Heinrich Mann

Professor Unrat


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auf die Stu­fe. Da blieb er be­bend stehn und muss­te Atem schöp­fen. Die Se­kun­da­ner hat­ten sich zu sei­ner Be­grü­ßung er­ho­ben, und äu­ßers­ter Lärm war jäh in ein Schwei­gen ver­sun­ken, das förm­lich be­täub­te. Sie sa­hen ih­rem Or­di­na­ri­us zu wie ei­nem ge­mein­ge­fähr­li­chen Vieh, das man lei­der nicht tot­schla­gen durf­te, und das au­gen­blick­lich so­gar einen pein­li­chen Vor­teil über sie ge­won­nen hat­te. Un­rats Brust ar­bei­te­te hef­tig; schließ­lich sag­te er mit sei­ner be­gra­be­nen Stim­me:

      »Es ist mir da vor­hin im­mer mal wie­der ein Wort zu­ge­ru­fen wor­den, eine Be­zeich­nung – ein Name denn also: ich bin nicht ge­willt, ihn mir bie­ten zu las­sen. Ich wer­de die­se Schmä­hung durch sol­che Men­schen, als wel­che ich Sie ken­nen­zu­ler­nen lei­der Ge­le­gen­heit hat­te, nie dul­den, mer­ken Sie sich das! Ich wer­de Sie fas­sen, wo im­mer ich es ver­mag. Ihre Ver­wor­fen­heit, von Ertz­um, nicht ge­nug da­mit, dass sie mir Ab­scheu ein­flö­ßt, soll sie an der Fes­tig­keit ei­nes Ent­schlus­ses wie Glas zer­bre­chen, den ich Ih­nen hier­mit ver­kün­de. Noch heu­te wer­de ich von Ih­rer Tat dem Herrn Di­rek­tor An­zei­ge er­stat­ten, und was in mei­ner Macht steht, soll – traun für­wahr – ge­sche­hen, da­mit die An­stalt we­nigs­tens von dem schlimms­ten Ab­schaum der mensch­li­chen Ge­sell­schaft be­freit wer­de!«

      Da­rauf riss er sich den Man­tel von den Schul­tern und zisch­te:

      »Set­zen!«

      Die Klas­se setz­te sich, nur von Ertz­um blieb stehn. Sein di­cker, gelb punk­tier­ter Kopf war jetzt so feu­er­rot wie die Bors­ten oben dar­auf. Er woll­te et­was sa­gen, setz­te mehr­mals an, gab es wie­der auf. Schließ­lich stieß er her­aus:

      »Ich bin es nicht ge­we­sen, Herr Pro­fes­sor!«

      Meh­re­re Stim­men un­ter­stütz­ten ihn, op­fer­freu­dig und so­li­da­risch:

      »Er ist es nicht ge­we­sen!«

      Un­rat stampf­te auf:

      »Stil­le! … Und Sie, von Ertz­um, mer­ken Sie sich, dass Sie nicht der ers­te Ihres Na­mens sind, den ich in sei­ner Lauf­bahn – ge­wiss nun frei­lich – be­trächt­lich auf­ge­hal­ten habe, und dass ich Ih­nen auch fer­ner Ihr Fort­kom­men, wenn nicht gar un­mög­lich ma­chen, so doch, wie sei­ner­zeit Ihrem On­kel, we­sent­lich er­schwe­ren wer­de. Sie wol­len Of­fi­zier wer­den, nicht wahr, von Ertz­um? Das woll­te Ihr On­kel auch. Weil er je­doch das Ziel der Klas­se nie er­reich­te und das Rei­fe­zeug­nis für den Ein­jäh­rig-Frei­wil­li­gen-Dienst – auf­ge­merkt nun also – ihm dau­ernd ver­sagt wer­den muss­te, kam er auf eine so­ge­nann­te Pres­se, wo er je­doch eben­falls ge­schei­tert sein mag, so­dass er end­lich nur in­fol­ge ei­nes be­son­de­ren Gna­den­ak­tes sei­nes Lan­des­herrn – doch nun im­mer­hin – den Zu­tritt zur Of­fi­ziers­kar­rie­re er­lang­te, die er dann aber, scheint es, bald wie­der un­ter­bre­chen muss­te. Wohl­an! Das Schick­sal Ihres On­kels, von Ertz­um, dürf­te auch das Ihre wer­den oder doch dem je­nes sich ähn­lich ge­stal­ten. Ich wün­sche Ih­nen Glück dazu, von Ertz­um. Mein Ur­teil über Ihre Fa­mi­lie, von Ertz­um, steht seit fünf­zehn Jah­ren fest … Und nun …«

      Hier­bei schwoll Un­rats Stim­me un­ter­ir­disch an.

      »Sie sind nicht wür­dig, an der er­ha­be­nen Jung­frau­en­ge­stalt, zu der wir jetzt über­ge­hen, Ihre geist­lo­se Fe­der zu wet­zen. Fort mit Ih­nen ins Ka­buff!«

      Von Ertz­um, lang­sam von Ver­ständ­nis, lausch­te noch im­mer. Vor an­ge­streng­ter Auf­merk­sam­keit ahm­te er un­be­wusst mit den Kie­fern die Be­we­gun­gen nach, die der Pro­fes­sor mit den sei­ni­gen voll­führ­te. Un­rats Kinn, in des­sen obe­rem Rand meh­re­re gel­be Grä­ten sta­ken, roll­te, wäh­rend er sprach, zwi­schen den höl­zer­nen Mund­fal­ten wie auf Ge­lei­sen, und sein Spei­chel spritz­te bis auf die vor­ders­te Bank. Er schrie auf:

      »Sie ha­ben die Kühn­heit, Bur­sche! … Fort, sage ich, ins Ka­buff!«

      Auf­ge­scheucht dräng­te von Ertz­um sich aus der Bank her­vor. Kie­se­lack raun­te ihm zu:

      »Mensch, wehr dich doch!«

      Loh­mann, da­hin­ter, ver­hieß un­ter­drückt:

      »Lass nur, den krie­gen wir noch wie­der kir­re.«

      Der Ver­ur­teil­te troll­te sich am Ka­the­der vor­bei, in das Ge­lass, das der Klas­se als Gar­de­ro­be diente, und worin es stock­fins­ter war. Un­rat stöhn­te vor Er­leich­te­rung, als hin­ter dem brei­ten Men­schen sich die Tür ge­schlos­sen hat­te.

      »Nun wol­len wir die Zeit nach­ho­len«, sag­te er, »die uns die­ser Bur­sche ge­stoh­len hat. Angst, hier ha­ben Sie das The­ma, schrei­ben Sie es an die Ta­fel.«

      Der Pri­mus nahm den Zet­tel vor sei­ne kurz­sich­ti­gen Au­gen und mach­te sich lang­sam ans Schrei­ben. Alle sa­hen mit Span­nung un­ter der Krei­de die Buch­sta­ben ent­stehn, von de­nen so viel ab­hing. Wenn es nun eine Sze­ne be­traf, die man zu­fäl­lig nie »prä­pa­riert« hat­te, dann hat­te man »kei­nen Dunst« und »saß drin«. Aus Aber­glau­be sag­te man, noch be­vor die Sil­ben an der Ta­fel einen Sinn an­nah­men:

      »O Gott, ich fall’ rein.«

      Schließ­lich stand dort oben zu le­sen:

       Jo­han­na: Es wa­ren drei Ge­be­te, die du tatst;

       Gib wohl acht, Dau­phin, ob ich sie dir nen­ne!

      (»Jung­frau von Or­leans«, I. Auf­zug, 10. Auf­tritt.)

      The­ma: Das drit­te Ge­bet des Dau­phins.

      Als sie dies ge­le­sen hat­ten, sa­hen alle ein­an­der an. Denn alle »sa­ßen drin«. Un­rat hat­te sie »hin­ein­ge­legt«. Er ließ sich mit ei­nem schie­fen Lä­cheln im Lehn­stuhl auf dem Ka­the­der nie­der und blät­ter­te in sei­nem No­tiz­buch.

      »Nun?« frag­te er, ohne auf­zu­sehn, als sei al­les klar, »wol­len Sie noch was wis­sen? … Also los!«

      Die meis­ten knick­ten über ih­rem Heft zu­sam­men und ta­ten, als schrie­ben sie schon. Ei­ni­ge starr­ten ent­geis­tert vor sich hin.

      »Sie ha­ben noch fünf­vier­tel Stun­den«, be­merk­te Un­rat gleich­mü­tig, wäh­rend er in­ner­lich ju­bel­te. Die­ses Auf­satz­the­ma hat­te noch kei­ner ge­fun­den von den un­be­greif­lich ge­wis­sen­lo­sen Schul­män­nern, die durch ge­druck­te Leit­fä­den es der Ban­de er­mög­lich­ten, mü­he­los und auf Esels­brücken die Ana­ly­se je­der be­lie­bi­gen Dra­men­sze­ne her­zu­stel­len.

      Man­che in der Klas­se er­in­ner­ten sich des zehn­ten Auf­tritts im ers­ten Auf­zug und kann­ten bei­läu­fig die zwei ers­ten Ge­be­te Karls. Vom drit­ten wuss­ten sie nichts mehr, es war, als hät­ten sie es nie ge­le­sen. Der Pri­mus und noch zwei oder drei, dar­un­ter Loh­mann, wa­ren so­gar si­cher, sie hät­ten es nie ge­le­sen. Der Dau­phin ließ sich ja von der Pro­phe­tin nur zwei sei­ner nächt­li­chen Bit­ten wie­der­ho­len; das ge­nüg­te ihm, um an Jo­han­nas Gott­ge­sandt­heit zu glau­ben. Das drit­te stand schlech­ter­dings nicht da. Dann stand es ge­wiss an ei­ner an­de­ren Stel­le oder er­gab sich ir­gend­wo mit­tel­bar aus dem Zu­sam­men­hang; oder es ging gar ohne wei­te­res in Er­fül­lung, ohne dass man wis­sen konn­te, hier ging et­was in Er­fül­lung? Dass es einen Punkt ge­ben konn­te, wo er nie­mals auf­ge­merkt hat­te, das gab auch der Pri­mus Angst im Stil­len