dasselbe, aber so hatte sie anfangs Mandarin gelernt. »Wir können ihn doch nicht im Stich lassen.« Sie stieß eine Reihe Flüche auf Mandarin und Englisch aus.
Bo setzte sie schließlich ab, hielt sie aber weiter am Mantel fest. »Er ist so gut wie tot, Elena. Wenn du zurückgehst, wirst du ebenfalls sterben.«
Tränen traten ihr in die Augen. Sie kämpfte gegen sie an. Elena hatte sich seit dem ersten Monat der Epidemie, in dem sie fast durchgängig geweint hatte, keine Tränen mehr erlaubt. Damals hatte sie sich geschworen, dass sie nicht länger in Selbstmitleid versinken würde, da Tränen niemandem etwas brachten. Sie würde erst wieder weinen, wenn sie ihre Familie wiedersah – dann aber vor Freude.
Sie atmete tief durch und murmelte: »Ich bin wieder okay.«
Bo ließ sie nicht los. »Du versprichst mir, dass du nicht zurückgehst?«
Sie nickte und sagte leise: »Das verspreche ich, Arschloch.«
»Du versprichst mir, dass du mich nicht noch mal schlägst?«
Sie betrachtete die roten Striemen, die sich über seine Wange zogen. »Das mit deinem Gesicht tut mir leid.«
Er zuckte mit den Schultern und ließ sie los. Er wirkte nachdenklich. Was ist ein ›Arschloch‹?«
»Das heißt ›guter Freund‹«, erwiderte Elena, ohne mit der Wimper zu zucken.
Er nickte. »Dann bin ich ein sehr gutes Arschloch.«
Sie setzte sich auf die Dachkante und warf einen Blick in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Sie schlug Bos Hand zur Seite, als sie sich wieder ihrem Mantel näherte.
Bo kniete sich neben sie und nahm ihre Arme in seine großen Hände. Er wurde ernst. An die Stelle des fröhlichen, langsam redenden Trottels trat jemand, der nüchtern und umsichtig war. »Hör zu, xiăomèi. Ich hatte eine große Familie in Liaoning: eine Frau, Kinder, Brüder und Schwestern, Onkel und Tanten und unzählige Neffen und Nichten. Als die Provinz fiel, starb die Hälfte von ihnen in der ersten Woche. Die andere Hälfte starb, weil sie versuchte, die zu retten, die nicht mehr zu retten waren.« Er schüttelte sie sanft. »Zhu ist so gut wie tot. Wenn wir ihn ehren wollen, dann, indem wir überleben.«
»Und wenn ihm die Flucht gelingt?«
»Dann wird er zu uns finden. Zu dir.«
»Aber …«
Ein lautes Kreischen zerriss die Stille, gefolgt von einem Knall. Beides kam aus der Werkstatt. Elena und Bo sahen sich verblüfft an, dann liefen sie ein Stück zurück und beobachteten, wie der Lieferwagen um die Ecke bog und die Straße entlangraste. Elena zuckte zusammen, als er durch die jiāngshī pflügte wie eine Kugel durch die Kegel auf einer Kegelbahn und eine Häuserwand streifte.
Sie zupfte an Bos Ärmel. »Komm schon.«
Es war nicht schwer, Zhu zu folgen. Sie mussten sich nur an die Schneise der Verwüstung und die Reifenspuren halten. Sie liefen über die Dächer, bis sie die Häuser hinter sich gelassen hatten, und dann über eine Mauer, die am Dorfrand endete. Elena entdeckte den nach vorne geneigten Lieferwagen in einem Reisfeld.
Das war der leichte Teil, aber den Lieferwagen zu erreichen erwies sich als schwieriger. In dem Reisfeld, das sie durchqueren mussten, hielten sich Dutzende jiāngshī auf. Sie konnten sich auf dem offenen Gelände nirgendwo verstecken und auch nicht auf etwas klettern oder unter etwas hindurchkriechen. Das bedeutete, dass der einige Hundert Meter lange Weg zum Lieferwagen extrem gefährlich sein würde. Dachten sie zumindest.
Elena und Bo fanden jedoch rasch heraus, dass sich das Reisfeld in einer Senke befand, in der sich das Wasser sammelte. Das Wasser reichte Elena bis zu den Knien und es fiel ihr schwer, durch den Schlamm zu waten. Den Toten fiel das jedoch noch schwerer, sie steckten praktisch fest. Deshalb war es recht einfach, ihnen aus dem Weg zu gehen, auch wenn Elena und Bo auf jiāngshī achten mussten, die sie nicht sahen, weil sie bereits im Wasser versunken waren. Sie brauchten eine Stunde, um bis zum Lieferwagen vorzudringen, weil Elena bei jedem Schritt mit ihrem Speer im Schlamm vor ihnen stochern musste.
Bis sie den Lieferwagen erreichten, war es bereits später Vormittag. Sie hatten viel länger als erhofft gebraucht. Als sie auf dem trockenen Teil des Felds ankamen, lief Elena sofort los. Sie bemerkte einen jiāngshī, der in der Nähe des Lieferwagens im Schlamm feststeckte und sinnlos auf der Stelle lief. Er drehte sich mit wütendem Stöhnen zu Elena um und landete prompt im Schlamm. Sie stieß ihm die Speerspitze in den Nacken, als sie und Bo an ihm vorbeigingen.
Elenas Hoffnungen zerschlugen sich, als Bo die Fahrertür öffnete und niemanden im Wagen vorfand. Sie entdeckten frisches Blut an der Windschutzscheibe und auf den Sitzen. Elena ging um den Lieferwagen herum und fluchte über das knöcheltiefe Wasser. Wäre es etwas niedriger gewesen, hätten sie Zhus Fußspuren folgen können.
»Wenigstens lebt er noch«, sagte Bo und warf einen Blick unter den Lieferwagen. »Das ist doch schon was.«
Elena verdrängte ihre Enttäuschung. Ja, das war schon was. Und definitiv besser, als Zhu tot vorzufinden – oder schlimmer noch untot. Die Vorstellung, ihn umbringen zu müssen, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Er lebte und das war das Wichtigste. Wahrscheinlich war er nicht einmal schwer verletzt, denn er hatte den Unfallort ja zu Fuß verlassen.
»Sein Seesack ist weg«, sagte sie.
»Gut! Er ist bestimmt schon auf dem Weg zum Lichtblick.«
Elenas Laune besserte sich. Das ergab Sinn. Sie hatten von der Werkstatt bis zu diesem Feld über zwei Stunden gebraucht. Wieso hätte Zhu so lange warten sollen? Sie hatten sich vorsichtig durch das Dorf geschlichen, damit die jiāngshī sie nicht bemerkten. Zhu hatte nicht wissen können, dass sie auf der Suche nach ihm waren. An seiner Stelle wäre sie auch schon auf dem Weg nach Hause.
Elena warf einen Blick zum Horizont im Osten. »Er folgt bestimmt den Fahnen. Wenn wir uns beeilen, können wir ihn einholen.«
Bo sah zur Sonne empor, die sich hinter dichten Quellwolken verbarg. »Sieht so aus, als würde es bald wieder regnen, und der Tag ist auch schon halb vorbei. Vielleicht sollten wir den Regen im Lieferwagen abwarten. Wir können ja direkt morgen früh aufbrechen.«
Elena schüttelte den Kopf. »Nein, wir brechen jetzt auf. Es ist noch früh genug. Wir können heute Abend schon in der Zuflucht sein.«
Sie duldete keinen Widerspruch. Zwar wusste sie, dass sie ein wenig impulsiv reagierte, aber Zhu konnte nicht widersprechen und Bo war nicht gerade ein Streithahn. Obwohl Zhu mit allen Fähigkeiten ausgestattet war, die man zum Überleben in der Wildnis benötigte, gefiel ihr die Vorstellung, dass er da draußen allein unterwegs war, nicht.
Sie brachen sofort in Richtung Lichtblick auf. Elena führte sie aus dem Reisfeld und in eine schmale Schlucht, die sich an der einzigen aus dem Dorf führenden Straße entlangzog. Normalerweise hätten sie je nach Wetter rund drei Tage für die Reise zum Lichtblick gebraucht, aber sie glaubte, dass sie es, wenn sie schnell vorankamen, schon bis zum nächsten Abend schaffen würden. Zum einen, weil sie hoffte, dass sie Zhu einholen würden, zum anderen, weil in ihren Taschen so viel Beute steckte, dass sie nur noch Nahrung und Wasser für einen Tag dabeihatten.
Sie benutzten die Straßen als Wegweiser, achteten aber darauf, ihnen ansonsten nicht zu nah zu kommen. Auf fast allen Autobahnen, Straßen und Wegen, die Bevölkerungszentren miteinander verbunden hatten, drängten sich verlassene Fahrzeuge und erinnerten an das Verkehrschaos, das hier geherrscht hatte. In den Wagen, auf den Straßen und in deren unmittelbarer Nähe wimmelte es von jiāngshī.
Elena und Bo kamen den Straßen nur näher als fünfzig Meter, wenn sie sie überqueren mussten. Normalerweise suchten sie sich eine alte Stromleitung oder benutzten einen der Abwassertunnel, die unter den Straßen hindurchführten. Deshalb hatte ihr Windteam, nachdem es die Fahnenwege verlassen hatte, so lange für die Reise nach Fongyuan gebraucht. Manchmal hatte es einen ganzen Tag gedauert,