Nataly von Eschstruth

Jedem das Seine - Band I


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      Der andere lachte laut auf: „Bei Gott, er kennt mich noch! Mortimer, alter Junge, das nenne ich ein treues Gedächtnis! Wenn man mit solch braver, ehrlicher Haut fünf Jahre lang die Schulbank gedrückt hat —“

      „Bis du auf die Ritterakademie kamst —“

      „Gott hab’ sie selig! und als die herrlichen Sonntage, die ich auf deinem elterlichen Gut verlebte, ein Ende hatten —“

      „Himmel ja! ’s ist wie ein Traum, plötzlich hier auf der Grande rue de Péra an all das ferne Teuere erinnert zu werden!“

      „Richtig! man kommt vor lauter Worten gar nicht zum Fragen! Marken ... alter Junge, welch ein guter Wind hat dich denn plötzlich hierher nach dem Orient geblasen?“ —

      „Wenn ich das noch fragte! dich, den angehenden Agrarier, den der kluge Papa zum Kaufmann machen wollte!“

      „Sollst du alles erfahren! Beichte auf Gegenseitigkeit! Aber hier auf offener Strasse? Undenkbar!“ — und Hans Schlüchtern schob den Arm in denjenigen des Schulfreundes und schritt mit ihm weiter: „Was hast du vor? — Eiliges? Unaufschiebbares?“

      „Nein! nicht das mindeste!“

      „Bon! So schlage ich vor — weil deutsche Art sich doch nie verleugnet, wir setzen uns gemütlich in die ‚Strassburger Bierhalle‘ gegenüber der russischen Botschaft und ...“

      „Mensch! — nie!“ —

      „Nie?“ —

      „Wenn ich auf Reisen bin, schüttele ich alles Deutschtum von mir ab.“

      „Und schämst dich nicht, so einen Landesverrat fröhlich lachend einzugestehn?“

      „I wie werde ich denn! Sieh mal, Bier trinken und in Münchener oder süddeutschen Brauhäusern sitzen kann ich daheim alle Tage; wenn ich aber nach Konstantinopel reise, dann will ich etwas ganz anderes hören und sehen, etwas Fremdes, Aussergewöhnliches, Orientalisches ...“

      „Aha, ich verstehe und bitte um Verzeihung. Sieh, dort liegt die Konditorei von Themistokles und Aslanides, das Rendezvous der reizendsten und sehenswertesten Levantinerinnen; wie wäre es damit?“

      „Ohne Debatte genehmigt!“

      „Zwar ist die Stunde nicht günstig, wir werden gerade jetzt etwas einsam sein, denn noch beginnt der Korso in der Grande rue de Péra nicht —“

      „So lass uns warten! Ich wollte eigentlich nach dem Galataturm hinaufklettern und in Rundblicken schwelgen, denn törichterweise bin ich mit der Eisenbahn anstatt mit dem Dampfschiff angekommen ...“

      „Marken! wie ist’s möglich?“

      „Das frag’ meinen Oberst, der den Urlaub so knapp bemessen hat, dass man mit jeder Minute geizen muss!“ —

      „Nun, dann darfst du auf keinen Fall schon jetzt den Turm besteigen! Lass uns bis Sonnenuntergang warten! Wenn es dir recht ist, begleite ich dich und freue mich schon jetzt auf den Eindruck, den das berückendste aller Panoramen auf dich machen wird!“

      „D’accord!“ Mortimer drückte dem Freund herzlich die Hand: „Also verzichte ich lieber auf die interessante Gesellschaft in der Konditorei und freue mich vielmehr der Ungeniertheit, mit dir plaudern zu können! — Wie lange ist’s her, Hans, dass wir zum letztenmal nebeneinander sassen und unsere Herzen ausschütteten. Damals spannte sich der blasse deutsche Sommerhimmel über uns aus, jetzt funkelt es so heiss und golden am tiefblauen Firmament, und die üppigen Oleander streuen uns ihre Blütenblätter in den Sorbet!“ —

      „Und doch ist eins so schön wie das andere, jedes zu seiner Zeit! — Nimm Platz, alter Junge! und da du ja orientalische Getränke kennen lernen willst und das kühle, schäumende Bier verschmähst, so schlage ich dir vor, zwischen einer ‚Helva‘ und einem ‚Gülatsch‘ zu wählen —“

      „Goulasch ... trinken?!“ entsetzte sich Marken.

      Schlüchtern lachte: „Nein, mit Paprika will ich dich bei dieser Temperatur verschonen! Gülatsch ist ein feiner Aufguss von Stärke und Rosenwasser, während Helva noch mehr Nationalgetränk darstellt, eine sehr beliebte Mischung von Maulbeersaft, Most, Sesam und Fett!“

      „Pfui Deiwel!“ hätte Mortimer beinah ganz entsetzt gesagt, aber er besann sich noch rechtzeitig, dass in Tausend und einer Nacht solche wundersamen Säftlein mit Entzücken geschlürft werden, und sagte nur eifrig: „Famos! machen wir! All so etwas muss der Mensch kosten und kennen lernen!“

      Nun sassen sie, in der Tat ziemlich einsam und ungestört, zusammen, schauten auf das bunte, wechselreiche Leben von Pera hinaus und tauschten die Erinnerungen aus bis zu der Stunde, welche sie so überraschend hier zusammengeführt hatte.

      Hans Schlüchtern weilte bereits seit einem halben Jahr in Konstantinopel, oder besser gesagt Skutari, woselbst er in einem grossen Handelshause tätig war, seine kaufmännischen Kenntnisse zu erweitern. Er erzählte, dass der Vater viel Not und Last mit dem heimatlichen Gut habe, das, seiner Meinung nach, seinem Sohn eine sichere Existenz nicht mehr gewähren konnte.

      Missernten, schlechte Leuteverhältnisse und bauliche Änderungen hätten in den letzten Jahren so viel Kosten und Aufregungen verursacht, dass der alte Oberamtmann lieber heute als morgen verkaufen möchte, was für Hans ein sehr trauriger und schmerzlicher Gedanke sei! Wenn er als Kaufmann Glück habe und die Pläne, welche er hege, verwirklichen könne, so hoffe er, so viel zu erwerben, um die geliebte alte Heimat einmal für seine Kinder erhalten zu können! — — Und er entwickelte dem sehr interessiert lauschenden Offizier die in der Tat recht grossen Chancen, welche ein Kaufmann heutzutage habe, wenn er mit etwas Kapital all die neuen, zukunftsreichen Errungenschaften des deutschen Vaterlandes ausnutzen könne!

      Dann aber unterbrach er sich, legte die Hand auf den Arm des Freundes und sagte: „Ich bin sehr weitschweifig geworden und habe dir während der ganzen langen Zeit nur von mir, meiner Vergangenheit und meinen Zukunftsträumen erzählt, — nun bist du an der Reihe, dein Tagebuch zu erzählen. Aber nicht hier! Es wird Zeit, dass wir gehen, wenn wir in aller Behaglichkeit den Galataturm ersteigen wollen. Dort rastet es sich besser als hier! Ich glaube nicht, dass du dich bald von den zauberischen Bildern, welche sich dort dem Auge bieten, trennen wirst, — also haben wir die herrlichste Gelegenheit, zwischen Himmel und Erde unseren Gedanken freien Lauf zu lassen!“

      Und sie wanderten Arm in Arm auf abschüssiger Bahn und sehr schlechtem Pflaster vorüber an dem Kloster Tekke der tanzenden Derwische und dem Hause des deutschen Klubs Teutonia nach dem grossartigen Bau des Galataturmes, welcher in massiver Rundung, mächtig und trutzig, wie ein ragendes Bollwerk, über die niedrigen, engen Häuser emporsteigt.

      Einen Augenblick stand Mortimer und starrte, sich die Stirn trocknend, an dem Riesen empor.

      Er war enttäuscht.

      Sowohl der dicke, farblose Turm, auf welchem hoch droben als einzige heitere Augenweide eine Fahne in den türkischen Farben flatterte, wie das ganze armselige Stadtviertel hatten nichts, so gar nichts von all dem an sich, was sich seine Phantasie seit langen Jahren in glühender Schönheit ausgemalt. Dies war wohl orientalische Eigenart, aber durchaus kein Zauber aus Tausend und einer Nacht! Das schmutzige Strassenpflaster wusste nichts von sich wiegenden Palmen und glutrot leuchtender Rosenpracht, hier duftete es nicht nach Narden und Weihrauch und keine seidenrauschenden Vorhänge verhüllten hinter den unsaubern engen Fenstern und Gitterchen eine Lakmeh, um derentwillen man zehn Leben freudig in die Schanze schlägt.

      Er seufzte ganz unmerklich auf und stieg resigniert die 140 Stufen im Innern des Turmes empor, welche zu einem weiten, hallenartigen Gemach führen, woselbst einige Feuerwärter sich müde und gelangweilt die Zeit vertrieben.

      Zweie liessen schleunigst ein paar Würfel in dem breiten Schalgurt verschwinden und musterten voll gleichgültiger Ruhe die Fremden, ohne eine Spur von Sympathie, aber auch ohne eine unduldsame oder unfreundliche Miene.

      Der Dritte schaute überhaupt nicht auf, sondern las andächtig in dem Koran, welcher aufgeschlagen auf seinen