die Angestellten aus. Das taten sie immer. Natürlich fiel mir das auf. Sie versuchten, möglichst unauffällig kehrtzumachen. Sie bogen in einen Korridor ein, in dem sich Büros befanden, zu denen sie mit gefühlter Sicherheit gar nicht wollten. Andere mussten plötzlich aufs Klo. Kaum kamen sie mir in die Quere, änderten die meisten ihre Richtung. Ich war mir sicher, dass das keine Zufälle waren und nur jene in meiner Bahn blieben, für die es aus ihrer Sicht kein Entrinnen gab. Entweder, weil sie nicht spontan genug waren oder aber ausreichend intelligent, um selbst einzuschätzen, dass ihre Kursänderung glatt als Flucht identifiziert worden wäre. In solchen Fällen senkten sie den Blick und nuschelten ein kaum verständliches »Guten Tag, Mr. Campling«. Ich kannte das Bild auswendig: Schultern hoch, Kopf in die Versenkung und eine leichte, vertikale Drehung des Oberkörpers gegen die Wand. Lächerlich. Meist hatte ich mit diesen Leuten persönlich nichts zu tun. Sie arbeiteten in unterschiedlichen Abteilungen mit eigenen Abteilungsleitern und über ihnen stand die Personalabteilung mit dem Personalchef. Dennoch hegten diese Leute eine offensichtliche Abneigung gegen meine Person. Noch nie hatte ich mich vor die gesamte Belegschaft gestellt und hinausposaunt, dass mir ihre Einzelschicksale vollkommen egal waren. Vielleicht war es aber auch gar nicht nötig, es so deutlich zu verkünden. Wahrscheinlich war ohnehin alles klar. Wenn die Mitarbeiter unseres Konzerns nicht perfekt funktionierten, veranlasste ich deren Austausch. Was sonst? Was unterschied sie von ausrangierten Maschinen? Alles unnützes Zeug. Mir war mein Ruf im Heer der Diener nicht wichtig. Und wenn einmal einer der Ausrangierten mir in einem Anfall von Hysterie die Kündigung vor die Füße knallte und schrie, es ginge mir einzig und allein um Gewinnmaximierung, dann hatte er durchaus recht. Richtig, Herr Irgendwer. Musste man deshalb so laut werden? Es war nicht mein Anliegen, eine Wellnessoase für die Belegschaft zu schaffen. Wir lebten in einer globalisierten Welt der freien Marktwirtschaft. In einer Welt bestimmt von Angebot und Nachfrage. Wenn nicht wir die profitablen Geschäfte blitzschnell an Land zogen, dann schnappte sie uns ein anderer weg. In den Konzernen der Konkurrenz saßen auch keine Sozialarbeiter. Jeder Mitarbeiter hatte ihm zugeteilte Aufgaben. Sein einziger Nutzen bestand darin, diese zu erfüllen. Ich glaubte an den Sinn der Gewinnmaximierung und konnte gut mit den Gefühlsausbrüchen der Nutzlosen umgehen.
Kapitel 10
Der Mann, den ich zu Mittag im Pub um die Ecke traf, war ein angesehener Steuerberater der Stadt. Ich nannte ihn Freund, wissend, dass ich im Grunde keine wirklichen Freunde hatte. Typen, mit denen ich abhängte, die ihre Füße auf meine Couch legten, um ihre lustigen und traurigen Geschichten mit mir auszutauschen, die gab es in meinem Leben nicht. Auch ich erzählte niemandem meine Gedanken und Wünsche, da es außerhalb der Arbeitswelt ohnehin kaum welche gab. Hatte ich einen Wunsch, dann kaufte ich ihn mir. Ich schuf mir die Welt, die ich haben wollte. Ich war in den besten Jahren, mein Körper war topfit und mein Gehirn arbeitete wie eine High Speed Datenverbindung aus Glasfasern. Ich war eins siebenundachzig groß mit breiten Schultern, einem flachen Bauch, noch immer mehr dunkelbraunen als grauen Haaren und ich wusste um mein markantes Gesicht Bescheid. Persönlichkeitspsychologen hätten mich rasch als glatten A-Typ identifiziert. Meine Feindseligkeit, die diesem Typus zugeschrieben wurde, war nötiger Bestandteil einer aggressiven, kapitalistischen Welt, in der ich gerne die Rolle eines Machthabers einnahm. Mit allem, was dazugehörte.
Als ich in den Pub gelangte, saß Peter Rohman bereits an einem Ecktisch und erwartete mich. Der Grund unserer Treffen war selten der, dass wir den emotionalen Wunsch verspürten, uns zu sehen. Wir tauschten keine privaten Details aus unseren Leben aus. Vielmehr war es so, dass Peter Rohman durch seine Einblicke in die Finanzkraft jeder Menge Unternehmen, mir nützliche Informationen lieferte. Die Heuschrecken brauchten dann nur noch gezielt zuzuschlagen. Peter tat dies diskret und ohne genaue Angaben. Doch wenn man in der Lage war, eins und eins zusammenzuzählen, ergab sich ein klares Bild und Peter erhielt zum Dank ein unauffälliges Kuvert.
Zudem war Peter ein attraktiver Kerl, der in jungen Jahren Zehnkampf trainiert hatte und dessen Körper es ihm bis heute dankte. Peter war großgewachsen, blond mit blauen Augen und einem schälmischen Lächeln. Hie und da zog es uns gemeinsam ins Nachtleben, wo wir als Dark and Light die Aufmerksamkeit der Frauen auf uns zogen.
Es kam vor, dass diese gemeinsamen Touren in einer Hotelsuite endeten. Im Anhang hatten wir dann ein paar Frauen, mit denen wir als Grüppchen eine wilde Nacht verbrachten. Somit kannte ich Peter nicht nur als geschickten Geschäftsmann und Informanten, sondern auch als tabulosen Sexpartner. Über Peters Privatleben wusste ich sonst nichts. Wir waren beide einsame Wölfe, die sich nur dann zusammentaten, wenn es auf Beutezug ging. In der Finanzwelt und in der der Frauen.
Steh auf und kämpf weiter! Meinen ersten Anlauf als Professionelle hatte ich verbockt. Tränen, Trauer und Gefühlsausbrüche waren wohl nicht das, was Freier Nummer eins sich vorgestellt hatte.
Kapitel 11
Nachdem ich das Heim verlassen hatte und ich auch bei Tante Margot nicht bleiben konnte, war ich tagelang durch die Gegend gestreift. Anfangs kehrte ich zum Schlafen zu Tante Margot zurück, doch es war immer dasselbe. Sie war sturzbetrunken, aggressiv und wurde zusehends gemeiner zu mir. In ihrem verschimmelten Müllberg stank es unerträglich und wenn ich versuchte, ein wenig Ordnung zu schaffen, ging sie auf mich los. Zuerst verbal, bald aber auch körperlich. Ich wagte kaum noch, zu schlafen. Die Lehrer nahmen meine ständige Müdigkeit wahr und sprachen mich darauf an. Ob ich denn dem Unterricht überhaupt folgen konnte, wenn ich doch solche Mühe hatte, die Augen offen zu halten?
Natürlich hatten auch sie erfahren, dass meine Eltern kurz zuvor gestorben waren. So waren die meisten von ihnen gnädig und schoben mein Verhalten der Trauer zu. Nur wie lange hätte ihre Gnade gewährt? Irgendwann wäre Tante Margot in die Schule zitiert worden. Das durfte ich nicht zulassen. Hätten die Lehrer Tante Margots Zustand erkannt, wäre ich schnurstracks wieder im Heim gelandet. Ich musste also spielen. Ich durfte mir nichts anmerken lassen. So nahm ich mir vor, mich zusammenzureißen und weder Müdigkeit noch Traurigkeit zu zeigen. Und ich musste Tante Margot verlassen.
Kapitel 12
Ich hielt mich damals viel am Rande der Stadt in der Nähe des Flusses auf. Dort war es grün und dicht mit Bäumen und hohem Gras bewachsen. Durch das nahe gelegene Fabrikgelände war die Gegend trotz aller Natur verschmutzt und mit Unrat belagert. Die Leute hielten sich lieber etwas weiter oben am Flussverlauf auf, wo weite Sandbänke und Wege die Natur schmückten. Dort verbrachten Familien ihre Sonntage mit Picknick und Federballspielen. In der Nähe des Fabrikgeländes war es hingegen wenig einladend. Kaputte Autoreifen, verrostete Metallbalken, Glasscherben, Schrott. Das, was hier herumlag, machte den Ort richtig ausladend. Außerdem war die Erde stellenweise durch Öl verklebt. Nur ich suchte dieses hässliche Grundstück auf. Hier konnte ich in Ruhe nachdenken und meinen Tränen freien Lauf lassen. Hier würde mich niemand beobachten.
An einem dieser Tage entdeckte ich das Loch, das sich hinter der Böschung verbarg. Es war von Gras und Gestrüpp überwachsen und völlig unsichtbar. Wäre nicht eine Maus dahinter verschwunden, hätte ich die Öffnung niemals gefunden. Es war einer jener Tage, an dem ich schon in der Schule gespürt hatte, dass ich weinen wollte. Oder musste. Einer jener Tage, an dem sich mein Herz unendlich schwer anfühlte. Es war mir gelungen, mich den ganzen Vormittag zusammenzureißen. Ich hatte aufrecht auf meinem Stuhl gesessen und den Lehrer mit weit aufgerissenen Augen angeblickt. Auf diese Weise meinte ich, besonders aufmerksam zu wirken. Ich versuchte, zu verschleiern, was sich hinter meinen Pupillen abspielte. Dort nämlich war es dunkel und düster und einsam und schwer. Sofort nach der Schule hatte ich damals den Weg zur alten Fabrik eingeschlagen. Natürlich hätte ich auch nach Hause laufen und dort weinen können. Tante Margot war tagsüber nie anwesend. Aber ihre Wohnung war so furchtbar eklig. Dorthin wollte ich nicht, dort fühlte ich mich überhaupt nicht zu Hause. Kaum hatten an jenem Tage die Schulglocken geläutet, stürmte ich zum Tor hinaus, weil sich die Tränen keine Sekunde länger zurückhalten lassen wollten. Ich lief und lief und der Schulranzen knallte bei jedem Schritt gegen meinen Rücken. Erst am alten Fabrikgelände hielt ich an und brach an der Böschung zusammen. An diesem Tag war es gewesen, dass mir die kleine Maus über die Füße krabbelte. Zuerst hatte ich sie nur gespürt und nicht gesehen. Das viele Salzwasser in den Augen hatte mich nichts sehen lassen. Die Maus zeigte überhaupt keine Scheu. Sie kitzelte mich