Luzia Pfyl

Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel


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der Tür zum Zimmer blieb er zögernd stehen. Ob Frost sich schon fertig umgezogen hatte? Für einen kurzen Moment zuckte das Bild ihres nackten Rückens und ihrer offenen Haare vor seinem inneren Auge. Er schüttelte den Kopf und verbannte es sofort. Solche Gedanken durfte er nicht haben.

      Er klopfte an und trat ein, als Frost rief. Sie saß in einem der Ohrensessel vor dem winzigen Kaminfeuer, die Beine unter dem Gesäß. Das helle Nachthemd schaute am Kragen des Hausmantels hervor, den sie lose umgelegt hatte. Auf ihrem Schoß lag ein aufgeschlagenes Buch, in der Hand hielt sie ein Glas mit dem bernsteinfarbenen Whisky darin.

      »Hallo, Payne«, sagte sie und klappte das Buch zu. Dann runzelte sie die Stirn und legte den Kopf leicht schief. »Zwei Dinge. Zum einen starren Sie mich an, zum anderen sehen Sie aus, als könnten Sie wirklich einen Schlummertrunk gebrauchen.«

      »Wir haben ein Problem«, sagte er und ließ sich in den Sessel ihr gegenüber fallen. Frost beugte sich zum Beistelltisch neben ihrem Sessel und schenkte ihm einen Drink ein.

      »Ich weiß, die Unterkunft ist alles andere als angemessen. Glauben Sie mir, auch mir ist das sehr unangenehm.«

      Payne schüttelte den Kopf und hob die Hand, bevor sie weiterreden konnte. Das war nicht das Problem, das er meinte. »Wir haben Gesellschaft.«

      »Gesellschaft? Inwiefern?«

      Payne leerte das Glas in einem Zug und verzog das Gesicht, als der Whisky in seinem Hals brannte. »Inspektor Flannagan steht unten vor dem Hotel. Ich habe mich eben mit ihm unterhalten. Er ist der festen Überzeugung, dass wir wegen etwas schuldig sind, er muss es nur noch beweisen können.«

      »Verdammt.« Frost schwang sich aus dem Sessel und stellte sich seitlich ans Fenster. Dann schob sie den Vorhang ein paar Zentimeter beiseite. »Verflixt, der Kerl steht tatsächlich da unten.«

      »Ich habe ihm gesagt, dass wir vor morgen früh nichts mehr unternehmen werden.«

      Frost seufzte und kehrte in ihren Sessel zurück. »Ich hasse solche Kletten. Da wird man doch paranoid.« Nachdenklich schwenkte sie das Glas und schaute Payne lange an. Payne brauchte einen zweiten Whisky.

      »Zum Glück suchen wir diesmal nur ein paar Bücher«, nahm sie das Gespräch wieder auf. »Das wird er uns kaum als Verbrechen anlasten können. Solange wir keine Leichen mehr hinterlassen, sollten wir keine Probleme haben.«

      »Solange Sie nicht beim mirakulösen Einbrechen erwischt werden.«

      »Stimmt, da sollten wir ebenfalls vorsichtig sein. Aber was der gute Inspektor nicht weiß, ist, dass ich die Beste in diesem Fach bin.« Frost grinste schelmisch und leerte ihr Glas.

      Inspektor Flannagans Beharrlichkeit machte ihnen zwar keinen Strich durch die Rechnung, doch es verkomplizierte ihre Arbeit. Frost hatte wenig geschlafen, vor allem wegen Paynes Geschnarche – dieser verdammte Pinkerton –, und erwachte noch vor dem Morgengrauen mit hämmernden Kopfschmerzen. Sie machte die Nachttischlampe an und stand auf. Wo hatte sie gestern Abend die Briefchen mit Schmerzpulver hingelegt?

      Ein unartikuliertes Gemurmel Paynes ließ sie herumfahren, doch er hatte sich nur umgedreht und schlummerte munter weiter. Seine dunklen Haare waren völlig zerwühlt, ein Bein hing über die Matratze hinaus. Frosts Mundwinkel zuckten. Der Pinkerton sah beinahe niedlich aus.

      Wenn er nicht so schnarchen würde.

      Frost rieb sich die Nasenwurzel und schlurfte ins Badezimmer. Sie entledigte sich des Nachthemds und band ihre Haare zu einem losen Knoten. Der silberne Schlüssel baumelte an der Kette zwischen ihren Brüsten. Es war Zeit, ihr Herz wieder aufzuziehen. Heute würde vermutlich ein langer Tag werden, und sie wollte nicht riskieren, mitten auf der Straße zusammenzubrechen.

      Madame Yuehs Ärzte hatten viele Jahre lang versucht herauszufinden, wie ihr mechanisches Herz genau funktionierte und warum sie überhaupt noch am Leben war. Es war offensichtlich, dass sie nicht damit geboren worden war. Laut den Ärzten grenzte es an ein Wunder, dass Frost einen derartigen Eingriff überlebt und keinen Schaden davongetragen hatte. Sie hatte die Bewunderung aus den Worten der Ärzte herausgehört. Und sie hatte Gespräche belauscht. Die Ärzte hatten sie, das Straßenmädchen ohne Gedächtnis, für weitere Untersuchungen und Experimente mitnehmen wollen. Sie hatten sie zum Wohle der Wissenschaft und des Fortschritts zu einer Laborratte machen wollen. Doch Madame Yueh hatte sich geweigert, Frost wegzugeben, wofür Frost ihr auf ewig dankbar sein würde.

      Die Ahnung, dass mehr hinter den toten Jugendlichen mit den mechanischen Körperteilen steckte, als sie momentan vermuten konnten, kroch wieder in ihr hoch. Frost war sich sicher, dass der Schlüssel zu ihrer eigenen Vergangenheit bei diesen Kindern lag. Payne hatte recht. Sie mussten herausfinden, wer dafür verantwortlich war.

      Doch die Suche nach der Bibliothek ging momentan vor. Je schneller sie diesen Auftrag abschließen konnten, desto schneller waren sie zurück in London.

      Eine Stunde später saß Frost Payne gegenüber am Tisch und beugte sich über den Stadtplan, der mit dem Frühstück auf ihr Zimmer geliefert worden war. Neben ihr lag das Buch des Alchemisten.

      »Jonah hat versucht, alle weiteren Hinweise, die im Buch versteckt sind, für uns herauszuschreiben«, sagte sie und schaute auf. »Payne, hören Sie mir zu?«

      »Mhhm«, kam es von Payne, der sich soeben den wohl fünften Toast in den Mund gestopft hatte. Schwer kauend nickte er, worauf Frost seufzte.

      »Okay, also: Der erste Hinweis soll sich in der alten Stadtmauer befinden, und zwar in einem der Türme in der Nähe des Münsters.« Sie fuhr mit dem Finger der Stadtmauer hinter dem Yorker Münster entlang. »Am besten brechen wir gleich auf. Wenn wir Glück haben, lungert der Inspektor noch nicht hier rum.«

      Doch als sie wenig später das Foyer betraten, sahen sie die mittlerweile vertraute Gestalt des Londoner Polizisten vor dem Hotel. Er saß vor dem Restaurant gegenüber und las die lokale Zeitung. Frost und Payne hatten sich abgesprochen und würden bei der Wikingerstory bleiben. Und vor allem frontal angreifen.

      »Guten Morgen, Inspektor«, grüßte Frost und winkte Inspektor Flannagan fröhlich zu, als sie an ihm vorbeigingen. »Herrliches Wetter, nicht? Perfekt für ein paar Ritterspiele und Wikingerabenteuer. Sehen Sie sich nachher auch das Schauspiel vor dem Museum an?«

      Flannagan knurrte in seinen Bart und blätterte geräuschvoll die Zeitung um.

      York war bereits auf den Beinen. Das Wikingerfestival lockte jedes Jahr Tausende von Touristen an, und die Altstadt innerhalb der römischen Stadtmauer schien aus allen Nähten zu platzen. Überall liefen kostümierte Menschen herum. Männer mit furchteinflößenden Helmen und klirrenden Kettenhemden, Frauen trugen wallende Gewänder oder waren als Walküren verkleidet. Kreischende und lachende Kinder rannten zwischen den Erwachsenen umher, bekämpften sich mit Holzschwertern und proklamierten, sie seien Ivar der Knochenlose, Eroberer von Northumbria.

      Frost kam sich zwischenzeitlich etwas fehl am Platze vor, denn mit wollenen Pluderhosen, derben Stiefeln, Korsett, Bluse, Mantel, Schal und Hut gehörte sie eindeutig in die moderne Zeit. Doch die ausgelassene Stimmung steckte sie an.

      »Wo befinden wir uns?«, hörte sie Payne fragen.

      Sie holte die Stadtkarte aus ihrer Umhängetasche und schlug sie im Gehen auf. »Wir müssten gleich beim Münster sein. Sehen Sie, da vorne, das ist die römische Säule.«

      Sie erreichten den Platz vor dem Münster. Marktstände säumten die Häuserreihen. Auf einer Bühne auf der Wiese daneben spielte eine Gruppe Musiker nordische Lieder.

      Payne ging zur Säule und blieb davor stehen. Eine Plakette auf Augenhöhe besagte, dass sie einmal Teil des römischen Forts war und in einer großen Halle stand. Payne streckte die Hand aus und berührte den alten Stein.

      Frost hob die Augenbrauen. »Was machen Sie da?«

      »Ich berühre Geschichte.«

      »Das