auf, die vom Lärm der Schüsse angelockt worden waren. Nun traten sie über die Kante und krachten auf die Felsen in der Schlucht. Weitere jiāngshī folgten ihnen, doch viele aus dieser zweiten Welle standen wieder auf, weil die, die vor ihnen heruntergefallen waren, ihren Aufprall dämpften.
Hengyen widerstand dem Impuls, diese Situation als Lehrstück zu nutzen, und befahl einen raschen, aber geordneten Rückzug. Er kämpfte sich in die Richtung durch, aus der sie gekommen waren. Die jiāngshī fielen um sie herum weiter vom Himmel. Viele, die zwischen den Felsen aufschlugen, erhoben sich nicht mehr. Doch ebenso viele standen wieder auf. Die Leichen stapelten sich inzwischen bereits am Fuß der steilen Felswände.
Ein jiāngshī, dessen Aufprall von einem Dutzend anderer, die vor ihm aufgeschlagen waren, gedämpft wurde, rollte von dem Leichenberg herab und landete irgendwie auf den Füßen. Mit ausgestreckten Armen und unnatürlich verdrehtem Hals schlurfe er auf Hengyen zu, der so mit seinen Befehlen beschäftigt war, dass er den jiāngshī erst bemerkte, als der gegen ihn prallte und nach seinem Arm griff.
Der Windmeister schob seine freie Hand unter dessen Ellbogen, blockierte den Arm, warf den jiāngshī zu Boden und trieb ihm mit einer geschmeidigen Bewegung seinen Dolch in den Schädel. Ein anderer kam aus seinem toten Winkel auf ihn zu. Hengyen trat ihm die Beine unter dem Körper weg, kam auf die Füße und gab dem Rest des Teams ein Zeichen, sich zurückzuziehen.
Ein jiāngshī bekam Linnang zu fassen und biss ihm mit seinen verrotteten Zähnen ein Stück Fleisch aus dem Arm. Linnang schrie und schlug auf den Kopf der verwesenden Kreatur ein. Einem zweiten jiāngshī gelang es, mit seinen schwarz verfärbten Händen das Bein des Mannes zu packen. Ein dritter krallte sich in seine Haare.
Dann begann der Fressrausch.
Linnangs Schreie gellten durch die Schlucht, als er unter den Körpern begraben wurde. Hengyen zog die Pistole und suchte in der Hoffnung, ihn durch einen Schuss von seinem Leid erlösen zu können, nach ihm. Doch er sah nur zuckende Gliedmaßen und spritzendes Blut. Er winkte den anderen zu. »Rückzug.«
Der Rest des Windteams gab den Kampf auf und floh. Hengyen führte die anderen an und schlug dabei immer wieder Haken, um den jiāngshī zu entgehen, die noch immer herabfielen. Ein Körper wäre beinahe auf Weizhen gelandet. Haihong stolperte und stürzte schmerzhaft, als ein anderer direkt vor ihr aufschlug.
Das Windteam rannte fast einen Kilometer weit durch die Schlucht. Erst dann befahl ihm Hengyen, anzuhalten. Er warf einen Blick in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Schon bald würden sich die jiāngshī in der Schlucht drängen. Es würde Wochen dauern und sie würden Leute einsetzen müssen, die anderswo gebraucht wurden, wenn er die Steinformation wieder als Aussichtspunkt nutzen wollte.
»Was machen wir jetzt, Windmeister?«, fragte Wangfa.
Hengyen schüttelte den Kopf. Um dieses Problem würde er sich später kümmern. »Wir kehren so schnell wie möglich nach Hause zurück. Lasst alles liegen, was ihr nicht unbedingt braucht. Wir müssen den Lichtblick warnen, dass sich ein Taifun nähert.«
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Zhus Windteam brach im Morgengrauen auf. Wie er prophezeit hatte, löste sich der starke Nebel im ersten Licht des Tages auf. Das Frühstück hatte aus den verbliebenen Hundertjährigen Eiern bestanden, die Elena noch mehr hasste als Durian. Doch da ihnen der Klebreis ausgegangen war, aß sie jedes Stück, das er ihr anbot.
Zhu führte sie über die Treppe ins oberste Stockwerk, wo sie durch ein Fenster in der Seitenwand auf das nächste Dach sprangen. Sie gingen vorsichtig an dem im Stil einer Pagode errichteten Dach bis zur Ecke und kletterten dann auf allen vieren zum First hinauf. Sie bewegten sich langsam und vorsichtig, denn durch den feuchten Nebel waren die Dachziegel glitschig geworden.
»Wehe hindurch, als wärst du nie hier gewesen«, murmelte er, ohne den Blick von seinen Füßen zu nehmen. Diese Redewendung wurde jedem Windteam während der Ausbildung eingebläut. Als sie tiefer ins Dorf vordrangen, füllten sich die Straßen unter ihnen mit jiāngshī. Fast alle standen völlig reglos da, als würden sie zur Terrakottaarmee gehören. Der Anblick ließ Zhu zu den rastlosen Gedanken zurückkehren, die er sich in der letzten Nacht gemacht hatte: Schliefen jiāngshī? Träumten sie? Es spielte keine Rolle. Hauptsache, sie wurden nicht gestört, denn Unruhe war ansteckend. Ein Meer von unruhigen, aufgeregten jiāngshī hätte das Windteam nur abgelenkt und das durfte es sich nicht erlauben. Ein Schwarm Kraniche flog tief über sie hinweg, als Zhu einen Schrei hinter sich hörte. Er drehte sich um und sah, wie Elena mit den Füßen voran über das steile Dach rutschte, während sie sich verzweifelt festzuhalten versuchte. Er warf sich in ihre Richtung und rutschte über die rauen Dachziegel, erkannte jedoch, dass er es nicht schaffen würde. Doch dann gelang es Elena zu seiner Überraschung doch noch, sich festzuhalten, und er schlitterte an ihr vorbei. Die Dachkante kam rasch auf ihn zu. Er stellte sich vor, wie er mit dem Kopf zuerst in ein Meer aus jiāngshī stürzte, aber dann wurde sein Fall abrupt gestoppt.
Er sah zurück und entdeckte Elena, die flach auf dem Dach lag. Mit einer Hand hielt sie sich an einem Griff fest, die andere hatte sie um eine Handvoll Stoff seines Hosenbeins gekrallt. Er konnte sich nicht erklären, wie es ihr gelungen war, nicht nur sich selbst, sondern auch ihn zu retten. Zhu richtete sich vorsichtig auf und kroch auf allen vieren zu ihr. Zusammen kletterten sie zum Dachfirst hinauf. Bo half ihnen auf.
Zhu ergriff Elenas Arm. »Gut reagiert.«
Sie hob die Finger und wackelte damit. »Das jahrelange Herumklettern im Guadalup-Gebirge hat sich also doch gelohnt.«
Er warf einen Blick auf ihre Turnschuhe, die bis auf die Innensohlen abgelaufen waren. »Wir müssen dir ein neues Paar Schuhe besorgen«, murmelte er.
»Größe 39 und wenn es geht, in Pink.«
Er lachte leise. »Mal sehen, was sich machen …« Er hielt abrupt inne und wandte sich dem Horizont zu. Eine Sekunde lang kam es ihm so vor, als würde sich im obersten Stockwerk des Gebäudes auf der anderen Straßenseite etwas bewegen. Er ließ den Blick über die Dächer gleiten, fand jedoch nichts.
Bo folgte seinem Blick. »Was ist los?«
Elena kniff die Augen zusammen und griff nach ihrem Bogen.
Zhu starrte noch einige Sekunden lang auf das Dach, wandte sich dann jedoch ab. »Nichts. Ich dachte nur, ich hätte etwas gesehen. Bleibt wachsam.«
Die drei drangen noch vorsichtiger als zuvor ins Dorf vor. Am Ende der Straße stießen sie auf ein totes Stromkabel, das über die Straße führte. Zhu ging voran, um sicherzustellen, dass es sein Gewicht aushielt. Er schlang Arme und Beine um das Kabel, hängte sich mit dem Kopf nach unten daran und zog sich zur anderen Straßenseite, ohne einen Blick nach unten auf den Strom der Toten zu werfen. Hier im Dorfzentrum gab es so viele, dass man den Boden nicht mehr sehen konnte. Zhu hatte die andere Seite fast erreicht, als er nach unten blickte, um einen Halt für seine Füße zu finden. Das war ein Fehler, denn der Strom der jiāngshī wogte hin und her und streckte ihm die zu Klauen gekrümmten Finger entgegen.
Die jiāngshī hatten sie also doch noch bemerkt und ihre animalische, irrsinnige Wut lähmte ihn. Seine Gedanken überschlugen sich. Zhu war es nach dem Ausbruch der Epidemie gelungen, seine Gefühle abzuschotten. Nur so konnte man in dieser furchtbaren Realität überleben. Er stellte sich dem Gedanken, dass es sich bei den jiāngshī um von den Toten auferstandene Menschen handelte, nicht. Stattdessen tat er so, als wären sie Kreaturen, die man umbringen oder vermeiden musste. Er musste stark sein, sonst würde er sich nicht um Elena kümmern können. Aber nach dem, was er letzte Nacht in der Wohnung seiner Großeltern entdeckt hatte … Er schloss fest die Augen und nahm einige kurze, flache Atemzüge, während er am ganzen Körper zitterte.
Zhu wusste nicht, wie lange er an dem Kabel gehangen hatte, aber auf einmal stach ihn etwas von hinten, nicht fest genug, um die Haut aufzureißen, aber so fest, dass er erschrocken aufschrie. Er sah am Kabel entlang und entdeckte Elena hinter sich. Sie