Gesicht. »Das ist ein schreckliches Menü. Ich möchte mit Ihrem Vorgesetzten sprechen.«
»Selbstverständlich, Sir. Sie können Ihre Beschwerde hier hinterlassen.« Sie zeigte ihm den Mittelfinger und streckte dann den kleinen Finger aus, die chinesische Geste. Anschließend grinste sie. »Aber mal ernsthaft, sobald wir unsere Quote erfüllt haben, werde ich mir von den Punkten, die wir dann bekommen, echtes Obst kaufen.«
»Durian ist echtes Obst.«
»Darüber lässt sich streiten.« Sie zeigte zum Horizont. »Es kommt Nebel auf. Wenn der bis morgen nicht weg ist, sitzen wir in diesem Dorf fest. Jedenfalls sollten wir uns bei dem Wetter nicht draußen umsehen.«
»Der Nebel wird morgen früh weg sein.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es«, erwiderte Zhu mit Gewissheit. Er drehte den Kopf und warf einen Blick ins Wohnzimmer. »Was macht Bo da drin?«
»Er liest in seinen Büchern.«
Bo war als Einziger im Team vor dem Zusammenbruch so arm gewesen, dass er sich keine elektronischen Geräte hatte leisten können. Zhu hatte eine einfache Kamera und einen MP3-Player mit Musik dabei und Elena besaß praktisch alles: eine Kamera, ein Handy, einen MP3-Player und einen dieser schicken tragbaren DVD-Player. Bo besaß nur Bücher. Auf der einen Seite war das gut, weil er nie Punkte für das Aufladen seiner Geräte ausgeben musste. Auf der anderen Seite war er oft gezwungen, die wenigen Bücher, die er besaß, mehrfach zu lesen. Außerdem hatte Zhu ihm ausdrücklich verboten, mehr als ein Buch auf ihre Beutezüge mitzunehmen.
»Ich wünschte, ich könnte hànzì besser lesen«, sagte Elena wehmütig. »Wie nennt man so eine Geschichte noch mal?«
»Wūxiá, was so viel wie ›Kampfkunstheld‹ bedeutet. Da kommen die ganzen Kung-Fu-Geschichten her. Wenn du möchtest, kann ich dir beibringen, die Zeichen besser zu lesen. Schließlich hast du dir, bevor das alles losging, ja auch große Mühe mit meinem Englischunterricht gegeben«, bot Zhu an und tastete nach ihrer Hand.
»Der Lehrling ist nun selbst zum Meister geworden.« Sie lächelte und ließ sich von ihm zurück ins Wohnzimmer führen.
Das Abendessen entsprach ihrer Beschreibung: Klebreis mit Erdnüssen und Sojasoße, eingewickelt in Bananenblätter. Zhu und Elena gaben Bo von ihren Portionen etwas ab, da der kräftige Mann so viel wog wie sie beide zusammen. Sie gab ihm auch ihren Teil der Durian.
Der Rauch, den das Feuer im Holzofen verursachte, zog nur zum Teil ab, doch das Team ertrug es, weil das immer noch besser als die Kälte war. Die drei vertrieben sich die Zeit mit den spärlichen Unterhaltungsmöglichkeiten, die ihnen zur Verfügung standen. Sie hörten die Musik, die Zhu auf seinem MP3-Player gespeichert hatte, und sahen sich Filme auf Elenas kleinem Bildschirm an. Anschließend las Bo etwas aus seinem wūxiá-Buch vor und Zhu half Elena mit ihrem Mandarin.
Sie rückten näher an den Ofen heran, als die Nacht anbrach und es kälter wurde. In der Dunkelheit konnte man nicht mehr lesen, also unterhielt Elena die anderen mit Geschichten über ihr Leben in Amerika. Anscheinend war ihre Familie fast jedes Wochenende Boot gefahren oder hatte gegrillt, war an Sandstränden entlangspaziert oder hatte auf einem großen Fluss namens Colorado etwas getan, das Elena als »Tubing« bezeichnete. Sie erzählte ihnen, dass sie und ihr Bruder Robbie oft mit ihrem Vater Rehe mit Pfeil und Bogen gejagt hatten, was erklärte, weshalb sie so gut damit umgehen konnte.
Wenn Elena von ihrer Heimat sprach, hellte sich ihre Miene auf. Es war offensichtlich, wie sehr sie ihre Familie vermisste. Dass sie so weit weg gewesen war, als die Welt auseinanderbrach, musste sie innerlich zerrissen haben. Seit sie und Zhu im Frühstadium der Katastrophe aus Changsha geflohen waren, hatte sie nichts mehr aus Amerika gehört.
Bo hob die Hand, als sie wieder einmal versuchte, ihnen Tubing zu erklären. »Ich verstehe das nicht.« Er zählte die Punkte an den Fingern ab. »Deine Familie hat ihr eigenes Boot, mit dem sie zum Spaß herumfährt, ohne Ziel und ohne etwas zu befördern. Aber ihr lasst euch auch gerne auf Autoreifen im See treiben.«
Sie nickte. »Es geht nicht darum, irgendwo anzukommen. Wir wollten nur zusammen sein und diese Erfahrung genießen. Außerdem gab es auf dem Lake Travis oft Partys. Wir sind herumgefahren, haben ein paar Boote miteinander vertäut und hatten Spaß.«
Bo wirkte ein wenig verwirrt. Zhu konnte das gut nachvollziehen. Sie kamen beide vom Land, Zhu aus West-Hunan und Bo von irgendwo weit oben im Norden. Beide hatten einen Bauernhof verlassen, um sich in der Stadt Arbeit zu suchen, und hatten schließlich nebeneinander in einer Fabrik am Fließband gestanden. Kurz darauf hatte sich Zhu auf die Suche nach einem Englischlehrer gemacht und Elena kennengelernt.
Zum Einschlafen hörten sie gŭzhēng-Volksmusik, Klassiker von Andy Lau und chinesischen Death Metal – Letzteres gefiel Zhu erst seit Kurzem. Bo legte sich neben den Ofen, während sich Zhu und Elena einen Schlafsack teilten. Sie hatten auf einen zusätzlichen Schlafsack verzichtet, um mehr Platz für die Beute zu haben, die sie in die Siedlung zurückbringen wollten.
Zhu überprüfte den Ofen und legte noch ein paar Bretter von dem Regal, das Bo mit seinem Vorschlaghammer zerschmettert hatte, hinein. Dann kontrollierte er auch den Schornstein noch einmal, um sicherzustellen, dass ein Großteil des Rauchs aus der Wohnung geleitet wurde. Es wäre eine Schande, wenn sie an Rauchvergiftung sterben würden, nachdem sie die jiāngshī-Apokalypse überlebt hatten.
Als er neben Elena in den Schlafsack kroch, war sie bereits eingeschlafen. Zhu legte schützend die Arme um sie und sie drückte sich instinktiv mit dem Rücken gegen seine Brust. Er blinzelte, als ihn Erschöpfung überkam. Er warf einen Blick zur Seite und sah, dass Bo mithilfe einer Stirnlampe immer noch in seinem Buch las.
»Wir müssen morgen früh raus«, sagte er.
Das Licht ging aus. »Okay, xiăodì. Schlaf gut.« Der kräftige Mann musste ebenfalls erschöpft sein, denn er schlief nach nur wenigen Sekunden ein. Schon bald erfüllte sein lautes, angestrengtes Schnarchen, das ein wenig an das Zischen eines jiāngshī erinnerte, den Raum.
Zu Zhus Leidwesen fiel Elena, die das Gesicht an seiner Schulter vergraben hatte, schon bald in den Chor ein. Ihr leises Atmen wechselte sich mit Bos lautem Zischen ab. Gemeinsam verfielen sie in einen Rhythmus, dem sich schon bald das Zikadenzirpen, das von draußen in die Wohnung drang, anschloss.
Zhu starrte die Decke seines Elternhauses noch an, als diese seltsame Symphonie lange verklungen war. Er fragte sich, ob jiāngshī schliefen, ob sie sich zumindest in Bruchstücken an ihr vergangenes Leben erinnerten und ob ihre Seele noch in ihrem Körper weilte. Doch hauptsächlich dachte er an seine Urgroßmutter und wie sie die ganze Zeit auf der Toilette gesessen und auf nichts gewartet hatte.
Er hoffte inständig, dass die Urgroßmutter, die er geliebt und verehrt hatte, vor all den Monaten zusammen mit ihrem Körper gestorben war und dass ihre Seele mit denen ihrer Verwandten vereint worden war. Dann würde sie sich keine Fragen mehr stellen oder sich Sorgen machen müssen und vor allem würde sie nicht allein sein. Bevor der Schlaf ihn übermannte, fühlte er sich schuldig, weil ihm die Flucht in die süße Bewusstlosigkeit vergönnt war.
2
DER TAIFUN DER TOTEN
Die jiāngshī schlurften in einer langen Reihe beinahe höflich den schmalen Pfad entlang. Ihr Anführer, ein dürrer Teenager, dem eine Gesichtshälfte fehlte, blieb stehen, als es in einem nahe gelegenen Teich blubberte. Der jugendliche jiāngshī knurrte, legte den Kopf schief und starrte in den Teich. Der Körper hinter ihm prallte gegen ihn und dann auch der hinter ihm, was eine Kettenreaktion auslöste, die sich durch die ganze Reihe ausbreitete, bis der Vorwärtsschwung den ersten jiāngshī zwang, weiterzugehen. Die gespenstische, beinahe lautlose Prozession setzte sich wieder in Bewegung.
Ying Hengyen, Anführer der Lichtblick-Windteams, hockte auf einem Ast oberhalb des Pfads. Ihm entging die bittere Ironie dieser Szene nicht. Das, was sich gerade unter ihm abspielte, hätte als Metapher