Michael Müller

Politisches Storytelling


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und Sinnerzeugung steht in vielerlei Interdependenzen und Zusammenhängen, die es zu berücksichtigen gilt. Und dazu kommt natürlich, wie an der Diskussion der Relotius-Affäre deutlich wurde, auch noch eine ethische Komponente, ohne die schnell ›Fake Storys‹ oder stark manipulative Geschichten Terrain gewinnen.

      Neben diesen gängigen Begriffen von Storytelling will sich dieses Buch jedoch mit weiteren Formen des politischen Storytelling, oder besser gesagt, mit der narrativen Ebene in der Politik beschäftigen, eben weil die gängigen Begriffe zu kurz greifen. Politische Geschichten funktionieren nämlich dann gut, wenn sie Narrative benutzen, die in der Gesellschaft entweder seit langem verwurzelt oder gerade im Trend sind. Ein Beispiel: Die antiislamischen Geschichten der Rechtspopulisten finden auch deshalb viel Anklang, weil sie an das alte europäische Trauma-Narrativ ›Die Türken vor Wien‹ anspielen. Und die Grünen stehen jetzt, da ich dies im Frühjahr 2020 schreibe, auch deshalb relativ hoch in der Wählergunst, weil sie – zumindest bis zur Corona-Krise – vom Trendnarrativ ›Fridays for Future / Klimaschutz‹ profitieren. Das heißt, es kommt nicht nur darauf an, welche Geschichten man als Politiker oder als Partei erzählt, sondern vor allem auch darauf, wie resonant die eigenen Geschichten – und die anderen Inhalte, die man kommuniziert, – in der Gesellschaft sind. Und um diesen Resonanzboden oder Humus kennenzulernen, muss man Zuhören lernen. Die drei oben genannten Begriffe von ›politischem Storytelling‹ greifen nämlich auch deshalb zu kurz, weil sie nur auf das ›Telling‹ starren. Das ›Listening‹ ist die zweite, wichtigere Seite der Medaille: Wer erfolgreich mit Geschichten und Narrativen in politischen und gesellschaftlichen Kontexten arbeiten will, muss sich die Zeit nehmen, den Geschichten und Narrativen zuzuhören, die in unserer Gesellschaft von Gruppen und Indivduen erzählt werden.

      Die meisten Politiker glauben an Argumente und Fakten. Sie denken in guter aufklärerischer Tradition, dass man Menschen überzeugen kann, indem man ihnen die besseren Fakten präsentiert und auf deren Basis gut argumentiert. Das mag in Einzelfällen auch klappen, aber nicht in der Masse. Seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert haben wir uns angewöhnt, unsere Vernunft heillos zu überschätzen. Wir haben seit Adam Smith immer wieder versucht, zu glauben, dass unsere Märkte und damit unsere gesamte Ökonomie über den rationalen Austausch von Informationen funktioniert, auch wenn die Wirklichkeit Gegenbeispiele am laufenden Band liefert: von der Tulpenspekulation in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts bis zur Bankenkrise 2008, wo eher Emotionen und Affekte – Angst, Gier, Selbstüberschätzung – das Zepter führten, und nicht die Vernunft. Die Protagonisten dieser Beispiele verhielten sich eben nicht ›vernünftig‹ im klassischen Sinn, sondern agierten und agieren innerhalb bestimmter Narrative, etwa dem Narrativ vom unendlichen Wachstum, dem Narrrativ der eigenen Grandiosität (›Masters of the Universe‹), dem Narrativ der Belohnung von Leistung (Meritokratie-Mythos) etc. Auch in der Politik erreichen Argumente vielleicht einzelne Menschen – aber große Massen erreicht man mit Narrativen und Geschichten, die auf Resonanz stoßen. Übrigens liegt dahinter keine Unterscheidung nach Bildungsgraden, getreu dem Motto: Die tumbe Masse weiß es nicht besser, aber die Gebildeten erreicht man mit Argumenten. Wir Menschen sind ›Storytelling Animals‹ und wir denken in weiten Bereichen in narrativen Strukturen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass auch diejenigen, die Argumente verstehen und akzeptieren, dies im Wesentlichen tun, weil diese Argumente ein bevorzugtes Narrativ, eine Lieblingsgeschichte füttern. Wer grundsätzlich eher rückwärtsgewandten Narrativen anhängt (früher war alles besser), dem werden Argumente und Fakten, die zu belegen scheinen, dass Computernutzung Menschen dumm macht, eher einleuchten als Menschen, die einem technikoptimistischen Zukunfts-Narrativ glauben. Und Menschen, deren zentrales Narrativ ein umwelt-apokalyptisches Untergangsszenario ist, werden Fakten und Zahlen, die das Fortschreiten der Umweltzerstörung belegen, eher glauben als Argumenten, warum die Umwelt in Wahrheit gar nicht bedroht sei. Und umgekehrt. Das heißt: Mit Fakten und Argumenten erreicht man in der Regel diejenigen, die sich davon erreichen lassen wollen (oder können; denn manche Narrative sind auch Gefängnisse, in die man heillos verstrickt sein kann).

      Nichts liegt mir ferner, als anti-aufklärerisch zu argumentieren. Die Entdeckung der Vernunft im 18. Jahrhundert und der Versuch, viele Lebensbereiche (auch) rational zu verhandeln, inklusive der Entstehung der modernen Wissenschaft, ist unschätzbar. Aber wir – die westliche Kultur – waren so froh über die Entdeckung der Vernunft, dass wir sie eben maßlos überschätzten. Nicht nur, aber auch und vor allem sichtbar wird diese Überschätzung in der Politik. Als in Deutschland ab 2015 rechtspopulistische Strömungen immer stärker wurden, war die Verwunderung vieler Politiker und Journalisten über die Tatsache groß, dass Anhänger von Bewegungen wie ›Pegida‹ und Parteien wie der AFD ganz offenbar Argumenten nicht zugänglich waren: Wenn man einem Pegida-Anhänger in Dresden vorrechnete, dass in seiner Stadt nur sehr wenige islamische Ausländer lebten, dort also von einer ›Islamisierung des Abendlandes‹ keine Rede sein konnte, führte dieses Argument in der Regel zu keinerlei Einsicht; die Islamisierung komme schon noch, in anderen Teilen Deutschlands sei sie schon viel weiter etc. In einer Dokumentation der Panorama-Redaktion des ZDF kann man diese ›Vernunft-Verweigerung‹ anschaulich miterleben.3 Das ist wie in dem alten Witz: Vier Männer sitzen am Stammtisch, trinken, schweigen. Nach längerer Zeit sagt der Erste: »Was stinkt denn da so?« Schweigen. Dann sagt der Zweite: »Das sind die Hunde.« Wieder Schweigen. Der Dritte schaut unter den Tisch: »Sind gar keine da!«. Wieder Stille, worauf der Vierte sagt: »Die werden schon noch kommen!«

      Wenn man davon überzeugt ist, in einer Welt zu leben, in der Argumente und Fakten regieren, bleibt einem vieles unerklärlich. »Jetzt habe ich es schon tausend Mal erklärt, aber die kapieren es immer noch nicht!« Diesen Stoßseufzer vieler Lehrer kennen wohl auch zumindest diejenigen Politiker sehr gut, die an der Basis und ›vor Ort‹ unterwegs sind. Und sowohl die Lehrer als auch die Politiker (und auch viele Journalisten) erklären es dann noch einmal, und noch einmal, und versuchen immer wieder, mit Argumenten ihre Gegenüber von der Unvernunft ihrer Haltung zu überzeugen. ›Immer mehr vom Gleichen‹ heißt diese Strategie, die eine der erfolglosesten überhaupt ist und nur von jemandem gewählt werden kann, dessen Weltsicht keinen Ausweg erlaubt: Entweder man überzeugt rein rational oder gar nicht. Die tiefsitzende Überzeugung, dass ernstzunehmende Politik mit Vernunft und Argumenten gemacht werde, verhindert die Suche nach anderen Lösungen. Denn vielleicht könnte man es ja einmal mit einem neuen Narrativ oder mit einer Geschichte probieren?

      Doch wie oben schon angeklungen ist, hat das Erzählen einen zweifelhaften Ruf. Oder besser gesagt: zweierlei Ruf. In Literatur und Film ist »Storytelling« zurzeit eher gut angesehen, nach den großen Zweifeln zwischen den 1970er- und den 1990er-Jahren, in denen im Literaturdiskurs oft sogar ein ›Ende des Erzählens‹ ausgerufen wurde. Die meisten jüngeren Romanautoren würden sich heute ohne große Hemmungen als Erzähler bezeichnen, während andere – wie zum Beispiel Lukas Bärfuss, dessen Ausruf »Hört auf mit euren Geschichten!« Jonas Lüscher kritisch in seinen Poetikvorlesungen zitiert (LÜSCHER 2020: 18) – immer noch ein gutes Stück Skepsis gegen das Erzählen kultivieren. Im Journalismus hat der Ruf des Erzählens, der auch hier in den letzten 10 bis 20 Jahren in Blüte stand, mit dem erwähnten Relotius-Sandal im Dezember 2018 einen Dämpfer erhalten. In Marketing und PR erlebt das Storytelling einen Boom, in den sich jedoch auch kritische Stimmen mischen: Wenn alle auf Teufel komm raus ihre Geschichten erzählen, ist Storytelling dann noch geeignet, einen Unterschied im Krieg um die Aufmerksamkeit zu machen? Über diese Formen eines reinen ›Storytelling‹ hinaus werden narrative Ansätze in der Medizin, in Psychotherapie und Coaching, in der Ökonomie, in der Organisationstheorie, in der gesellschaftlichen und politischen Diskursanalyse entdeckt. Die Aufmerksamkeit für das Erzählen, die Geschichten und die Narrative und was man damit alles machen kann, ist also in den letzten Jahren stark gestiegen – mit positiven wie negativen Ausprägungen. Die positiven Annahmen zum Erzählen berufen sich, wie erwähnt, auf neuere Erkenntnisse von Hirnforschung und narrativer Psychologie, die negativen neben dem ebenfalls erwähnten Überdruss vor der Ubiquität der ›Buzzwords‹ vor allem auf den Verdacht, Geschichten seien manipulativ, bzw. mit Geschichten könne man besonders gut manipulieren. Gerade an diesem Manipulationsverdacht machen sich wohl vor allem auch die Bewertungen von ›Storytelling‹ im politischen Raum fest: Einerseits das Unbehagen, sich des Verdachts der Manipulation ausgesetzt zu sehen, andererseits jedoch auch die Einsicht in die Notwendigkeit der Manipulation – wenn man diesen