ohne langsamer zu werden, weiter durch die Gasse. Er bog nach links ab, nach rechts und blieb dann an einer Kreuzung stehen, um sich zu orientieren und sich zu vergewissern, dass sein Team noch bei ihm war. Elena war nur einen Schritt hinter ihm und Bo tauchte einige Sekunden später schwer atmend auf.
»Es ist fast dunkel«, sagte Elena, während ihr Blick über die beiden Straßen glitt, zwischen denen sie sich entscheiden mussten. »Bist du sicher, dass du den Weg kennst?«
Eine der Straßen wurde von Kisten und einem umgeworfenen Ochsenkarren blockiert. Davor lag ein Haufen Abfall, um den herum sich eine Gruppe jiāngshī versammelt hatte. Also mussten sie die andere nehmen, doch die führte in die falsche Richtung. Außer …
Bo warf einen nervösen Blick auf die jiāngshī-Gruppe. »Wo lang, xiăodì?« Der Kosename »kleiner Bruder« war streng genommen nicht ganz zutreffend. Der Altersunterschied war so groß, dass Bo fast Zhus Vater hätte sein können.
»Wir sind fast da.« Das war ein wenig geflunkert, denn Zhu wusste es nicht genau. Über die Jahre hatte sich viel verändert und der Zusammenbruch der Welt hatte dafür gesorgt, dass ihm nichts mehr vertraut erschien. Etwas in seiner Brust zog sich zusammen. Er hätte hier sein sollen.
Hastig lief er die freie Straße hinunter und sein Team hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Sie hatten die Straße zur Hälfte zurückgelegt, als er das fand, wonach er gesucht hatte. Er warf seine Machete auf das Blechdach eines Hühnerstalls und zog sich hoch. Elena und Bo waren dicht hinter ihm.
»Passt auf.« Er warf einen Blick über den Rand des Stalls, wo Balken das Dach stützten. Niemand wusste, wie viele jiāngshī sich in den Gebäuden unter ihnen aufhielten. Die drei liefen über das Labyrinth aus niedrigen und hohen Dächern und sprangen schließlich in einen von Mauern umgebenen Hinterhof. Dort steckten zwei jiāngshī im Schlamm eines Koiteichs fest. Sie hoben die Arme, als sie die Menschen bemerkten, stellten aber keine Gefahr dar. Das Team kletterte die Mauer auf der anderen Seite des Hofs hoch und balancierte vorsichtig über die Krone, bis es den Balkon im ersten Stock des Nachbarhauses erreichte. Einen kurzen Sprung später betraten die drei ein scheinbar verlassenes Wohnhaus.
Zhu legte seinen Seesack ab und schnüffelte. Zum Glück roch es kein bisschen nach Verwesung, doch er zögerte trotzdem an der Türschwelle, als ihn nostalgische Erinnerungen überkamen. »Hier sollten wir uns ausruhen können.« Es war gut, dass sie diese Nacht ein Dach über dem Kopf hatten. Er war sich nicht sicher gewesen, ob sie es vor Sonnenuntergang schaffen würden. Sie hatten drei Tage gebraucht, um das Dorf zu finden, und die nächste gelbe Fahne, die einen sicheren Ort markierte, war eine halbe Tagesreise entfernt.
In dem spärlich eingerichteten Wohnzimmer gab es ein Sofa an einer Wand, einen Röhrenfernseher in der Ecke und einen kaputten Schaukelstuhl. Obwohl so viele Monate vergangen waren, hatte die Natur das Gebäude noch nicht erobert. Abgesehen von der dicken Staubschicht sah die Wohnung sauber und ordentlich aus. So wie in seiner Erinnerung. Bilder der Vergangenheit strömten auf Zhu ein: der vertraute Geruch des Eintopfs, den seine năinai gekocht hatte, die langen Nächte, in denen er und seine Familie zugesehen hatten, wie Glühwürmchen den Himmel erleuchteten, den Abend, an dem er mit seiner Schwester einen Drachen im Wohnzimmer auseinandergenommen hatte, um aus dem Rahmen Pfeile und Bogen herzustellen. Bo hatte bei seinem Gespräch mit Elena einen Nerv getroffen.
Dies war einmal das Zuhause seiner Großeltern gewesen. Seine Eltern hatten in der unteren Etage gewohnt, doch sich im Erdgeschoss umzusehen war viel zu gefährlich. Als er das letzte Mal in der Wohnung gewesen war, hatten sich vier Generationen der Chen-Familie dort gedrängt. Nun gab es, soweit er wusste, nur noch ihn. Zhu wusste nicht, was den anderen widerfahren war. Seine Urgroßmutter war wahrscheinlich schon ganz zu Anfang gestorben. Sie wäre dieses Jahr neunundneunzig geworden. Zu seinen Eltern, Großeltern und seiner Schwester hatte Zhu kurz nach dem Ausfall des Strom- und Telefonnetzes den Kontakt verloren. Er hatte seitdem nichts mehr von ihnen gehört.
Als er sich umsah, kam ihm die Wohnung friedlich und leer vor. Es gab keine Toten, keine jiāngshī, keine Gewalt. Darüber war er froh. Er hatte sich schon auf das Schlimmste eingestellt. Zhu wandte sich von seinem Team ab, schloss fest die Augen, verabschiedete sich flüsternd von seiner Familie und bat um Vergebung, weil er nicht da gewesen war, als sie ihn gebraucht hatte. Er hätte ein besserer Sohn sein und nach Hause zurückkehren sollen, als er erkannt hatte, dass die Regierung die Epidemie nicht mehr im Griff hatte. Er hätte mit dem ersten Bus ins Dorf fahren sollen, als sie sich ausgebreitet hatte. Er hätte zu Fuß gehen sollen, als die Busse und Züge den Betrieb eingestellt hatten. Doch das hatte er nicht getan. Nun konnte er nur noch mit seiner Vergangenheit abschließen und weitermachen. Er hatte keine andere Wahl.
In den letzten Tagen vor dem Untergang des Landes hatten Chaos und Verwirrung geherrscht. Das Gesundheitsministerium hatte in seinem letzten Bericht die Befürchtung geäußert, es könne bereits siebenhundert Millionen jiāngshī geben. Das bedeutete, dass über die Hälfte der chinesischen Bevölkerung in den ersten Wochen seit Ausbruch der Epidemie gestorben war. Heute, sechs Monate später, waren es wahrscheinlich bedeutend mehr.
Damals hatte die Regierung den Menschen versichert, dass sie alles unter Kontrolle hätte. Dass alles gut würde. Die Menschen würden das überstehen, würden die Toten vernichten und alles wiederaufbauen. China würde, wie schon immer, durch die Kraft und die Entschlossenheit seines Volkes überleben.
Sie hatte diese Botschaft bis zum Schluss verkündet, als es in Peking plötzlich still geworden war. Als der Kopf verstummt war, hatte sich im Rest des Körpers Panik ausgebreitet. Viele Kommunalverwaltungen waren zusammengebrochen. Die Straßen um die Großstädte waren äußerst gefährlich geworden. Die Stadtbewohner hatten versucht, aufs Land zu fliehen, um dem Strom der Toten zu entkommen, während die Dorfbewohner versucht hatten, in die Städte zu fliehen, weil sie glaubten, dass die Regierung sie dort besser beschützen könne. Das hatte dazu geführt, dass der Verkehr in beide Richtungen zum Erliegen gekommen war. Überall, wo sich Menschen versammelt und Zuflucht gesucht hatten, hatte schon bald der Tod zugeschlagen. Die Epidemie hatte jede Menge Überträger gefunden, um sich rasch im gesamten Reich der Mitte ausbreiten zu können.
Elena, die Kommoden und Schränke durchsucht hatte, stemmte die Hände in die Hüften. »Woher kennst du diese Wohnung, Zhu?«
Man hätte sicherlich eine leichter zugängliche und bequemere Unterkunft für diese Nacht finden können, aber darüber wollte Zhu jetzt nicht reden. Er wollte den Rest der Nacht nicht mit Geschichten aus seiner Vergangenheit verbringen. Die Wunden waren noch zu schmerzhaft und die Schuldgefühle zu stark. Außerdem hatten sie einen Job zu erledigen. Aber wenn er schon einmal in Fongyuan war, musste er dem Zuhause seiner Familie zumindest einen letzten Besuch abstatten. Sonst würde er es für immer bereuen. Und vielleicht würde er eine solche Gelegenheit nie wieder bekommen. »Das ist nur eine verlassene Wohnung.« Er zeigte auf den Ofen, der in einer Ecke stand. »Zünde ein Feuer an. Bo, sieh dich in der Küche um. Ich durchsuche die anderen Zimmer.«
Mit der Machete in der Hand ging Zhu durch den Flur. Wären hier jiāngshī gewesen, hätte man sie schon längst gehört. Und definitiv gerochen. Aber man konnte nie vorsichtig genug sein.
Abgesehen von einem großen klassischen Steinbett und einer hölzernen Kommode war das Schlafzimmer seiner Großeltern leer. An der gegenüberliegenden Wand gab es neben einem Fenster viele Fotos seiner năinai und seines yéye, die sie von ihrer Jugend bis zu der Zeit, als sie beide faltig, grau und gebeugt waren, begleiteten. Auf dem größten Foto war seine ganze Familie zu sehen, über fünfzig Personen. Als Zhu es genauer betrachtete, sah er die obere Hälfte seines jugendlichen Gesichts am rechten Bildrand, direkt neben dem übermalten Gesicht des Ex-Mannes seiner Cousine. Năinai kannte keine Gnade, wenn es um die Familie ging.
Auf dem obersten Regalboden über der Kommode stand ein Buddhaschrein. In den Tassen steckten immer noch abgebrannte Räucherstäbchen. Auf einem kleinen Tisch neben dem Bett lag ein xiàngqí-Brett. Die aufgestellten Figuren warteten auf ein Schachspiel, das nicht mehr stattfinden würde.
Zhu hob eine der Figuren auf – den Elefanten – und betrachtete die abgeschabten Kanten und die vielen