Luzia Pfyl

Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel


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Güte …«, murmelte sie und rubbelte sich mehrmals mit den Händen über das Gesicht, um die Durchblutung anzuregen. Vielleicht würde sie so weniger wie ein Zombie aussehen. Sie brauchte ein langes heißes Bad und danach einen sehr starken Kaffee.

      Das Bad tat gut und weckte Frosts Lebensgeister wenigstens so weit, dass sie sich nicht mehr ganz so zerdrückt fühlte. Sie zog sich frische Kleidung an und ging hinunter in ihr Büro. Eigentlich war es ein ehemaliges Ladengeschäft, inklusive Küche und Waschraum zum Hinterhof hinaus. Dazu gehörte die winzige Wohnung im Obergeschoss. Frost hatte in den vergangenen Monaten alles Mobiliar des Vorbesitzers entfernen lassen. Nichts erinnerte mehr an die Schneiderei, die hier gewesen war. Stattdessen hatte sie die kleine Wohnung und das Büro nach ihrem Geschmack eingerichtet. Vor allem das grünbezogene Sofa im Wohnzimmer oben liebte sie. Ein Wandschirm aus Bambus und bemaltem Papier trennte ihren Schlafbereich vom Rest des Wohnzimmers ab und sorgte für Privatsphäre. Über dem Kamin hing, wie in so ziemlich jedem Wohnzimmer des Empires, ein Portrait von Königin Victoria, die Wandtapete war dezent gemustert. In einem chinesischen Kabinett, welches eingeklemmt zwischen Kamin und Ecke stand, befanden sich eine Musikbox sowie Frosts Sammlung an Whiskys.

      Ihren Schreibtisch aus massiver Eiche hatte sie unten im Laden etwas versetzt zum Schaufenster gestellt. Zwei Stühle für die Klienten standen davor. Hinter dem Schreibtisch und an der linken Wand fortführend befanden sich deckenhohe Bücherregale, ein Teppich sorgte für etwas Gemütlichkeit. An einer Wand hing auch hier ein Portrait von Königin Victoria. Frost hatte ansonsten nur spärlich dekoriert. Ein paar chinesische Tuscheskizzen hier, eine Blumenvase dort.

      Nur das Schaufenster war noch leer. Vielleicht lag es am fehlenden Schriftzug auf der Scheibe, dass Klienten ausblieben. Sie brauchte dringend einen Namen für ihre Agentur.

      »Guten Morgen, Helen«, rief Frost, als sie Geräusche aus der Küche hörte.

      »Wohl eher guten Mittag, Miss Frost«, antwortete Helen. Die junge Frau mit den erdbeerblonden Haaren stand lächelnd in der Tür und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. Helen war Frosts Hausmädchen, frisch und voller Elan. Sie erledigte die Hausarbeiten mit einem Enthusiasmus, für den Frost sie immer wieder bewunderte. Ohne Helen würden das Büro und die Wohnung innerhalb weniger Tage in vollkommenem Chaos versinken. »Die Zeitung und die Post liegen auf Ihrem Schreibtisch. Ich habe eben frischen Kaffee und ein paar Sandwiches gemacht. Ich dachte mir, Sie werden hungrig sein, wenn sie aufwachen.«

      Frost hätte Helen küssen mögen. »Was würde ich nur ohne dich machen?« Sie nahm eine Tasse dampfenden Kaffees entgegen – schwarz und ohne alles, so, wie sie es mochte – und ging zu ihrem Schreibtisch hinüber. Mit einem wohligen Seufzer ließ sie sich in den Sessel dahinter fallen und griff nach der Times.

      »Ach ja, Mr. Cho war hier«, sagte Helen, als sie kurz darauf mit einem Teller vollbeladen mit den versprochenen Sandwiches aus der Küche kam und ihn neben die Kaffeetasse auf den Tisch stellte.

      »Michael?«, fragte Frost verwundert und griff nach einem der Sandwiches. Helen machte die besten der Stadt, da würde sie jede Wette eingehen.

      Helen nickte. »Ich habe angeboten, Sie zu wecken, Miss, aber Mr. Cho hielt es für besser, Sie schlafen zu lassen. Er wollte warten, also habe ich weiter geputzt. Aber als ich das nächste Mal ins Büro schaute, war er bereits gegangen.«

      »Hat er gesagt, was er wollte?«

      »Nein, Miss.« Sie schüttelte den Kopf. »Noch mehr Kaffee?«

      Frost reichte ihr dankend die bereits leere Tasse und vertiefte sich wieder in die Zeitung. Die Titelseite war voll mit Bildern vom gestrigen Neujahrsfest. Aber sie war nicht bei der Sache und schweifte gedanklich immer wieder ab.

      Was hatte Michael so früh von ihr gewollt? Frost konnte sich kaum daran erinnern, wie sie nach Hause gekommen, geschweige denn, welche Uhrzeit es gewesen war. Aber Michael hatte noch nie viel Schlaf gebraucht. Schon als sie noch Kinder gewesen waren, war er selten erst nach Sonnenaufgang auf den Beinen gewesen. Im Gegensatz zu Frost, die man des Öfteren hatte zwingen müssen, das warme Bett überhaupt zu verlassen.

      Helen kam mit dem Kaffee zurück. »Ich mache als Nächstes oben weiter, Miss Frost. Brauchen Sie noch etwas?«

      Frost schüttelte den Kopf und bedankte sich bei ihr. Sie konnte sich glücklich schätzen, in Helen eine so gute und obendrein liebenswürdige Haushälterin gefunden zu haben. Frost legte die Zeitung beiseite und sah die Post durch.

      »Rechnung. Rechnung. Werbung. Rechnung …« Sie seufzte und warf die Briefe auf den Tisch. Im Kopf überschlug sie die Zahlen. Wenn sie alle Forderungen beglich (sie erinnerte sich vage an zwei weitere Briefe von ihrem Schneider, der sie ermahnte, endlich ihre bei ihm offenen Beträge zu bezahlen), dann hatte sie kein Geld mehr für die Miete. Helens Lohn stand diese Woche ebenfalls an, und etwas essen musste sie auch.

      »Das neue Jahr fängt ja gut an«, brummte sie und biss herzhaft in das Lachsbrötchen. Nur machte, außer den chinesischen Einwohnern, niemand in dieser Stadt eine Woche Urlaub über das chinesische Neujahr hinweg. Sie konnte es sich nicht leisten, die Bezahlung der offenen Rechnungen weiter zu verschieben. Im Tresor hinter ihr im Bücherregal herrschte jedoch gähnende Leere. Sie brauchte dringend Arbeit.

      Kauend zog Frost ihr Notizbuch heran und blätterte darin bis zum letzten Eintrag. Den jüngsten Fall hatte sie vor zwei Wochen abgeschlossen. Die verlegte Brosche zu finden, war vergleichsweise einfach gewesen. Seither hatte kein neuer Klient ihre Dienste in Anspruch nehmen wollen. Sie hatte gehofft, dass Mrs. Dunnborow sie an ihre Freundinnen empfehlen würde.

      Sie brauchte Geld. Schnell. Vielleicht konnte sie den Schneider weiter vertrösten – allerdings, da war sie sich sicher, würde sie sich wohl oder übel bald einen neuen suchen müssen. Oder er hetzte ihr die Schuldeneintreiber auf den Hals.

      »Alles in Ordnung, Miss?«

      Frost zuckte leicht zusammen und schaute auf. Sie hatte nicht gehört, wie Helen eingetreten war. »Du kennst nicht zufälligerweise ein paar reiche Leute, die etwas verloren haben?« Verzweifelte Zeiten verlangten nach verzweifelten Mitteln.

      Helen schüttelte amüsiert den Kopf. »Nein, Miss, leider nicht. Aber vielleicht kennt Mr. Cho welche.« Sie deutete zum Schaufenster hinaus auf die verschneite Straße.

      Frost beugte sich nach rechts aus dem Sessel, um auf die Straße sehen zu können. Tatsächlich, da kam Michael, dick eingepackt in einen dunklen Mantel und den Hut tief in die Stirn gezogen, auf ihren Laden zu. Unter dem Arm trug er ein in loses Zeitungspapier gewickeltes Paket. Frost warf Helen ein vielsagendes Lächeln zu, worauf diese einen Knicks andeutete und wieder hinauf in die Wohnung ging.

      Das Glöckchen über der Tür klingelte, als Michael eintrat. Er brachte einen Schwall eisige Luft und ein paar Schneeflocken mit herein. Seit gestern Nacht schneite es ununterbrochen. Bald schon würde London unter einer dicken Schneedecke begraben liegen.

      »Bringst du mir mein Neujahrsgeschenk?«, fragte Frost forsch und lehnte sich im Sessel zurück.

      Michael hielt inne und schaute dann auf das Paket unter seinem Arm. »Ach, das, nein, das ist… etwas anderes«, wich er aus. Frost hakte nicht nach, auch wenn sie wusste, dass er etwas verbarg. »Ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf.« Ein breites Grinsen zierte sein schönes Gesicht.

      »Bist du nur hergekommen, um dich über mich lustig zu machen?« Sie legte den Kopf schief und musterte ihren Kindheitsfreund. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und wirkte angespannt. Der Schlafmangel und exzessive Alkoholkonsum von letzter Nacht machten sich also auch bei ihm bemerkbar.

      Michael nahm den Hut ab und setzte sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Das Paket legte er sich auf den Schoss und hielt es fest, als dürfte er es nicht aus den Augen lassen.

      »Nein«, beantwortete er ihre Frage und zog mit der freien Hand einen Umschlag aus dem Mantel. »Ich habe einen Auftrag für dich.«

      Frost wurde hellhörig und neigte sich vor. Sie nahm den Umschlag entgegen – keine Adresse, kein Siegel. Falsch, auf der Vorderseite befand sich in der linken