Mari Jungstedt

Näher als du denkst - Ein Schweden-Krimi


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      »Und was, wenn ich dir nicht glaube? Was, wenn ich glaube, dass du mehr hast und einfach nicht mehr blechen willst?«

      »Zum Teufel, red keinen Scheiß!«

      Henry riss die Flasche an sich und sprang gleichzeitig auf. Örjan grinste spöttisch.

      »Kannst du nicht mal einen kleinen Spaß vertragen?«

      »Ich muss jetzt los. Also, bis dann.«

      Henry ging zur Bushaltestelle, ohne sich noch einmal umzusehen. Örjans Blicke bohrten sich wie Nadelstiche in seinen Rücken.

      Bequem zurückgelehnt saß Henry im einzigen Sessel des Wohnzimmers. Auf dem Heimweg hatte er an dem auch abends geöffneten Kiosk eine Flasche Grape Tonic gekauft und daraus mit dem Fusel einen wohlschmeckenden Cocktail gemixt. Das Glas auf dem Tisch vor ihm war voll, die Eiswürfel klirrten. Er betrachtete die Glut der Zigarette im Halbdunkel und genoss das Alleinsein.

      Dass er die Wohnung nach der Zecherei des Vorabends noch immer nicht aufgeräumt hatte, war ihm egal.

      Er legte eine alte Johnny-Cash-LP auf. Die Oma von nebenan klopfte empört gegen die Wand, vermutlich, weil die Musik sie bei der gerade laufenden schwedischen Fernsehserie störte. Henry ließ sich davon nicht beirren, denn er verachtete das schwedische Spießertum einfach nur.

      Schon während seiner berufstätigen Zeit hatte er jegliche Form von Routine vermieden. Als wichtigster Fotograf der Gotlands Tidningar hatte er seine Arbeitszeit weitgehend selbst festlegen können. Und als er sich dann selbstständig gemacht hatte, war sein Leben natürlich nur noch nach seinen Vorstellungen verlaufen.

      In klaren Momenten dachte er, dass gerade diese Freiheit der Anfang vom Ende war. Sie hatte ihm die Möglichkeit zum Trinken geboten, und das hatte nach und nach Arbeit, Familienleben und Freizeit mit Beschlag belegt und war irgendwann wichtiger geworden als alles andere; seine Ehe ging in die Brüche, die Aufträge blieben aus, und der Kontakt zu seiner Tochter wurde immer sporadischer und schlief schließlich ganz ein. Am Ende hatte er weder Geld noch Arbeit gehabt. Und seine einzigen verbliebenen Freunde waren die alten Zechkumpane.

      Henry wurde durch Lärm vom Hof aus seinen Überlegungen gerissen. Seine Hand, die gerade das Glas hob, hielt unsicher in der Bewegung inne.

      War das eins von den verdammten Kindern aus der Nachbarschaft, die Fahrräder stahlen, sie anders anstrichen und dann verkauften? Sein eigenes stand draußen und war nicht abgeschlossen. Es wäre nicht das erste Mal, dass irgendwer es zu stehlen versuchte.

      Der Lärm hörte nicht auf. Henry schaute auf die Uhr. Viertel vor elf. Da draußen war jemand, das stand fest.

      Konnte natürlich auch ein Tier sein, eine Katze vielleicht.

      Er öffnete die Balkontür und schaute hinaus in die Dunkelheit. Die kleine Rasenfläche an der Hausecke leuchtete im kalten Licht der Straßenlaterne. Sein Rad lehnte wie immer an der Wand. Auf dem Gehweg verschwand zwischen den Bäumen ein Schatten. Vermutlich einfach jemand, der seinen Hund Gassi führte. Henry zog die Tür wieder zu und verriegelte sie sicherheitshalber.

      Diese Unterbrechung hatte ihm die Laune verdorben. Er schaltete die Deckenlampe ein und blickte sich angewidert in der Wohnung um. Mochte sich das Elend nicht mehr ansehen, sondern schob die Füße in die Pantoffeln und ging hinunter in die Dunkelkammer im Keller, um sich den Bildern von der Rennbahn zu widmen. Er hatte einen ganzen Film auf Ginger Star verschossen, zwei Bilder in dem Moment, als sie die Ziellinie überquerte. Den Kopf vorgeschoben, die Mähne wehend, die Nase vor allen anderen. Was für ein Gefühl!

      Der Hausbesitzer hatte ihm freundlicherweise einen alten Fahrradkeller überlassen, und den hatte Henry mit Kopiergerät, Wannen für Flüssigkeiten und einem Gestell zum Trocknen der Bilder ausgestattet. Das Kellerfenster war mit einer schwarzen Pappscheibe abgedunkelt.

      Die einzige Lichtquelle bot eine rote Lampe an der Wand. In ihrem trüben Schein konnte er problemlos arbeiten. Er hielt sich gern in der Dunkelkammer auf. Es gefiel ihm, sich hundertprozentig in Stille und Dunkelheit auf etwas zu konzentrieren. Dieses Gefühl der Ruhe hatte er sonst nur ein einziges Mal verspürt, und zwar auf seiner Hochzeitsreise nach Israel. Dort hatten Ann-Sofie und er geschnorchelt. Als sie unter der Oberfläche des stummen Meeres dahinglitten, schienen sie sich in einer anderen Dimension aufzuhalten. Ungestört, unerreichbar für den ewigen Lärm der Umwelt. Henry hatte nur das eine Mal geschnorchelt, aber dieses Erlebnis war ihm noch immer klar in Erinnerung.

      Er hatte schon eine ganze Weile gearbeitet, als leise an die Tür geklopft wurde. Instinktiv erstarrte er und horchte aufmerksam. Wer mochte das sein? Es musste doch auf Mitternacht zugehen.

      Wieder wurde geklopft, drängender und länger. Er hob das Foto, an dem er gerade arbeitete, aus der Fixierflüssigkeit und hängte es zum Trocknen auf, während die Gedanken ihm durch den Kopf wirbelten. Aufmachen oder nicht?

      Die Vernunft riet ihm ab. Der Besuch konnte ja etwas mit seinem Gewinn zu tun haben. Vielleicht hatte jemand es auf das Geld abgesehen. Natürlich hatte sich die Nachricht von seinem Glück bereits verbreitet. In dem Geräusch, das er von der anderen Seite der Tür her hörte, schien eine Gefahr zu liegen. Henrys Mund wurde trocken. Aber es konnte ja genauso gut Bengan sein.

      »Wer ist da?«, rief er.

      Die Frage blieb in der Dunkelheit hängen. Keine Antwort, nur kompakte Stille. Henry ließ sich auf den Hocker sinken, tastete nach der Schnapsflasche und trank schnell einige Schlucke. Mehrere Minuten vergingen, nichts passierte. Er saß ganz still da und wartete, ohne zu wissen, worauf.

      Plötzlich hörte er ein energisches Klopfen aus der anderen Richtung, vom Fenster her. Er fuhr dermaßen zusammen, dass ihm fast die Flasche zu Boden gefallen wäre. Blitzartig wurde er nüchtern und starrte zur Pappscheibe vor dem Fenster hoch. Wagte kaum zu atmen.

      Dann wurde erneut geklopft. Hart, laut. Als benutze die Person draußen nicht die Fingerknöchel, sondern irgendeinen Gegenstand. Decke und Wände in der Dunkelkammer schienen zu schrumpfen. Die Angst packte Henry an der Kehle. Hier saß er nun, gefangen wie eine Ratte, während draußen jemand offenbar mit ihm spielte. Ihm brach der Schweiß aus, und seine Därme verkrampften sich. Er musste dringend zur Toilette.

      Die Schläge gingen jetzt in ein rhythmisches Pochen über, ein monotones Hämmern gegen das Kellerfenster. Niemand im Haus würde Henrys Hilferufe hören. Mitten in der Nacht, an einem normalen Werktag. Würde, wer immer dort draußen stand, das Fenster einschlagen? Doch trotzdem wäre es unmöglich, in die Dunkelkammer zu gelangen, dafür war das Fenster viel zu klein. Die Tür hatte er abgeschlossen, da war Henry sich sicher.

      Schlagartig herrschte wieder Stille. Jeder Muskel in Henrys Körper war angespannt. Er horchte auf Geräusche, die es nicht gab.

      Fast eine Stunde lang harrte er in dieser verkrampften Haltung aus, dann wagte er endlich, sich zu erheben. Von der hastigen Bewegung wurde ihm schwindlig, und er geriet ins Schwanken, sah in der schwarzen Nacht blitzende weiße Sterne. Er musste nun unbedingt zur Toilette, konnte sich nicht mehr beherrschen. Seine Beine trugen ihn kaum noch.

      Als er die Tür öffnete, begriff er sofort, dass er einen Fehler gemacht hatte.

      Fanny musterte sich im Spiegel und zog den Kamm durch ihr glänzendes Haar. Ihre Augen waren dunkelbraun, ebenso wie ihre Haut. Schwedische Mutter und westindischer Vater. Mulattin, aber ohne eine Spur vom typisch afrikanischen Aussehen. Ihre Nase war klein und gerade, die Lippen schmal. Ihr rabenschwarzes Haar reichte bis zur Taille. Manchmal wurde sie für eine Inderin oder Nordafrikanerin gehalten, dann wieder wurde auf Marokko oder Algerien getippt.

      Sie kam gerade aus der Dusche und trug nur eine Unterhose und ein weites T-Shirt. Sie hatte sich mit einer harten Bürste abgeschrubbt, die sie im Kaufhaus Åhlén gekauft hatte. Solche Bürsten rauten die Haut auf und ließen sie rot werden. Ihre Mutter hatte wissen wollen, warum Fanny sie angeschafft hatte.

      »Um mich damit zu waschen. Dann wird man viel sauberer. Außerdem ist es gut für die Haut«, hatte Fanny geantwortet und erklärt, dass der Pferdegeruch sich sonst festsetze. Die Dusche