Raymond Arroyo

Mutter Angelica


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zuckte mit den Achseln und antwortete: „Ich habe Hunger.“

      Durch ihre schwere Kindheit hatte Schwester Angelica Vorteile gegenüber ihren Altersgenossinnen: eine dicke Haut und die Fähigkeit, auch in schweren Zeiten standhaft zu bleiben.

      Bei der Weihezeremonie in der O’Dea-Villa am 4. Oktober setzte Bischof James McFadden das Allerheiligste in einer Monstranz aus – zur Anbetung in der vorläufigen Kapelle. Von jetzt an sollte das Kloster den Namen St. Klara tragen, zum Gedenken an die hl. Klara von Assisi.

      Trotz all seines Prunks war das Haus eigentlich recht klein. Nachdem man es in zwei Hälften aufgeteilt hatte – die Externen wohnten auf der einen, die Schwestern in Klausur auf der anderen Seite des Hauses – bot es nur wenig Raum für eine Nonne, die sich zurückziehen wollte, um Schwestern aus dem Weg gehen zu können, die ihr unangenehm waren.

      Schwester Mary vom Kreuz machte ihrem Namen alle Ehre: Sie war eine hochgewachsene, grobknochige Nonne mit breiten Wangenknochen und schönen blauen Augen. Als Bibliothekarin der Gemeinschaft war sie derart herrschsüchtig, dass sich Schwester Angelica darüber ärgerte.

      Schwester Angelica war schon immer eine Leseratte gewesen. Sie verschlang mehrere Bände von Johannes vom Kreuz, ebenso von Teresa von Avila, von Bruder Lorenz von der Auferstehung, von Paul vom Kreuz und anderen. Im Kloster St. Klara las sie diese Werke sogar mehrmals und speicherte sie in ihrem fast fotografischen Gedächtnis ab. Da die Bücher bis zum Ende der Woche immer wieder in der Bibliothek abgegeben werden mussten, lernte die Nonne auch, ihre Lesegeschwindigkeit zu beschleunigen.

      Schwester Mary vom Kreuz nun hielt die Bibliothek hinter Schloss und Riegel verwahrt. Ihr System gestattete den Nonnen nur, Bücher aus einer Titelliste auszuwählen, die jede Woche neu aufgehängt wurde, doch niemand durfte zu den abgeschlossenen Bibliotheksregalen gehen und die Bücher dort ansehen.

      „Das hat mich geärgert“, erzählte Mutter Angelica, als wäre es gerade letzten Mittwoch geschehen. „Mir war nicht klar, warum man nicht einfach ein Buch herausnehmen konnte! Es gibt doch einen großen Unterschied zwischen einem Titel und dem Buch selbst. Wenn man statt eines geistlichen Buches an ein Kochbuch geriet, musste man eine ganze Woche warten, bis man ein anderes bekam. Deshalb habe ich immer gleich drei bestellt und mir ausgerechnet, dass wenigstens ein gutes Buch dabei wäre. Mein italienisches Temperament war immer noch vorhanden.“

      Dies sollte nicht das letzte Mal sein, dass Angelica mit Schwester Mary vom Kreuz aneinander geriet.

      Es liegt in der Natur des Klosterlebens, dass kleine Mängel übertrieben und unbedeutende Konflikte aufgebauscht werden. Das nahe Beisammensein ausgeprägter und verschiedenartiger Charaktere verwandelte das Kloster St. Klara zu einem Brutkasten von unterdrücktem Ärger und unausgesprochenen Rivalitäten.

      Mutter Angelica sagte nachdenklich: „Es war ein Kreuz zu lernen, mit den anderen auszukommen und mit ihnen zusammenzuleben… ein Kreuz zu lernen, die anderen zu lieben. Das Kreuz hieß auch: Wie lebt man mit Menschen zusammen, die das genaue Gegenteil von einem selbst sind und die ganz andere Ansichten haben?“ Einem anderen Biografen erzählte sie: „Ich muss zugeben, manchmal war ich an der Grenze meiner Toleranz angekommen.“

       Bürgerkriege und Bürgerrechte

      Exzentrische Verhaltensweisen innerhalb der Gemeinschaft führten an dem Tag, an dem Schwester Angelica ihre erste Profess ablegte, zu einer Explosion an Gefühlsausbrüchen. Ein Schneesturm brachte am 2. Januar 1947 Schnee und Eis. Ganz Canton war betroffen, sodass sich die Gäste verspäteten und die Ankunft von Bischof James McFadden verzögert wurde.

      Mae Francis, Rhoda Wise und andere Gäste beobachteten durch das provisorische Holzgitter im Wohnzimmer der O’Dea-Kapelle, wie sich die Nonnen auf der Klausurseite versammelten. Schwester Angelica kniete mit fromm geneigtem Kopf an einem Betpult.

      Die Ruhe wurde allerdings schon bald gestört, als sich die Chorleiterin, Schwester Mary vom Kreuz, mit der Schwester Organistin über die Spielweise stritt. Langsam eskalierten die Stimmen und die beiden Nonnen gerieten aneinander. Die Organistin weigerte sich zu spielen, Mary vom Kreuz drohte ihr, sie in den Schnee hinauszuwerfen, falls sie nicht spielen würde.

      Mutter Angelica erzählte mir: „Und ich saß nun da und versuchte, mich für meine Gelübde zu sammeln. Die Leute mussten gedacht haben, dass wir alle verrückt seien.“

      Die Nonnen kehrten wieder auf ihre Plätze zurück, die Organistin spielte wieder ihre trauervolle Melodie, und Mary vom Kreuz kniete sich an ein Betpult an ihrem Platz. Wenige Augenblicke später sauste ein Käfer über den Holzfußboden. Mary vom Kreuz stand auf, hob die Kniebank mit beiden Händen hoch und ließ sie zu Boden fallen in dem Versuch, dem Insekt den Garaus zu machen. Wie eine Verrückte schwang sie den Betstuhl wie einen Presslufthammer mehrmals hin und her und schleuderte ihn und sich selbst auf das Krabbeltier. Die Organistin, die diese Vorführung für eine hinterhältige Kritik an ihrem Orgelspiel hielt, schlug dafür umso stärker in die Tasten. Schwester Angelica konnte es einfach nicht fassen, was sie da sah und dann als „Blödsinn“ bezeichnete. Dann kam der Bischof herein.

      Der Bischof war klatschnass und schimpfte über sein Auto, das mehrere Häuserblocks entfernt im Schnee stecken geblieben war. Er bat um frische Socken. Mutter Clare schickte Schwester Angelica, um für ihn ein neues Paar zu holen. Als sie wieder auf ihren Platz am offenen Gitter zurückkam, legte der Bischof eine genau passende Dornenkrone auf Angelicas Kopf.

      Während der Feier der Profess sollte der Bischof Mutter Angelica den Professring anstecken. Es gelang ihm jedoch nicht, den Ring über das geschwollene Fingergelenk zu schieben. Deshalb tat er nur so, als ob es ginge und sprach dabei die Worte: „Ich vermähle Dich mit Jesus Christus, dem Sohn des höchsten Gottes.“

      „Bei alldem, was hier vor sich ging, dachte ich wirklich, dass mich Jesus nicht lieben würde. Verstehen Sie? … Ich meine, das war wirklich eine geistliche Erfahrung!“, erinnerte sich Mutter Angelica sarkastisch. „Aber so arbeitet Gott nun einmal mit mir zusammen. Wenn ich zurückschaue, dann ist mir immer zuerst etwas zugestoßen, bevor etwas Großes geschah.“

      Doch trotz dieser grotesken Atmosphäre, die während der Feier in der Kapelle herrschte, nahm Schwester Angelica ihre ersten Gelübde ernst. In einem nach der Ablegung der Gelübde maschinengeschriebenen Brief an ihre Mutter bezeichnete sie sich und Jesus als „Vermählte“ und als „königliches Paar“. Dieses Paar, so schrieb sie, „möchte gerne seine Dankbarkeit gegenüber seiner Freundin und den Angehörigen des königlichen Hofstaates zum Ausdruck bringen“. Weiter unten schrieb sie: „Die Braut hat den Bräutigam gebeten, Dich mit seinem Frieden und seinem Trost zu erfüllen.“ Sie unterzeichnete den Brief mit „Jesus und Angelica.“

      Man spürt, wie freimütig und konsequent Angelica über ihre eigenen Gefühle und die des Messias schrieb. In ihrem Brief kam vor allem ihr starker Glaube, nicht mit einem abstrakten Begriff oder einer Idee vermählt zu sein, sondern mit einer Person, zum Ausdruck. Diese tiefe Überzeugung und die Liebe zu ihrem Bräutigam sollten von nun an all ihre Handlungen leiten. Während ihrer Flitterwochen kam sie ihrem „Bräutigam“ noch viel näher, als sie es jemals für möglich gehalten hätte.

      Angelica litt unter einer Reihe von unbedeutenden Krankheiten – Kopfschmerzen, eingewachsenen Fußnägeln und Ähnlichem. Obwohl es sich um banale Unpässlichkeiten handelte, reichten sie doch aus, um sie mürrisch werden zu lassen, wenn Mutter Clare sie dann zur Anbetung für drei Uhr morgens einteilte. Angelica kam widerwillig zur festgesetzten Zeit, „war jedoch nicht gerade glücklich, dort zu sein“. Sie teilte ihren Unmut auch Jesus mit: „Ich habe all diese schmerzhaften Dinge und obendrein noch die Anbetung. Glaubst du etwa, ich bin ein Pferd?“

      „Nein, du bist meine Braut“, glaubte sie, Seine Antwort in der Stille zu hören.

      „Mein Gott, ich habe das nie wieder zu Ihm gesagt, das können Sie mir glauben!“

      Obwohl Mae Francis Rita regelmäßig besuchte, fehlte ihr doch die Tochter zu Hause sehr. Dafür hatte Rita Verständnis. Aus einigen undatierten