie die Olympier und viele andere waren die Götter des Nordens nicht von Anbeginn unsterblich gewesen, sie alle hatten bestimmter Essenzen oder Quellen bedurft. Loki hatte ihnen dazu verholfen, und niemand ahnte, dass es immer ein Teil von ihm selbst gewesen war, den er ihnen gab.
Doch nun … stand er vor dem Ende. Nicht einmal er währte ewig, und er wusste es. Was ihm dereinst gegeben wurde, konnte ihm auch wieder genommen werden.
Aber nur einer war dazu in der Lage.
»All dies hätte verhindert werden können … aber was rede ich da! Dazu kommt es doch nie«, schloss der Getreue. »Solange ich existiere, kann die Ordnung nur durch das Chaos erhalten werden, doch das Chaos ist unberechenbar und zerstörerisch. Einmal entzündet, kann ein Weltenbrand nicht mehr aufgehalten werden. Ich kann immer nur versuchen, die Dinge im Gleichgewicht zu halten und einigermaßen gerade zu rücken. Ich will nicht behaupten, dass ich all das verstehe, doch das ist auch nicht meine Aufgabe.«
Und ihm blieb keine Wahl mehr. Loki hatte sich von ihm abgewandt und was sie beide jemals verbunden hatte, war nun zerrissen.
Nur mehr wenige Augenblicke. Er musste jetzt handeln. So weit war er während seiner gesamten Existenz noch nie gegangen, und es erfüllte selbst ihn mit abgrundtiefem Entsetzen.
Aber er hatte die Macht, und er würde sie einsetzen.
Der Getreue packte den Saum seines Umhangs und hob die Arme. Als hätte er nun Flügel, erhob sich seine finstere Gestalt inmitten des flammenden Infernos, flatterte gegen den anbrandenden Feuerwind.
Dann sprach er das Wort.
Nicht mehr als ein Fetzen schwarzes Tuch blieb übrig. Unbemerkt von der Welt wurde es mit einem letzten Flammenstoß aus dem Berg getrieben, hoch oben durch einen schmalen Riss, vom Wind aufgenommen und davongeweht.
1.
Vampire in München
»Auf mit dir, Schlafhörnchen!« Robert stieß die Tür zum Schlafzimmer mit dem nackten Fuß auf und balancierte das Tablett Richtung Bett. Ein stilechtes English Breakfast, inklusive der Rose in der kleinen Vase. Es war keine echte Rose, sondern eine aus Stoff, das fand Robert kitschiger – wenn schon, denn schon.
Annes schwarze Locken wurden als Erstes sichtbar, als sie sich langsam aus Kissen und Bettdecke kämpfte. Dann ihr verschlafenes, leicht verknittertes Gesicht mit den lasziv halb herabhängenden Lidern über glutvollen Augen und den sinnlich gewölbten Lippen. Zuletzt ein schwarzes Spitzen-Etwas, das ihren Oberkörper eher betonte denn verhüllte.
Unglaublich, welche Wirkung das immer noch auf ihn hatte, als wäre es das erste Mal. Robert räusperte sich trocken, stellte das Tablett auf dem Nachttisch ab und suchte nach dem Betttisch, den er vor wenigen Tagen in einer Resterampe für einen Euro mitgenommen hatte. In weiser Voraussicht.
»Frühstück im Bett … ich glaub’s nicht.« Anne verzog missmutig das Gesicht. »Geht es noch spießiger?«
»Oh ja!«, antwortete er mit strahlendem Lächeln. »Leider sind der karierte Bademantel und die Tennissocken in der Wäsche, aber morgen …«
»Untersteh dich!«
Ihr entsetzter Ausdruck reizte ihn zum Lachen. Sie nahm das tatsächlich ernst. Dabei hatte er morgen vor, das Frühstück gänzlich nackt zu präsentieren und nicht wie heute in Boxershorts mit albernen gelben Quietscheentchen drauf. Ein Kauf in geistiger Umnachtung von Anne, übrigens, den sie schon lange bitter bereute.
Robert klappte das Tischchen auf und stellte das Tablett darauf, dann kroch er zu Anne ins Bett zurück. »Greif zu, es ist alles frisch und noch brutzelnd warm. Kaltes Spiegelei ist ekelhaft.«
Halbherzig trank Anne einen Schluck Kaffee und stocherte in Speck und Ei. »Ich hab keinen Hunger.«
»Meine liebe Dämonenmuse«, belehrte er sie, »im Gegensatz zu mir bist du am Leben und musst deinem Körper Nahrung zuführen. Gut, es muss nicht viel sein, und Blut täte es auch, aber ich weiß doch, wie gern du früher gegessen hast. Und ich kann mit den Augen mitessen und mich dran erinnern, wie es war.« Manchmal konnte er auch noch etwas schmecken, einen guten Rotwein etwa, Schnaps oder scharf Gewürztes. Alles, was seinen feinen Geruchssinn, besser als der eines Wolfes, anregte. Manchmal überkamen ihn die Gelüste danach, auch wenn er hinterher heimlich alles wieder auswürgen musste. Aber davon blieb wenigstens kein schlechter Geschmack zurück, weil es nicht verdaut wurde.
Ihm zuliebe aß Anne schweigend, während Robert die Tageszeitung vom Tablett nahm – die durfte natürlich auch nicht fehlen – und halb interessiert die Schlagzeilen sichtete. Unter »Lokales« las er vor: »Weitere Opfer der Kälte. Gestern Nacht wurden am Stachus zwei weitere Leichen Obdachloser geborgen, die nach bisher unbestätigten Vermutungen in der Nacht erfroren …« Er schlug die nächste Seite auf. »Aha, laut Wetterbericht wird der starke Frost noch anhalten, für heute Nacht werden minus fünfzehn Grad erwartet. Trotzdem war der Weihnachtsmarkt zum ersten Advent ein voller Erfolg. Der Absatz von Glühwein erreichte astronomische Höhen …«
Anne schwieg immer noch. Robert ließ die Zeitung sinken. Eine klare Dezembersonne fiel durch das Sprossenfenster herein, und von unten klang gedämpfter Autolärm herauf.
Robert liebte diese Altbaumansarde am Radlsteg, mitten im Herzen Münchens, mit ihrem uralten knarrenden Parkett, hohen Decken und Sprossenfenstern; liebte die ausgelatschten Holzstiegen und wuchernden Grünpflanzen im Treppenhaus, den Geruch nach Bohnerwachs und altem Holz, den bröckelnden Putz und den fehlenden Aufzug zum fünften Stock. Nur noch hartgesottene Münchner lebten hier, die ihr gesamtes Leben schon in dem Haus verbracht hatten, dazu ein paar Studenten und seit kurzer Zeit Robert und Anne. Die oberste Etage gehörte ganz ihnen, niemand konnte sie stören. Kein Namensschild wies auf ihre Anwesenheit hin. Post ging an ein Postfach sowie eine Packstation.
Als Anne nämlich nach der Rückkehr Roberts heruntergekommene Junggesellenbude gesehen hatte, hatte sie auf der Stelle kehrtgemacht und erklärt: »Ich schlafe heute im Hotel, und morgen ziehen wir um.«
Recht hatte sie. Die alte Wohnung war nur noch ein Museumsstück, der abgeschlossene Lebensabschnitt eines Mannes, der nicht mehr existierte. Robert hatte sich das Telefon geschnappt, ein paar frühere Kontakte genutzt und in wenigen Tagen den fünften Stock gekauft. Da er bar bezahlen konnte und nicht erst zur Bank musste, waren Verkäufer und Käufer sich schnell handelseinig und die Formalitäten innerhalb von zwei Wochen der notwendigen notariellen Frist erledigt. Die alten Seidentapeten mochten zerschlissen sein, aber sie hatten Charme, der Parkettboden wurde geschliffen und lackiert, lediglich das Badezimmer wurde vollständig, natürlich im angepassten Stil, renoviert. Den Rest beließen sie, wie er war. Die Einrichtung und der Hausstand waren rasch bei Antiquitätenhändlern und auf Versteigerungen gefunden. Manche Sachen kosteten nur ein paar Euro, andere ein paar tausend. Das einzige Auswahlkriterium lautete: Was gefällt. Es war toll, reich zu sein.
Außer den Büchern, Fotos und was mit seiner Arbeit zusammenhing, nahm Robert nichts aus der alten Wohnung mit.
Und damit waren sie schon im Winter, im Hier und Jetzt angekommen. Robert stand auf, nahm Tablett und Tischchen weg, setzte sich an den Bettrand und ergriff Annes Hand.
»Möchtest du auf die Insel zurück?« Sie hieß eigentlich Lan-an-Schie und stammte von der Isle of Man, und während des Schreibprozesses an Roberts Buch hatten sie die meiste Zeit dort gelebt. Robert mochte die winzige Insel und war gerade dabei, ein Cottage zu kaufen; davon hatte er Anne aber noch nichts erzählt.
Sie schüttelte den Kopf. Täuschte er sich, oder hing da tatsächlich eine Träne an der schwarzen Wimper? War das seine kühle, beherrschte Muse? Die nie die Fassung verlor,