war ein Reflex. Er war bewusstlos und konnte es nicht steuern. Deshalb musste sie aufpassen, dass er nicht zu viel von ihr nahm und sie dadurch tötete. Sie spürte bereits, wie ihre Kräfte schwanden.
Als sich ein leichtes Schwindelgefühl in ihrem Kopf einstellte und es hinter ihren Schläfen zu pochen begann, trennte sie behutsam die energetische Verbindung.
Es überraschte sie, wie bereitwillig der Junge sie losließ. Die meisten, denen sie Lebensenergie schenkte, klammerten und wollten mehr. Der Kleine dagegen ließ sie sofort gehen und zog sich wieder in seine Höhle zurück.
Sue öffnete die Augen.
Hauchfeiner Silbernebel umspielte ihre Hände, die noch immer auf Stirn und Brust des Jungen lagen. Als sie sie fortzog, verweilten die zarten Schwaden über seiner Haut, bis sie sich langsam verflüchtigten.
»Ungewöhnlich«, murmelte Phil, der die beiden keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte. »Warum hat er nicht versucht, den Rest deiner Energie auch noch aufzusaugen?«
»Ich glaube, er hat gelernt, sich mit dem zu begnügen, was er bekommt, und nicht zu wagen, mehr zu erwarten.«
Liebevoll strich Sue dem Kleinen über das verfilzte Haar und stand dann auf, um ihrem Mann Platz zu machen. Ihr war kalt und sie fühlte sich zittrig. Kopfschmerzen pochten hinter ihren Schläfen und sie schwankte leicht, weil ihr schwindelig war und ihre Beine sich wie Pudding anfühlten.
Phil half ihr zu einem der Sessel beim Kamin. »Ruh dich aus.« Er küsste ihre Stirn, legte eine Wolldecke um sie und reichte ihr ein Glas Wasser.
Dankbar trank sie einen Schluck und deutete zu dem Kleinen. »Ich konnte keine schlimmen Schmerzen bei ihm spüren. Er hat also keine inneren Verletzungen oder Knochenbrüche. Er ist aber schrecklich geschwächt und ausgehungert. Und völlig verängstigt. Er muss Todesängste ausgestanden haben, bevor er das Bewusstsein verloren hat.«
Phil setzte sich zu dem Jungen, holte das Stethoskop aus seiner Arzttasche und überprüfte Herzschlag und Atmung seines kleinen Patienten. Beides war regelmäßig und kräftiger als zuvor, doch die Lungen hörten sich nicht gut an. Er zog eine Stiftlampe hervor und leuchtete dem Kleinen in die Augen. Die Pupillen reagierten sofort und zogen sich zusammen. Das war ein gutes Zeichen.
»Erzähl uns, was passiert ist und wo du ihn gefunden hast«, bat Phil Thad, während er die Körpertemperatur des Jungen maß. »Dein kryptischer Anruf war nämlich nicht sehr aufschlussreich.«
»Ich komme mit einem Jungen zu dir, den ich an einem Tatort gefunden hab. Ich dachte zuerst, er wäre tot wie die anderen. Aber ich glaube, er ist nur bewusstlos. Du musst ihm helfen, Phil. Und weck Sue. Der Kleine ist ein Totenbändiger.«
Das waren die gehetzten Worte gewesen, die Phil um kurz nach halb drei aus dem Schlaf gerissen hatten. Doch Thad hatte so schnell wieder aufgelegt, dass keine Zeit für Nachfragen geblieben war.
Edna kam mit einem Tablett zurück ins Zimmer. Sie stellte ihrem Sohn eine Schüssel mit warmem Wasser hin und legte ein paar Tücher zum Waschen, einen Schlafanzug und dicke Socken daneben. Dann brachte sie ihrer Schwiegertochter eine Tasse mit heißer Schokolade. Zucker würde ihr helfen, die verlorene Energie schneller zu regenerieren.
Sue lächelte zu ihr auf. Sie liebte Schokolade. »Danke, du bist die Beste.«
Edna drückte ihr die Schulter und schüttelte den Kopf. »Nein, Liebes. Du hast gerade einem Kind das Leben gerettet. Heiße Schokolade ist da das Mindeste, was ich für dich tun kann.«
Dann trat sie zu Thad und reichte ihm einen Tee. »Das Gleiche gilt für dich, aber ich weiß, du trinkst lieber Tee. Und Phil hat recht. Erzähl uns, was passiert ist. Aber sag bitte nicht, dass irgendwelche Spinner durchgedreht sind, weil heute die erste Unheilige Nacht in diesem verdammten Unheiligen Jahr ist.«
Sie stellte ihrem Sohn ebenfalls einen Tee hin und setzte sich mit einer eigenen Tasse neben Sue in den zweiten Kaminsessel.
Ächzend wischte Thad sich über die Augen und wirkte mit einem Mal deutlich älter als Anfang dreißig. »Ich wünschte, es wäre nicht so. Aber in Unheiligen Zeiten spielen sich so viele kranke Dinge ab …« Er brach ab und schüttelte den Kopf.
Seit Menschengedenken entstanden Geister, wenn ein Mensch einen gewaltsamen Tod fand. Dabei war es nicht von Bedeutung, ob der Tod absichtlich herbeigeführt wurde, wie bei einem Mord, oder er durch einen Unfall geschah. Wurde ein Mensch gewaltsam aus dem Leben gerissen und starb nicht friedlich im hohen Alter oder durch eine schwere Krankheit, entstand ein Geist. Diese Wesen hatten nichts mehr mit der Person gemein, aus der sie entsprungen waren. Sie waren Seelenlose, die einzig und allein nach dem Leben gierten, das ihnen abrupt genommen worden war. Deshalb stürzten sie sich erbarmungslos auf jeden erreichbaren Menschen, um ihm seine Lebensenergie zu rauben.
So wie es seit Menschengedenken Geister gab, gab es in jedem Jahr auch vier Unheilige Nächte, in denen die Seelenlosen besonders aggressiv und gefährlich waren. In den Nächten des Frühlings- und Herbstäquinoktiums, zu Samhain und in der Nacht der Wintersonnenwende wagte sich niemand, der nicht unbedingt musste, aus dem Haus.
Alle dreizehn Jahre erstarkten Geister und Wiedergänger zudem und verhielten sich ein gesamtes Jahr lang noch angriffslustiger und grausamer als sonst. Warum das so war, wusste niemand, doch es hatte diesen Jahren den Namen Unheiliges Jahr eingebracht. In den Unheiligen Nächten eines Unheiligen Jahres potenzierte sich die Gefahr, die von den Seelenlosen ausging, noch einmal ins Unermessliche, und leider rief genau dieser Umstand immer wieder Verrückte und Fanatiker auf den Plan, die mit fehlgeleiteten oder kranken Weltvorstellungen irrsinnige und gemeingefährliche Dinge taten.
Phil warf einen mitfühlenden Blick zu Thaddeus, während er sacht das getrocknete Blut von der Nase des Jungen wischte. Thaddeus war auf das zweite Sofa gesunken, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und hielt sein Gesicht in den Händen vergraben. Im letzten Unheiligen Jahr hatte er seine Eltern verloren. Damals war Thad gerade achtzehn gewesen und es hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen.
»Hilf uns«, bat Phil sanft, während er weiter das Gesicht des Jungen säuberte, der ohne den Schmutz noch viel bleicher wirkte als zuvor. »Erzähl uns, was passiert ist, damit wir dem Kleinen helfen können. Dann wirst auch du dich sicher besser fühlen.«
Als Arzt hatte Phil schon viele schlimme Dinge gesehen und auch privat kämpfte er immer wieder an Fronten, die ihn oft an seinen Mitmenschen und der Gesellschaft zweifeln ließen. Doch welche Grausamkeiten und menschlichen Abgründe Thaddeus als Polizist bei der Abteilung für Gewaltverbrechen aushalten musste, wollte er sich gar nicht vorstellen.
Thad presste einen Moment lang seine Finger auf die Augen, um sich zu sammeln. Als er wieder aus seinen Händen auftauchte, warf er einen Blick zum Durchgang in den Flur.
»Schlafen die Kinder? Sie sollten das hier nicht hören.«
Edna nickte. »Keine Sorge, sie sind oben in ihren Zimmern.«
Thaddeus atmete tief durch. »Erinnert ihr euch an all die Vermissten aus den Armenvierteln?«
Böses ahnend nickte Phil langsam. Er arbeitete mit zwei Kolleginnen und einem Kollegen in einer Gemeinschaftspraxis des Hampstead Health Centres, übernahm aber jeden Freitag unentgeltlich eine Schicht in einer Notfallambulanz im East End, einem der schlimmsten sozialen Brennpunkte der Stadt. Seit Beginn des Jahres waren dort und in anderen Armenvierteln vermehrt Obdachlose verschwunden. In einem harten Winter nicht unbedingt etwas Ungewöhnliches. Viele starben in ihren notdürftigen Verstecken an der Kälte und wurden oft wochenlang nicht gefunden. Außerdem besaßen die meisten, die sich auf der Straße durchschlagen mussten, kaum Mittel, um sich vor Geistern zu schützen. Das war schon in normalen Jahren für viele Obdachlose tödlich. In einem Unheiligen Jahr erst recht. Doch die schiere Anzahl an Menschen, die in den Armenvierteln plötzlich verschwunden waren, hatte schließlich doch Aufmerksamkeit erregt, weil die Einwohner Londons sich vor einer Flut möglicher neuer Geister fürchteten.
»Wir haben sie heute Nacht gefunden«, fuhr Thad fort. »Im Keller eines leer stehenden Herrenhauses am