größere, denn die Lebenden waren wankelmütig.
Elena durchsuchte rasch die beiden Zimmer und kehrte dann ein wenig enttäuscht zurück. Mehr als ein kleiner Teil von ihr hatte geglaubt, dass sie und Bo bei ihrer Ankunft einen halb betrunkenen Zhu vorfinden würden, der an einem prasselnden Feuer saß und Pflaumenwein trank, den er irgendwo aufgetrieben hatte. Um sicherzugehen, suchte Elena noch die Wände nach einem gezeichneten Schwein ab. Im Anfangsstadium der Epidemie, bevor sie den Lichtblick erreicht hatten, hatten sie sich eine Methode überlegt, mit der sie unbemerkt miteinander kommunizieren konnten. Zhus Sternzeichen war das Schwein, Elenas das Pferd. Wenn sie sich Nachrichten zukommen lassen wollten, zeichneten sie einfach ihr Sternzeichen an eine Wand. Doch Elena fand im Haus keine Schweine, also kratzte sie mit ihrem kleinen Taschenmesser die groben Umrisse eines Pferds in die Wand.
Bo zündete ein Feuer in der Kochstelle an und dann ließen sie sich nieder. Schweigend aßen sie ihr letztes Essen und teilten sich eine kleine Feldflasche Trinkwasser. Zhus Abwesenheit lastete so schwer auf ihnen, dass sie den ganzen Tag über kaum miteinander gesprochen hatten.
Elena versuchte, sie beide von ihm abzulenken. »Bo, du sagst immer, dass du aus dem Norden stammst. Von wo genau?«
»Aus der Provinz Liaoning«, antwortete er, während er langsam auf seinem mickrigen Abendessen kaute. »Nahe der nordkoreanischen Grenze.«
»Wie bist du in Hunan gelandet?«, fragte sie.
Er zuckte mit den Schultern. »Durch die Arbeit. Ich sollte Schichtleiter werden, aber ich habe mich geweigert, meinen Vorgesetzten zu bestechen, also haben sie mich neben Zhu ans Fließband gestellt.«
»Was habt ihr hergestellt?«
»Was sie uns sagten. Zuletzt billige Kopfhörerimitate. Zhu und ich mussten die Buchstaben laminieren. Dabei kam er auf die Idee, Englisch zu lernen, damit er mehr Geld verdienen konnte. Er dachte sogar darüber nach, eines Tages als Geschäftsmann nach Amerika zu gehen.« Er grinste breit. »Man könnte sagen, dass ich euch zusammengebracht habe, weil ich ihn gedrängt habe, einen Lehrer zu suchen, xiăomèi.«
Elena erwiderte sein Lächeln, allerdings etwas gezwungen. Wenn Bo sich damit brüstete, sie und Zhu verkuppelt zu haben, dann war er auch mitverantwortlich dafür, dass sie in China festsaß. Nein, das war ihnen beiden gegenüber ungerecht. Ihr Schicksal war das Ergebnis von Entscheidungen, die sie getroffen, und Fehlern, die sie begangen hatte. Sie selbst war dafür verantwortlich.
Die Unterhaltung dauerte nicht lange. Elena fielen schon bald die Augen zu, Erschöpfung hüllte ihr Bewusstsein ein. Sie wusste nicht, weshalb sie sich gegen den Schlaf wehrte. Sie rollte den Schlafsack aus, den sie sich normalerweise mit Zhu teilte. Sie kniete sich davor hin und hielt einen Moment inne. Der leere Schlafsack sah einsam aus.
Bevor sie hineinkroch, betete sie. Sie war seit Ende der Schulzeit nicht mehr besonders religiös gewesen, aber in Zeiten wie diesen überkam sie ein gewisses spirituelles Bedürfnis. Elena blieb auf den Knien hocken und faltete die Hände.
»Lieber Gott, hi, ich wollte mich nur mal melden. Wir haben uns in letzter Zeit nicht so oft unterhalten, wie ich es mir gewünscht hätte, aber du weißt ja, wie verrückt es hier zugeht. Ich bin aber immer noch da. Ich kämpfe immer noch und das verdanke ich dir.
Ich brauche jetzt wirklich deine Hilfe. Zhu ist irgendwo da draußen, aber wir wissen nicht, wo. Vielleicht ist er verletzt, vielleicht Schlimmeres. Du hast bestimmt gerade ziemlich viel zu tun, aber ich würde mich wirklich freuen, wenn du ein bisschen auf ihn achten würdest. Er glaubt zwar nicht an dich, aber er ist ein wirklich guter Kerl.« Sie hielt inne und fuhr dann mit tränenerstickter Stimme fort: »Ich habe vielleicht niemanden mehr außer ihm. Ich weiß nicht, was ich ohne ihn machen würde.«
Sie verschränkte die Hände noch fester und grub die Fingernägel in ihre Haut. »Es würde mir auch wahnsinnig viel bedeuten, wenn du dich um Mom, Dad und Robbie kümmern könntest. Ich weiß nicht, wie Mom mit all dem zurechtkommt. Sie ist immer so ordentlich, aber die ganze Welt versinkt im Chaos. Hoffentlich treibt sie Dad nicht in den Wahnsinn.« Ihr leises Lachen verwandelte sich in ein Schluchzen. »Und du weißt ja, dass Dad immer alles richten will. Ich hoffe, dass du ihn in deiner Weisheit vor Gefahren bewahrst und ihn davon abhältst, zu viel zu machen. Überleben reicht. Und bitte pass auf Robbie, den kleinen Dummkopf, auf. Lass ihn keine dämlichen Risiken eingehen. Er ist noch ein Kind. Wir werden das durchstehen und schon bald wieder zusammen sein. Danke. Im Namen Jesu, amen.« Elena sah zur Seite. »Und noch was. Ich weiß, dass ich dich um viele Gefallen bitte, aber achte auch auf Bo. Er hat ein gutes Herz und schon zu viel verloren.«
Ihr letztes Gebet hing eine Weile in der Luft, bevor es sich wie dünne Nebelschwaden verflüchtigte. Elena atmete langsam aus und lauschte der Stille, die wieder vom Zimmer Besitz ergriffen hatte. Es war so dunkel, dass sie nicht einmal die Decke sehen konnte. Elena hatte gehofft, dass das Gebet ihre Stimmung verbessern würde. Sie hatte es ernst gemeint, aber sie fühlte sich trotzdem innerlich leer und diese Leere lastete schwer auf ihr. Sie wollte unbedingt wieder an Gott glauben und versuchte verzweifelt, ihm ihr Herz zu öffnen, aber dass Menschen von den Toten auferstanden und die Lebenden umbrachten, erleichterte ihr das nicht gerade. Aber schaden konnte es auch nicht, denn sie brauchte Hilfe. Nicht nur um zu überleben, sondern auch um zu verhindern, dass ihre Seele in Hoffnungslosigkeit versank.
Der abgenutzte Schlafsack war normalerweise so eng wie ein Kokon, sogar ein bisschen klaustrophobisch. Doch nun hatte Elena zu viel Platz darin und vermisste Zhu umso mehr. Sie warf sich eine Weile hin und her und war immer noch wach, als Bo sein Buch beiseitelegte. Sie waren zu lange aufgeblieben und würden am Morgen dafür bezahlen. Sie starrte die Decke an und lauschte dem Wasser, das unter ihr gegen die Stelzen schwappte. Etwas, vermutlich ein Boot oder eine Planke, schlug rhythmisch gegen die Holzbalken unter dem Haus. Elena drehte sich zum zehnten Mal um und versuchte, die Gedanken an die Realität, in der sie festsaß, zu verdrängen. Sie war in einem fremden Land gefangen. Tausende Meilen von zu Hause entfernt. Umgeben von Tod und Verfall.
Sie versuchte, ihre Stimmung zu heben, indem sie an Dinge dachte, die sie glücklich machten: sich auf dem Boot ihres Vaters zu sonnen, ihrer Mutter beim Tischdecken zu helfen, Schlagzeuger in der Kirchenband zu sein, im Sommer in Camp Longhorn zu arbeiten und freitagabends zum Highschool-Football zu gehen. Sie zeltete wieder mit ihrem Vater und Robbie und watete auf der Jagd nach Tauben durch den Knaus Spring. Sie musste den Tauben immer den Hals umdrehen, wenn Robbie sie nicht richtig traf. Diese Erinnerungen sorgten dafür, dass sie geistig gesund blieb und nicht in Verzweiflung versank.
Bevor ihr Bewusstsein ins Nichts glitt, erinnerte sie sich noch an einen Abend mit Zhu, den sie einen Monat vor der Epidemie in ihrem Lieblingsrestaurant in Changsha verbracht hatten. Sie hatten einander gegenüber an einem Tisch gesessen, Händchen gehalten und sich mit Tränen in den Augen angesehen. Elena hatte spontan und von Liebe motiviert ihr Flugticket aus der Tasche gezogen und es zerrissen.
Und dann hatte sie die schicksalhaften Worte gesagt, die selbst im Schlaf Wut, Schuldgefühle und Bedauern in ihr auslösten. »Ich kann den Flug umbuchen. Ich bleibe noch bis zum Ende des Sommers.«
Doch nun lag Elena in diesem kleinen Holzhaus über einem tödlichen See und wünschte sich mit jeder Faser ihres Körpers, sie hätte sich anders entschieden.
5
DIE BEGRÜSSUNG
Zhus Augenlider flatterten. Er stöhnte zweimal. Das erste Mal, als er wieder zur Besinnung kam und sich auf einmal so fühlte, als hätte man ihm eine Eisenstange ins Gehirn getrieben. Das zweite Mal, als er den Mund öffnete, um diesem unangenehmen Gefühl Ausdruck zu verleihen, und die Bewegung seines Kiefers eine neue Schmerzwelle über ihn hereinbrechen ließ.
Zhu schloss fest die Augen und biss sich auf die Lippe, während er darauf wartete, dass die Schmerzen nachließen, dann analysierte er seine Lage. Sein Kopf pochte und sein Kiefer schmerzte, aber es fühlte sich nichts gebrochen an. Allerdings hatte sich möglicherweise ein Zahn gelockert. Seine ganze linke Seite war taub und nass. Seine Handgelenke waren aufgeschürft und hinter dem Rücken gefesselt. Abgesehen davon war er sehr durstig. Und hungrig.