Robert Louis Stevenson

Die bekanntesten Werke von Robert Louis Stevenson


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Blatt um Blatt seiner Prozeßakten wendete und nur von Zeit zu Zeit innehielt, um an einem Glase Portwein zu nippen oder sich schwerfällig zu erheben und vor den mit Büchern bekleideten Wänden in irgendeinem Nachschlagewerk zu kramen. Niemals vermochte Archie den brutalen Richter mit diesem fleißigen, leidenschaftslosen Arbeiter in Einklang zu bringen; ihm fehlte das verbindende Glied; unmöglich konnte man von einer derartigen Doppelnatur voraussagen, wie sie sich verhalten würde, und er fragte sich, ob er recht daran getan, sich in eine Sache einzulassen, deren Ende nicht abzusehen war. Und gleich darauf folgte mit einem schwindelerregenden Gefühl wankenden Vertrauens die Frage, ob er nicht verräterisch gehandelt hätte, seinen Vater zu schlagen. Denn er hatte ihn geschlagen – zweimal vor einer Schar Zeugen hatte er ihn herausgefordert – vor einem Haufen Pöbels ihm einen Schlag versetzt. Wer hatte ihn selbst in diesen delikaten und schwierigen Fragen zum Richter über seinen Vater erhoben? Er hatte dessen Amt usurpiert. Einem Fremden wäre das vielleicht zugekommen; von einem Sohne jedoch – es ließ sich nicht bemänteln – bedeutete es Verrat. Jetzt schwebte zwischen diesen beiden so antipathischen, einander so verhaßten Naturen jene nie zu sühnende Beleidigung! Gott in seiner Voraussicht allein mochte wissen, wie Lord Hermiston sie rächen würde. Diese Zweifel quälten Archie die ganze Nacht und erhoben sich an jenem Wintermorgen mit ihm vom Lager. Sie folgten ihm von Vorlesung zu Vorlesung, machten ihn schreckhaft empfindlich gegenüber jeder Nuance in dem Betragen seiner Kollegen und klangen ihm in der eintönigen Stimme des Professors entgegen; ja er brachte sie am Abend unvermindert, eher noch gesteigert, nach Hause zurück. Die Ursache dieser Steigerung lag in einer zufälligen Begegnung mit dem berühmten Dr. Gregory. Archie hatte, ohne zu sehen, in das erleuchtete Schaufenster einer Buchhandlung gestarrt, bemüht, sich gegen den bevorstehenden Kampf zu stählen. Mylord und er waren am Morgen zusammengekommen und hatten sich getrennt wie alle Tage, mit kaum einem Austausch der üblichen Höflichkeiten; es war dem Sohne klar, daß der Vater bisher nichts erfahren hatte. Ja, als er sich jetzt Mylords furchterregendes Antlitz ins Gedächtnis rief, erwachte in ihm die schwache Hoffnung, daß vielleicht niemand den Mut finden würde, ihm die Geschichte zu hinterbringen. Er fragte sich, ob er in diesem Fall wohl fortfahren würde, und fand keine Antwort. Das war der Augenblick, in dem eine Hand sich auf seinen Arm legte und eine Stimme dicht vor seinem Ohr sagte: »Mein lieber Mr. Archie, ich glaube, Sie täten gut daran, mich einmal aufzusuchen.«

      Erschreckt fuhr er herum und sah sich Angesicht zu Angesicht mit Dr. Gregory. »Weshalb sollte ich Sie besuchen?« fragte er mit dem Trotz der Verzweiflung.

      »Weil Sie schwerkrank aussehen«, sagte der Arzt. »Sie brauchen offenbar ärztlichen Rat, mein junger Freund. Tüchtige Leute sind rar, wie Sie wissen; und nicht jeder würde im Leben eine solche Lücke zurücklassen. Hermiston vermißt nicht so leicht einen Menschen.«

      Mit einem Kopfnicken und einem Lächeln setzte der Arzt seinen Weg fort.

      In der nächsten Sekunde war Archie ihm nachgesprungen und packte jetzt seinerseits ungestüm des anderen Arm.

      »Was soll das heißen? Was wollen Sie damit sagen? Was veranlaßt Sie zu dem Glauben, daß Hermis – daß mein Vater mich vermissen würde?«

      Der Arzt drehte sich um und betrachtete ihn von Kopf bis Fuß mit klinisch geschultem Auge. Auch ein weit dümmerer Mensch als Dr. Gregory hätte die Wahrheit erraten können, aber neunundneunzig von hundert würden selbst mit gleich gutem Willen wie er durch irgendeine wohlmeinende Übertreibung alles verdorben haben. Der Arzt wußte es besser. Er kannte den Vater genau; aus diesem bleichen, intelligenten, gequälten Gesicht sprach ein gut Teil von des Sohnes Wesen, und er berichtete die schlichte Wahrheit ohne Milderung oder Ausschmückung.

      »Als Sie die Masern hatten, Mr. Archibald, erkrankten Sie sehr schwer, und ich dachte, Sie würden mir noch durch die Finger gehen. Nun, Ihr Vater war sehr besorgt um Sie. Sie werden mich fragen, woher ich das weiß. Einfach weil ich ein geschulter Beobachter bin. Das Zeichen, das ich ihn geben sah, wäre Zehntausenden entgangen; und doch hat er sich vielleicht – ich sage vielleicht, weil er ein Mann ist, den man nur schwer beurteilen kann – nie wieder verraten. Eine seltsame Sache das, nicht wahr? Es war so. Ich ging eines Tages zu ihm. ›Hermiston‹, sagte ich, ›es ist eine Wendung eingetreten.‹ Er sagte kein Wort, sondern funkelte mich nur so an (Sie werden den Ausdruck entschuldigen) wie ein wildes Tier. ›Eine Wendung zum Guten‹, sagte ich. Und dann hörte ich ganz deutlich, wie er aufatmete.«

      Der Arzt wartete nicht erst eine Antiklimax ab. Mit einer Neigung seines Dreispitzes (ein altmodisches Stück, an dem er getreulich festhielt) und der vielsagenden Wiederholung »Ganz deutlich« verabschiedete er sich und ließ Archie sprachlos auf der Straße zurück.

      Die Anekdote mochte unendlich belanglos sein, für Archie besaß sie einen unermeßlich tiefen Sinn. »Ich ahnte ja nicht, daß der Alte so viel Blut in sich hätte.« Niemals hatte er sich träumen lassen, daß sein Vater, dieses wahre Urbild eines »alten Römers«, dieser Adam aus Granit, ein Herz besäße, das überhaupt für irgendeinen anderen Menschen zu schlagen vermöchte; und dieser andere, er selbst, hatte ihn beleidigt! Mit der ganzen Großmut der Jugend schlug sich Archie sogleich auf die entgegengesetzte Seite, hatte sich im Augenblick ein völlig neues Bild von Lord Hermiston geschaffen: das eines Mannes, der nach außen hin Eisen, im Innern aber ganz Gefühl ist. Der Liebhaber niedriger Späße, der Jäger, der Duncan Jopp mit unmännlichen Beleidigungen in den Tod gehetzt, das ungeliebte Antlitz, das er so lange gekannt und gefürchtet hatte, alles war vergessen. Stürmisch eilte er nach Hause, voller Ungeduld, seine Missetaten zu beichten und sich völlig dieser imaginären Persönlichkeit auszuliefern.

      Das rauhe Erwachen kam bald. Es dämmerte bereits, als er sich dem Hause näherte, in welchem schon die Lichter brannten, und er sah seinen Vater aus der anderen Richtung auf sich zukommen. Es war ziemlich dunkel, jedoch durch die offene Haustür strömte starkes, helles Lampenlicht über die Schwelle auf Archies Gestalt, während er in altmodischer, respektvoller Haltung wartete, um seinem Vater den Vortritt zu lassen. Der Richter kam ohne jede Hast mit würdevollem, festem Schritt, das Haupt hoch erhoben, das Gesicht (als er in den Lichtkreis trat) ebenfalls voll beleuchtet, die Lippen unerbittlich zusammengepreßt. Nicht der Schatten einer Veränderung huschte über dieses Gesicht; ohne nach rechts oder links zu blicken, ging er hart an Archie vorüber und betrat das Haus. Der Jüngling hatte bei seinem Nahen eine instinktive Bewegung zu seinem Willkomm gemacht; instinktiv wich er jetzt gegen das Geländer zurück, als der alte Mann in großartiger Empörung an ihm vorbeifegte. Worte waren überflüssig; er wußte alles, vielleicht sogar mehr als das – die Stunde des Gerichts war da. Es ist möglich, daß Archie nach diesem völligen Rückschlag all seiner Hoffnungen und angesichts jener Symptome drohender Gefahr versucht war, die Flucht zu ergreifen. Aber nicht einmal das blieb ihm übrig. Nach Ablegen von Mantel und Hut drehte sich Mylord in dem erleuchteten Vorraum um und machte ihm mit dem Daumen eine einzige, gebieterische Geste, und mit dem seltsamen Instinkt des Gehorsams folgte ihm Archie ins Haus.

      Bei Tisch herrschte schweres, drückendes Schweigen, und als der letzte Gang serviert war, stand der Richter auf.

      »M’Killup, bring den Wein in mein Zimmer«, befahl er, und zu seinem Sohn gewendet: »Archie, du und ich haben miteinander zu reden.«

      In diesem elenden Moment war es, daß Archies Mut ihn das erste-und letztemal im Stich ließ. »Ich habe eine Verabredung«, erklärte er.

      »So wirst du sie brechen müssen«, entgegnete Hermiston und schritt voran in sein Arbeitszimmer.

      Die Lampe war abgeblendet, das Feuer vollendet sauber geschichtet, der Tisch dicht mit wohlgeordneten Dokumenten bedeckt; die Rücken der Bücher bildeten einen einheitlichen Rahmen, nur von dem Fenster und den Türen durchbrochen.

      Einen Augenblick wärmte sich Hermiston die Hände am Feuer und kehrte Archie den Rücken zu; dann drehte er sich plötzlich um und zeigte ihm alle Schrecken seines Henkergesichts.

      »Was sind das für Dinge, die ich von dir hören muß?« forderte er.

      Eine Antwort war Archie unmöglich.

      »Also muß ich sie dir sagen«, fuhr Hermiston fort. »Es scheint, du hast deine Stimme gegen den Vater, der dich gezeugt, erhoben und gegen einen von seiner Majestät Richtern im Land; und das obendrein