ein Baum. Ein ganzer Wald.
Mit einer energischen Bewegung erhob er sich, trieb die Gier in seinem Inneren zurück in den hintersten Winkel. Noch musste er beherrscht vorgehen, doch bald würden Sträucher brennen, die elenden Bäume aufschreien und Laub verglühen, würde all die Magie wieder ihm gehören.
Mit der Teetasse in der Hand trat er ans Fenster. Es war natürlich kein gewöhnliches Fenster. Das Glas besaß eine solche Reinheit, dass es fast unsichtbar war. Und dazu kamen filigrane Symbole aus Metall, die auf dem Rahmen prangten.
Es klickte, als er das magische Zeichen im rechten Fensterrahmen drehte. Ein Wabern lief über das Glas, dann zeigte es nicht länger die Landschaft außerhalb. Stattdessen wurde das Herrenhaus sichtbar. Hinter den Fenstern brannte Licht. Zweifellos würde es bald erlöschen, die Bewohner sich in ihre Betten begeben.
Wann war es endlich so weit?
Die beiden Kinder hatten sich bereits getroffen, er hatte den Streit beobachtet. Doch seit jenem Abend hatte Lukas Lamprecht den Flüsterwald nicht mehr betreten. Die Tage zogen sich in nutzlosem Einerlei dahin und brachten ihn seinem Ziel nicht näher.
»Geduld«, sprach er in den dunklen Raum. Er lächelte. Es war das Lächeln eines Raubtiers, wie ihm ein alter Feind einmal gesagt hatte. Er trug es stets, wenn ein Plan sich der Vollendung näherte.
Mit einer weiteren Drehung, einem erneuten Klicken, wurde das Glas wieder gewöhnlich. Vor dem Fenster kehrte die vertraute Landschaft zurück. Er sank in seinen Sessel, ließ den Blick in die sturmzerzauste Ferne schweifen und sog genussvoll den Geruch kalter Asche ein.
Der Hinterhalt (schon wieder)
In Gedanken versunken wich Lukas dem Ast aus. Ein Opfer des Sturms der vergangenen Nacht, wie auch der Gartenzwerg, der mit der Zipfelmütze voran in einer Windschutzscheibe steckte. Lukas registrierte es kaum, genauso wenig wie den Wind, der sein Haar zerzauste. Er dachte an seine neuen Freunde: Rani, Felicitas und Punchy. Möglicherweise spielte auch der Wark ab und an eine Rolle, vor allem in seinen Albträumen.
Immer wieder sah er die Ereignisse vor sich, die ihn Hals über Kopf in sein erstes Abenteuer im Flüsterwald gestürzt hatten. Die Geheimtür hinter dem Bücherregal, die Treppe in das geheime Studierzimmer auf dem Speicher. All die magischen Tränke, Pulver und Gegenstände. Dort stand auch die Standuhr, die über eine magische Verbindung zu ihrem Gegenstück im Flüsterwald führte. Zwar konnte der Wark solche Portale nicht benutzen – und außerdem hatte Lukas mit seinen neuen Freunden die Erinnerung des Warks an die Verfolgungsjagd gelöscht –, aber Lukas’ Albträumen war das egal.
»Guten Morgen!«, brüllte jemand in sein Ohr.
Er zuckte zusammen. Im gleichen Moment ärgerte er sich über sich selbst. Es war das dritte Mal in einer Woche, dass Ella ihm auflauerte, er sollte mittlerweile daran gewöhnt sein.
»Morgen«, gab er so feindselig zurück, wie er konnte.
Sie ließ einfach nicht locker. Ihrem Großvater hatte das Haus gehört, in das Lukas’ Familie eingezogen war. Aufgrund eines Zaubers konnte sie es aber nicht betreten und hatte ihre Forderung immer unter freiem Himmel vorgebracht. Gleich würde sie wieder …
»Gib mir das Flüsterpulver!«, verlangte sie.
»Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst.« Leugnen war ihm wie eine gute Taktik erschienen.
»Stell dich nicht dumm! Ich habe gesehen, wie du aus dem Flüsterwald zurückgekommen bist.« Sie lief schneller und stellte sich ihm in den Weg. Der Wind zerwühlte ihr schulterlanges, blondes Haar. Ein Wunder, dass sie überhaupt noch etwas sehen konnte. Sie trug Jeans, Turnschuhe und einen Pulli.
»Na und? Ich war im Wald spazieren.«
»Nachts?«
»Du ja wohl auch.« Er schob sich an ihr vorbei. Falls er zu spät zur ersten Stunde kam, würde seine Mum davon erfahren. Und obwohl sie selbst im schlimmsten Stau anderen Autofahrern zulächelte und ihnen den Vortritt ließ – was seinen Dad regelmäßig zur Weißglut trieb –, verstand sie beim Thema Schule keinen Spaß.
»Ich habe ein Recht auf das Flüsterpulver!«, rief Ella. »Es hat meinem Großvater gehört, bevor er verschwunden ist.«
»Das kann jeder behaupten. Außerdem weiß ich gar nicht, wovon du sprichst.«
Natürlich wusste er es. In dem geheimen Studierzimmer ihres Großvaters hatte er auch das blaue Flüsterpulver gefunden und unabsichtlich getestet: Es hatte ihm erlaubt, den Flüsterwald bei Nacht zu betreten, was sonst keinem Menschen möglich war.
Trotzdem konnte er Ella keinesfalls das Pulver geben, es war nur noch wenig übrig! Vielleicht genug für eine Benutzung oder zwei. Und wenn es aufgebraucht war, konnte er seine Freunde nicht mehr wiedersehen!
»Du bist so gemein.« Ellas Stimme wurde weich. »Ich möchte nur meinen Großvater finden. Ich vermisse ihn.« Eine Träne löste sich aus ihrem rechten Auge. »Bestimmt irrt er zitternd und frierend durch den Wald.«
»Also …« Lukas stockte, als das Mitleid ihn überrannte, und rückte dann mit der Wahrheit heraus. »Ich müsste erst Nachschub holen. Das Flüsterpulver ist fast leer.«
»Was?!« Ella schien zu explodieren. »Wie kann das sein?«
»Ich bin versehentlich dran gestoßen und dabei ist eine Menge auf dem Boden … hey, du bist ja gar nicht traurig!«
Ella wirkte ertappt. »Doch, sehr.« Schon kullerte eine weitere Träne.
Lukas betrachtete sie empört. »Und ich wäre fast darauf hereingefallen. Wenn du mir nur was vorspielst, bekommst du das Flüsterpulver nicht! Wenn dein Großvater im Wald herumirrt, kannst du ihn doch auch ohne Pulver suchen gehen. Tagsüber!«
Sie seufzte. »Und da sag noch mal jemand, die Theater-AG zahlt sich aus. Aber nur, damit du es weißt: Ich werde jede Nacht vor eurem Haus stehen. Und jeden Morgen. Überhaupt immer!«
»Wenn du nichts Besseres zu tun hast, bitte.« Lukas beschleunigte seine Schritte.
Vor ihm tauchte der große Torbogen auf, der den Beginn der Altstadt markierte. Dahinter war die Schule bereits in der Ferne zwischen den Häusern sichtbar. Bedauerlicherweise war er noch nicht darin, obwohl die erste Stunde soeben begann.
»Ich werde Steine werfen«, drohte Ella. »Der magische Schirm sperrt zwar mich aus, aber die Steine fliegen trotzdem.«
»Das darfst du dann meinen Eltern erklären«, sagte Lukas provozierend freundlich. »Bringt dir nur leider nichts.«
Man musste Ella zugutehalten, dass sie ihre Taktik sofort änderte.
»Wir könnten doch gemeinsam gehen und frisches Flüsterpulver holen.« Lächelnd ging sie neben ihm her. »Sonst ist es für dich auch bald vorbei.«
»Ich denke darüber nach.«
»Was gibt es denn da zu denken?«
»Bestimmt weißt du gar nicht, woher man es bekommt.«
»Netter Versuch, aber ich werde es dir nicht verraten.«
Sie eilten vorbei an der städtischen Bibliothekarin, die Lukas vor einer Woche bei seiner Anmeldung kennengelernt hatte. Ihr grauer Dutt hatte sich im Wind gelöst und die Frisur in ein Notstandsgebiet verwandelt.
»Dann frage ich einfach meine Freunde aus dem Flüsterwald«, gab Lukas triumphierend zurück.
»Du hast da Freunde?« Ella blieb wie angewurzelt stehen. »Das ist gefährlich.«
»Ist es nicht!«
»Es