Luzia Pfyl

Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel


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sie und strich sich die feuchten Haare aus dem Gesicht. Es war ihr seit sehr langer Zeit nicht mehr passiert, dass sie vergessen hatte, ihr Herz aufzuziehen. Solch ein dummer Fehler durfte ihr nicht mehr unterlaufen.

      Nach ein paar Minuten fühlte sie sich kräftig genug, um sich fertig anzuziehen. Als sie sich im Spiegel betrachtete, um ihre Haare neu zu stecken, sah sie, dass der Anfall nicht ganz spurlos an ihr vorbeigegangen war. Ihre Haut war bleich und ein wenig wächsern, ihre Augen waren rot umrandet. Ihre Hände bebten immer noch, und sie fühlte sich, als hätte sie eben einen Marathon absolviert und wäre anschließend von einer Dampfwalze überrollt worden.

      Unten auf der Straße schlug sie den Kragen ihres Mantels hoch und steckte die Hände tief in die Taschen. Es hatte wieder angefangen zu schneien. Ihre weiten Wollhosen waren nach wenigen Metern am Saum vollgesogen mit eiskaltem Schnee. Als Frost um die Ecke bog, hörte sie auch schon das Bimmeln der Straßenbahn. Sie musste rennen, um das Tram zu erwischen, was sie wegen des Anfalls mehr anstrengte, als ihr lieb war.

      Im West End wechselte sie zwischen hell erleuchteten Theatern und Restaurants die Linie. In Belgravia war es stiller. Es war kurz vor zehn Uhr abends, und die meisten Bewohner waren entweder im West End, in ihren Clubs oder bereits zuhause. Niemand war auf der Straße zu sehen. Frost stampfte durch den Schnee, der unter ihren Stiefeln leicht knirschte. Vor dem Haus mit der Nummer zehn blieb sie stehen und schaute zu den dunklen Fenstern hinauf. Ihr Atem bildete neblige Wölkchen.

      Der Butler war bestimmt noch auf und wartete auf die Rückkehr seines Herrn. Er würde sich in der Küche aufhalten, Tee trinken und Zeitung lesen. Die Hintertür fiel demnach aus. Also die Vordertür.

      Mit raschen Schritten überquerte Frost die Straße und stieg die Treppe hinauf. Sie warf einen Blick auf die Taschenuhr. Fünf Minuten, länger durfte sie sich nicht im Haus aufhalten.

      Als sie den Handschuh auszog, war sie vollkommen konzentriert. Kaum hatte sie die Handfläche auf das Schloss gelegt, spürte sie das warme Kribbeln, das durch ihre Hand schoss, sie konnte regelrecht sehen, wie sich die filigranen Einzelteile des Schlosses bewegten, bis ein leises Klicken ertönte. Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

      Frost zog den Handschuh wieder an und drückte die schwere Eichentür auf. So leise sie konnte, schloss sie die Tür hinter sich und blieb lauschend im Foyer stehen. Nur das Aetherlicht der Straßenlaternen fiel durch die hohen Fenster, und rechts von ihr flackerte der orange Schimmer eines Feuers. Es roch nach Holzpolitur und nasser Wolle. Irgendwo zu ihrer Rechten tickte eine Pendeluhr, vermutlich im Salon, dessen Flügeltür weit offenstand.

      Fünf Minuten, ermahnte sie sich und spähte in den Salon. Das Feuer im Kamin war beinahe ganz heruntergebrannt und bestand fast nur noch aus glühenden Kohlen. Vermutlich würde der Butler oder eines der Hausmädchen es frisch in Gang bringen, sobald der Hausherr zurück war. Der Salon war völlig uninteressant, also wandte Frost sich der geschwungenen Treppe zu, die in die oberen Stockwerke führte.

      Ein dicker Teppich schluckte ihre Schritte. Frost ging an einer Reihe verschlossener Türen entlang. Hinter welcher lag die Bibliothek? Und hinter welcher Mr. Binghams Arbeitszimmer? Vielleicht hätte sie sich doch noch in der Stadtverwaltung eine Kopie der Blaupause des Hauses holen sollen, auch wenn sie dafür Bestechungsgeld hätte bezahlen müssen; Geld, dass sie momentan nicht hatte.

      Wahllos öffnete sie eine der Türen und spähte hinein. Ein Schlafzimmer, feminin eingerichtet, aber das Bett war leer. Es roch nach abgestandener Luft, Staub kitzelte in Frosts Nase. Entweder war Bingham Witwer, oder dieses Zimmer hatte seiner Tochter gehört, die nun verheiratet war. Jedenfalls hatte schon lange niemand mehr in diesem Bett geschlafen.

      Bei der zweiten Tür hatte Frost mehr Glück. Es war das Arbeitszimmer. Hastig, aber so leise wie möglich schloss sie die Tür hinter sich und machte sich an die Arbeit. Die Aetherlampe auf dem massiven Schreibtisch drehte sie gerade so viel auf, dass sie besser sehen konnte. In rascher Abfolge öffnete und schloss sie Schubladen, Kabinette und Aktenschränke, doch nichts weckte ihr Interesse.

      Frost schnaubte und stemmte die Fäuste in die Taille. Nichts, hier fand sie rein gar nichts. Dann fiel ihr Blick auf das großformatige Portrait von Königin Victoria, das hinter dem Schreibtisch an der Wand hing. Vorsichtig linste sie dahinter und hätte beinahe einen freudigen Ausruf gemacht. Hinter dem Bild war ein Tresor verborgen.

      Drei Minuten.

      Frost nahm das schwere Bild von der Wand und lehnte es vorsichtig gegen den Schreibtisch. Wieder zog sie den rechten Handschuh aus und legte die Handfläche auf die kalte Stahlplatte. Das komplizierte Zahlenschloss antwortete ihr beinahe sofort, und sie spürte, wie die Teilchen und Zahnräder sich in Bewegung setzten. Die runde Zahlenkonsole neben ihrer Hand drehte sich nach rechts, klick, nach links, klick, bis das Schloss arretierte. Frost entfernte die Hand und zog am Griff.

      Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Verdammt«, murmelte sie und wühlte durch die wenigen Papiere, die sich im Tresor befanden. Ein Bündel Briefe, Aktien, eine Geburtsurkunde. Nichts. Frustriert schloss sie den Tresor ab und hängte Ihre Majestät wieder an ihren Platz.

      Zwei Türen weiter befand sich die Bibliothek. Bewundernd ließ Frost ihre Finger über die alten Buchrücken gleiten. Aristoteles, Homer, Kopernikus, Voltaire. Sie liebte Bibliotheken. Der Geruch von Büchern und die wohlige Stille weckten ihn ihr jedes Mal ein Gefühl von Nachhausekommen.

      Aber für Sentimentalitäten hatte sie keine Zeit. Vor einem der hohen Fenster befand sich eine gläserne Vitrine. »Na bitte, geht doch.«

      Der Foliant lag geschlossen auf einer Stütze aus Holz. Die geschwungenen Linien des tibetischen Skripts leuchteten in Schwarz und Rot, selbst bei dem spärlichen Licht, das durch das Fenster fiel. Auch ohne das Lichtbild, das Michael ihr als Referenz gegeben hatte, zu konsultieren, war sie sich sicher, dass sie das richtige Buch vor sich hatte.

      Ohne Zeit zu verschwenden, öffnete sie die Vitrine, wickelte den Folianten zum Schutz in das mitgebrachte Tuch und legte ihn in ihre Umhängetasche. Irgendwo im Haus schlug eine Tür zu, und Schritte gingen über den Marmorboden des Foyers.

      Eine Minute.

      Frost schloss leise die Tür der Bibliothek hinter sich und eilte geduckt an der Galerie entlang zurück zur Treppe. Das Foyer war dunkel, doch im Salon brannte Licht. Sie hörte undeutliche Stimmen. Bingham war zurück, der Butler war bei ihm. Verdammt, das war früher, als sie gedacht hatte.

      So schnell und so leise sie konnte – warum mussten Kleider immer so rascheln, wenn sie nicht raschen sollten? – schlich sie die Treppe hinab. Den Blick starr auf den weit geöffneten Durchgang zum Salon gerichtet, eilte sie durch das Foyer auf die Eingangstür zu. Der Butler stand mit dem Rücken zu ihr vor dem Kamin und sprach mit Bingham, der offensichtlich im Ohrensessel saß.

      Auf einmal spürte sie einen sperrigen Gegenstand gegen ihre Schulter stoßen. Beinahe wäre sie gestolpert. Etwas Längliches fiel um und zerschellte auf dem Boden. Der Lärm durchbrach die Stille wie eine Explosion. Frost gefror das Blut in den Adern, eiskalter Schweiß brach auf ihrer Stirn aus. Woher war diese verdammte Stehlampe gekommen?

      »Was war das? Mr. Archer, schauen Sie bitte nach.«

      »Ich glaube, das war eine der Lampen im Foyer, Sir.«

      Mist, Mist, Mist. Frost tappte durch die Scherben, die bei jedem ihrer Schritte laut unter den Sohlen knirschten, und rannte den Flur hinab.

      »Jemand ist im Haus, Sir«, hörte sie den Butler rufen. Gleich darauf eilten schwere Schritte über die Galerie. Türen flogen auf und wieder zu.

      »Das Buch ist verschwunden!« Das war Mr. Bingham.

      Frost hielt sich nicht länger auf und rannte durch die kleiner werdenden Räumlichkeiten der Dienerschaft. Beinahe wäre sie in der Dunkelheit über Stufen gefallen, die in die Küche führten. Da war die Hintertür. Hinter ihr kamen Schritte den Flur entlanggerannt.

      All ihre Sinne arbeiteten auf Hochleistung, als sie die Hand auf das Türschloss legte. Doch nichts passierte, kein warmes Kribbeln stellte sich ein.