Michael Müller

Politisches Storytelling


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Leserinnen und Leser ein Vorverständnis haben, was damit gemeint sei. Vermutlich hat dies ganz gut funktioniert, vielleicht am wenigsten gut bei dem Begriff ›Narrativ‹, der am seltensten in der Alltagssprache vorkommt. Aber vielleicht haben wir auch nur gemeint, dass wir alle dasselbe darunter verstehen, und in Wirklichkeit versteht – zumindest in Nuancen – jeder von uns etwas anderes darunter. Allerdings wäre dies wohl der Normalfall bei abstrakten Begriffen.

      Hier also eine Klärung dieser Begriffe, deren genaue Bedeutung häufig im Ungefähren bleibt – auch in den Medien. Der Begriff des ›Narrativs‹ ist so ein Begriff. Nun kann eine gewisse Randunschärfe natürlich durchaus auch produktiv sein, weil durch die so entstehende Offenheit unterschiedliche Dinge darunter subsumiert werden und Diskurse in neue, bisher nicht vorgesehene Richtungen entwickelt werden können. Voraussetzung für eine kreative Randunschärfe ist allerdings eine Kernprägnanz eines Begriffs, die ein gemeinsames Basisverständnis garantiert. Um eine solche Kernprägnanz geht es mir, wenn ich hier ganz kurz und (hoffentlich) ohne langweilige technische Details die Begriffe ›Narrativität‹, ›Narrativ‹, ›Geschichte‹, ›Erzählung‹ und ›Aktanten‹ erläutere, die in diesem Buch immer wieder vorkommen (vgl. dazu auch MÜLLER 2019).

      Abb 1: Die narrative Grundstruktur

      Narrativität besitzt ein Kommunikationsakt, wenn er diejenigen Merkmale aufweist, die schon Aristoteles in seiner Poetik formuliert hat: einen Anfang, eine Mitte und ein Ende (vgl. ARISTOTELES 1982: 25). Ein wenig genauer könnte man es folgendermaßen definieren: Narrativität liegt dann vor, wenn ein Kommunikationsakt

      •ein Geschehen mit einem zeitlichen Ablauf abbildet;

      •ein Ausgangszustand, (mindestens) ein Ereignis und ein Endzustand geschildert werden und

      •das Ereignis eine Veränderung auslöst, die einen Unterschied zwischen Endzustand und Ausgangszustand herstellt.

      Die drei Sätze »Peter ist einsam und unglücklich. Peter verliebt sich in Marie. Peter und Marie sind ein glückliches Paar.« geben eine basale narrative Struktur wieder, die Satzfolge verfügt also über Narrativität. Narrative, Geschichten und Erzählungen haben gemeinsam, dass sie über Narrativität verfügen, also eine narrative Struktur haben. Mit dieser Definition, die natürlich einerseits auf Aristoteles, andererseits aber auf den amerikanischen Literaturwissenschaftler Gerald Prince (vgl. PRINCE 1973) zurückgeht, kann man narrative Äußerungen von anderen klar unterscheiden – auch wenn im Alltag oder in den Medien alles Mögliche als ›Geschichte‹ bzw. als ›Storytelling‹ bezeichnet wird: JournalistInnen sprechen von ›ihrer Story‹, auch wenn sie in Wirklichkeit ›Thema‹ meinen, häufig wird die bloße Emotionalität von Inhalten als ›Storytelling‹ bezeichnet. Oder die Verwendung von Metaphern oder – wie bei Instagram-Storys – das Abbilden eines alltäglichen Vorgangs in einem Video. All das ist kein Storytelling, kein Erzählen. Was dabei entsteht, sind keine Geschichten – auch wenn die Kommunikationsakte ansonsten noch so interessant sein mögen.

      Ein Narrativ ist eine direkt (explizit) oder indirekt (implizit) geäußerte oder von Äußerungen ableitbare narrative Struktur. Das klingt komplizierter, als es ist. Ein Beispiel, auf das ich später noch ausführlich eingehen werde, ist das Leistungs-Narrativ, das in unserer Gesellschaft und in politischen Diskursen fast allgegenwärtig ist. Viele in unserem Land sind zutiefst davon überzeugt, dass wir in einer sogenannten ›Meritokratie‹ leben, dass also Leistung, Anstrengungen und Bemühen notwendig sind und in aller Regel zu Erfolg und gesellschaftlichem Aufstieg führen. Dahinter steckt eine narrative Struktur: »X ist nicht wohlhabend / gesellschaftlich nicht anerkannt. X bringt große Leistung. X ist wohlhabend und gesellschaftlich gut situiert.« Dies ist das Leistungs-Narrativ, das durch zahlreiche Einzelgeschichten (Erfolgsgeschichten) von Individuen immer wieder erzählt und damit scheinbar bestätigt wird. Viele empirische Untersuchungen kommen dagegen zu dem Ergebnis, dass Erfolg in unserer Gesellschaft eher der Herkunft, einer dieser entsprechenden Bildung, Netzwerken oder schlicht dem Zufall zuzuschreiben ist. Leistung sei allenfalls einer der Faktoren, aber keine notwendige Prämisse für Erfolg.

      Solche Narrative definieren die Glaubenssätze und Grundüberzeugungen einer Kultur, einer Gesellschaft; sie drücken unsere Erklärungen aus, wie etwas wird, woher etwas kommt und wie Dinge zusammenhängen. Narrative sind wesentliche Muster, mit denen wir uns unsere (tatsächlichen oder vermeintlichen) Erfahrungen erklären (vgl. BRUNER 1986: 13).

      Auch der Begriff des ›Narrativs‹ ist wie der des Storytelling in den letzten Jahren etwas inflationär benutzt worden, dennoch ist er ein sinnvoller und sehr nützlicher Begriff: Es sind narrative Strukturen, die unserem Denken und den »großen Erzählungen« (LYOTARD 72012), den Sinnmustern unserer Gesellschaft, zugrunde liegen. Narrative können in einzelnen Geschichten erzählt werden – wie zum Beispiel die vielen Erfolgsgeschichten, die das Leistungs-Narrativ belegen sollen –, aber sie können auch durch einzelne Behauptungen und Parolen gewissermaßen ›getriggert‹ werden. Der alte CDU-Slogan aus der Bundestagswahl 1982 ›Leistung muss sich wieder lohnen‹ ist so eine Behauptung, die das Leistungs-Narrativ ›triggert‹. Der Slogan äußert mit dem ›wieder‹ auch noch die Behauptung, der im Leistungs-Narrativ kodierte Anspruch sei vorübergehend verloren gegangen.

      Eine Geschichte ist eine konkrete Abfolge von Begebenheiten, die einer narrativen Struktur folgt. Zum ›Unglückliche-Liebe-Narrativ‹ (»X und Y sind verliebt. Umstände verhindern, dass die beiden zusammenkommen. X und Y bleiben unglücklich oder sind am Ende gar tot.« gibt es zahlreiche Geschichten, die dieses in konkreten Abläufen realisieren. Die Geschichte von Romeo und Julia ist eine davon. Eine Geschichte erzählt also immer entlang einer narrative Struktur die konkreten Erlebnisse konkreter Figuren.

      Eine Erzählung ist die Realisierung einer Geschichte in einem konkreten Kommunikationsakt: Ich erzähle jemandem die Geschichte von Romeo und Julia, Shakespeare schreibt diese Geschichte in einer bestimmten Form auf, in einem Theater wird das Stück aufgeführt etc.

      Storytelling schließlich ist ein häufig unscharf gebrauchter Begriff, der im Grunde synonym mit ›Erzählung‹ ist. Häufig wird er aber auch für das ganze Feld des Narrativen gebraucht. Politisches Storytelling ist somit der Gebrauch narrativer Ansätze im politisch-gesellschaftlichen Bereich.

      Übertragen auf den politischen Kontext: Ein rechtspopulistisches Narrativ wäre das von der Islamisierung des Abendlandes. Eine Geschichte könnte sein, dass in einer bestimmten Kleinstadt zu einem bestimmten Zeitpunkt 200 vornehmlich aus islamischen Ländern stammende Flüchtlinge einquartiert wurden, und wie die Einheimischen darauf reagierten (im Deutschland der letzten Jahre ja meist ungnädig). Und eine konkrete Erzählung dieser Geschichte könnte man bei einem Wahlkampfauftritt eines rechtspopulistischen Politikers miterleben, der natürlich bestimmte Aspekte dieser Geschichte, die in sein ideologisches System passen, kräftig ausschmückt.

      Ein Problem im Kontext dieses Beispiels ist, dass gesellschaftliche Narrative die dahinterliegenden Denk- und Handlungsmuster durch das häufige Erzählen von entsprechenden Geschichten scheinbar immer wieder belegen und verstärken. Angenommen, in einer bestimmten Gruppe herrscht das Narrativ vor, dass die meisten männlichen Flüchtlinge gefährliche »Messermänner« (um das Unwort von Alice Weidel zu zitieren) seien, die nur darauf warten, jemanden (bevorzugt »Biodeutsche«) niederzustechen. Das Narrativ könnte dann so aussehen: »Merkel hat die Grenzen geöffnet. Dann kamen lauter gefährliche Messermänner ins Land. Jetzt ist die Gefahr für die einheimische Bevölkerung sehr groß.« Mit jeder Erzählung einer (realen oder erfundenen) Geschichte einer Gewalttat eines Flüchtlings bekommt dieses Narrativ neue Nahrung. Und ein weiteres Problem ist, dass offenbar ›Counter-Storys‹, also die Erzählung von Geschichten von positiven Integrationserlebnissen mit Geflüchteten, nicht die gewünschte Wirkung erbringen. Die Einzelgeschichten werden zwar als Belege für das ›Messermänner‹-Narrativ angeführt, aber die Menschen denken nicht wie ein empirischer Forscher: Es gibt so und so viele Belege, daher schließen wir auf ein Theorem (in diesem Fall in Form eines Narrativs). Es läuft eher umgekehrt: Die Menschen wollen an ein Narrativ glauben