schrecklichen Wunde, und zog so fest sie konnte. Der Druckverband stoppte hoffentlich die starke Blutung so lange, bis ein Arzt eintraf.
»Ssch, alles wird gut, Dr. Baxter. Alles wird gut. Man holt einen Arzt, und bald werden Sie wieder auf den Beinen sein.« Frost redete auf Baxter ein, doch ihre Stimme versagte.
Ihr Blick fiel auf Sanderson, der mittlerweile in Handschellen und von mehreren Sicherheitsbeamten und Polizisten bewacht auf dem Boden saß. Sein Blick war hasserfüllt und folgte jeder Bewegung des erschütterten Dukes.
Dann endlich sah sie Payne. Er kam in Begleitung von zwei Beamten über die Wiese gelaufen und rieb sich die Handgelenke. »Wo zum Teufel waren Sie?«, rief Frost ihm entgegen und konnte ihre Enttäuschung und Wut darüber, dass der Pinkerton einfach verschwunden war, kaum verhehlen.
»Ich lag gefesselt hinter einem der Zelte, falls Sie es genau wissen wollen«, gab Payne zurück und starrte dabei Sanderson an. »Er hat mich überrascht. Er muss gewusst haben, dass wir seine Absichten richtig erraten hatten.«
»Aber warum?« Frost konnte sich keinen Reim darauf machen. Sanderson war zwar nicht gegen allen Verdacht erhaben gewesen, doch es hatte auch keine Hinweise darauf gegeben, dass er eine Verbindung zum Anarchisten Walker hatte, der die Waffe gestohlen hatte.
»Er ist vor vier Jahren unehrenhaft aus der Marine entlassen worden, weil er einen seiner Kameraden im Streit umgebracht hatte«, knurrte Inspektor Jones, als er neben sie trat.
»Sie haben mir alles weggenommen!«, schrie Sanderson. »Es war ein Unfall, aber niemand wollte mir glauben. Die Marine war mein Leben, und Sie haben mir alles weggenommen!« Die letzten Worte brüllte er dem Duke entgegen, der sichtlich erschüttert vor dem Podium stand.
»Und als Sie erfahren haben, dass der Duke, der Admiral der Marine, sich Lord Greysons Waffen anschauen wollte, haben Sie die Gelegenheit zur Rache gesehen«, schloss Frost bitter.
Endlich hörte sie die Sirenen der Ambulanz. Baxter hatte aufgehört zu schreien, denn er war bewusstlos geworden. Frost erhob sich und machte den herbeirennenden Ärzten Platz.
»Schafft ihn mir aus den Augen«, sagte der Duke zu den Polizisten. Ohne einen weiteren Blick auf Sanderson zu werfen, drehte er sich um und ging in Begleitung seiner Leute zurück zum Gebäude, wo sein Luftschiff ankerte.
Erschöpft strich sich Frost mit dem Handrücken über die Stirn. Payne trat neben sie und musterte sie besorgt. »Sind Sie in Ordnung, Miss Frost?«
Frost nickte und schaute zu, wie Baxter auf eine Bahre geladen wurde. Sie hoffte, dass er überlebte. »Ich könnte einen Drink vertragen.«
»Wollen wir das Buffet stürmen? Ich glaube kaum, dass die Gäste, die noch hier sind, nach dem Spektakel noch Appetit haben.« Paynes Augen funkelten schalkhaft, und Frost war ihm in diesem Moment dankbar, dass er sie nicht wie ein rohes Ei behandelte.
»Ich hätte Ihre Hilfe wirklich brauchen können.« Nur mit Mühe konnte sie das unsichere Beben in ihrer Stimme unterdrücken. Immer wieder sah sie Baxters zerfetzten Arm vor sich.
»Hätte ich geahnt, dass ich beim Pissen bewusstlos geschlagen werde, hätte ich es mir noch eine Weile verkniffen.«
Unweigerlich musste Frost lachen.
Sie schlenderten über die Wiese zu den Zelten. Helen kam ihnen entgegengerannt, und Frost musste ihr versichern, dass das Blut an ihren Kleidern und Händen nicht von ihr stammte. »Ich habe keinen Kratzer, Helen, ehrlich.«
»Was bin ich froh, Miss! Ich hörte nur den Schuss und die Schreie, und dann liefen alle durcheinander und flohen in alle Richtungen. Und ich konnte Mr. Payne nirgendwo finden. Ich befürchtete das Schlimmste!«
»Lydia!«
Frost drehte sich um, als sie die vertraute Stimme hörte. Michael rannte über die Wiese auf sie zu und nahm sie zu ihrer völligen Überraschung in die Arme.
»Michael, mir geht es gut! Ehrlich, du kannst mich wieder loslassen.« Sie lächelte, doch sie trat einen Schritt zurück und gab ihm damit zu verstehen, dass sie sich von ihm verabschieden wollte. »Richte Madame Yueh Grüße aus.«
Michael setzte seinen Hut auf und nickte. »Das werde ich. Miss Liddle, Mr. Pinkerton.« Dann ging er zurück zu seinen Leibwächtern, die in einigen Metern Entfernung geduldig auf ihren Boss warteten.
»Jetzt brauche ich wirklich einen Drink«, entfuhr es Frost. Sie marschierte auf das nächste Zelt zu. Helen kicherte, und Payne hatte den Anstand, sich eines Kommentars zu enthalten.
Doch wieder rief jemand nach ihr. Frost ächzte frustriert auf und drehte sich auf dem Absatz um. »Was denn nun schon wieder?«
Ein Sergeant kam angerannt und blieb schwer atmend vor ihnen stehen. »Sind Sie Mr. Payne und Miss Frost?«
Frost und Payne nickten. Ob sie nun ins Yard geführt wurden, um eine Aussage zum Attentat zu machen? Jones würde sie sicher nicht so einfach davonkommen lassen.
»Ich wurde gebeten, Sie sofort nach Greenwich zu bringen, man verlangt nach Ihnen. Es gab einen Bombenanschlag.«
Frosts Herz setzte einen Schlag aus. Alarmiert schaute sie zu Payne auf. Er hatte alle Farbe im Gesicht verloren. In seinen dunklen Augen stand blanke Furcht.
»Cecilia!«, wisperte er.
Ende des 2. Teils
III
Die Bibliothek des Apothekers
1.
London war in Aufruhr. Die Neuigkeiten über das Attentat auf Alfred, Duke of Edinburgh, Dritter der Thronfolge, und den gleichzeitigen Bombenanschlag in Greenwich verbreiteten sich wie ein Lauffeuer durch die Stadt. Die Menschen auf der Straße redeten sich die Münder fusselig, spekulierten über Zusammenhänge und erörterten abstruse Verschwörungstheorien. Manche behaupteten, dass es entweder die Franzosen oder die Preußen waren, dass das Attentat auf den Admiral der Marine sowie auf Greenwich, die führende Forschungsstätte des Empires, ein direkter Angriff auf Großbritannien und damit eine Kriegserklärung war. Andere waren sich sicher, dass die irischen Anarchisten dahintersteckten. Einige wollten sogar gesehen haben, wie die Kriegsminister im Buckingham Palace eingetroffen waren.
Fleet Street war in heller Aufregung. Die Druckerpressen für Extraausgaben der Londoner Zeitungen liefen heiß, Reporter schrieben sich die Finger wund, und die Zeitungsjungen, die an jeder Ecke der Stadt standen, brauchten nicht einmal die Stimme zu erheben. Die Menschen rissen ihnen die Zeitungen praktisch aus den Händen. Es waren kaum zwei Stunden vergangen, da wusste bereits die ganze Stadt, was passiert war – oder angeblich passiert.
Jackson Payne und Lydia Frost bekamen von all dem nichts mit. Sie fuhren mit einem schnellen Polizeiboot die Themse hinunter nach Greenwich. Kurz nach dem erfolglosen Attentat auf den Duke of Edinburgh hatte man sie über den Anschlag in Greenwich informiert und sie gebeten, dorthin zu kommen.
Payne war die ganze Fahrt über sehr schweigsam. Er machte sich große Sorgen um Cecilia, seine Frau. Sie arbeitete als Wissenschaftlerin im Observatorium von Greenwich. Auch wenn heute Samstag war, wusste er, dass sie dort war. Cecilia war beinahe schon besessen von ihrer Arbeit, doch erst seit dem mysteriösen Verschwinden ihrer Tochter Annabella vor ein paar Monaten war sie permanent in der Sternwarte. Payne war sich bewusst, dass ihre Ehe seither schwierig war, vor allem angesichts der Tatsache, dass er seine Familie vorher zwei Jahre lang nicht gesehen hatte – doch das wischte fast zehn gemeinsame Jahre nicht einfach so weg.
Er brauchte frische Luft. Payne verließ die enge Kabine und trat hinaus in den eisigen Wind. Mit dem Rücken zur Fahrtrichtung versuchte er, eine Zigarette zu drehen. Als ihm beim dritten Anlauf abermals der ganze Tabak davonflog, gab er es seufzend auf und hangelte sich nach vorne zum Bug. Das Schiff kreuzte gerade die Heckwellen eines Dampfers und hüpfte auf und ab.
Frost stand am Bug und