die wir wahrnehmen, Bedeutung bei. Das heißt, dass wir die Welt verstehen. In diesem Sinn sind wir dann doch bei Pippi Langstrumpf und machen uns die Welt, wie sie uns gefällt. Jeder Zugang zur Wirklichkeit wird also von uns aufgrund unserer kulturellen Erfahrungen und unseres Hintergrundes geleistet. Dafür steht der Begriff der Deutung. Unsere Welt zu verstehen und darin zu leben, heißt, sie zu deuten, ihr einen, konkret: meinen Sinn zu verleihen.
Deshalb lässt sich festhalten: Die Welt ist menschliche Deutung, unsere Welt ist in entscheidenden Teilen unsere Konstruktion. Sie ist auch nicht „nur“ unsere Deutung und in Wirklichkeit etwas ganz anderes, sondern sie ist tatsächlich so für uns. Die Deutung ist der einzige Zugang zur Wirklichkeit, den wir haben.
Was wir nicht wahrnehmen, ist für uns nicht von Belang. Es gibt Dinge in der Welt, die für uns nicht wichtig sind, also keine Deutung von uns erfahren, aber die Welt, wie wir sie verstehen und in ihr leben können, diese Welt wird von uns gemacht. Nicht in dem Sinne, dass wir sie hervorbringen, sondern in dem Sinne, wie wir damit umgehen. Das, was wir erleben und was uns wichtig ist, deuten wir mit Hilfe unserer Erfahrungen und machen es für uns lebbar. Wir verstehen es und gehen damit um. Was wir nicht verstehen, können wir schlecht akzeptieren. Wir versuchen, in den Dingen, die geschehen, einen Sinn zu finden. Aber es liegt kein Sinn an sich in dem, was wir erleben, sondern wir konstruieren einen Sinn für uns, oft den Sinn, der uns hilft, so gut wie möglich zu leben. Die ganze Welt ist unsere Interpretation. Die Welt, wie wir sie sehen und verstehen, ist insofern unsere Leistung. Da dieser Vorgang in der Regel unbewusst abläuft, staunen wir manchmal, wenn wir damit konfrontiert werden, dass andere Menschen die Welt anders sehen und dementsprechend anders handeln.
Jetzt ist bereits ersichtlich: Nur in einem religiösen Deutehorizont ist die Rede vom Teufel überhaupt vorstellbar. Weiß jemand nichts von Religion, von Gott, den Engeln, dann wird er diese Komponenten auch nicht zur Deutung seiner Welt heranziehen. Folglich wird er das, was er als böse qualifiziert, auch nicht dem Teufel zuschreiben, sondern andere Erklärungen suchen.
Weiter ist jetzt auch klar: Das Böse selbst ist eine Deutung.
Das Böse als konkretes Erleben
Denn an sich ist nichts weder gut noch böse; das Denken macht es erst dazu.
(William Shakespeare, Hamlet, 2. Akt; 2. Szene)
Zweitens: Wir erleben Geschehnisse und wir deuten sie. Manche sind für uns gut, andere böse. Die zweite Voraussetzung unserer Grundthese hat mit dieser Bewertung zu tun. Sie besteht schlicht in der Erkenntnis, dass die Bewertung der Geschehnisse ebenso von uns abhängt wie die Deutung der Welt. Wir bringen mit Begriffen wie „gut“ oder „böse“ und allen sprachlichen Verwandten dieses Gegensatzpaares Ordnung in unser Denken und damit auch in die Welt. Wir orientieren uns damit und werten Dinge auf oder ab. Und gleichzeitig merken wir dabei, dass etwas, das für einen Menschen „gut“ ist, für einen anderen Menschen „böse“ sein kann. Das Denken bewertet Geschehnisse und Dinge. Und es gehört vielleicht zu den erschreckendsten Erkenntnissen, dass das Böse relativ und von uns abhängig ist. Man kann kaum glauben, dass es Menschen gab und sogar heute noch gibt, die die Ermordung von Menschen jüdischen Glaubens während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland als „gut“ und „notwendig“ bezeichnen. Gerade so ein krasses Beispiel führt vor Augen, dass „das“ Böse offensichtlich relativ ist und von der Perspektive des Betrachters abhängt.
Man kommt in der Flucht dieser Überlegungen schließlich zu der Erkenntnis, dass es „das“ Böse eigentlich nicht gibt, zumindest nicht als abstrakte Größe. „Das“ Böse existiert nicht für sich und unabhängig von uns, sondern ist nur an uns (oder anderen Menschen) erfahrbar, d.h. es ist eine konkret erlebte Schädigung des Lebens. Wenn es „das“ Böse nicht gibt, ist auch von vornherein klar, dass es „den“ Bösen, also den Teufel, nicht an sich gibt.
Die Überlegungen zum „Bösen“ werden im Kapitel zur theologischen Deutung des Bösen noch einmal aufgenommen und ausgeführt.
Ein Beispiel
Ein Beispiel soll beide Voraussetzungen verdeutlichen: In einem Krankenhaus liegen in einem Zimmer zwei Patienten mit der Diagnose „Lungenkrebs“. Ein Patient hat sein ganzes Leben lang viel geraucht. Der andere Patient nicht, vielleicht ist er sogar ein durchtrainierter Marathonläufer. Als Krankenhausseelsorger kann man recht sicher sagen, wer mehr mit seinem Schicksal hadert.
Da mittlerweile auf vielen Zigarettenpackungen steht, dass neun von zehn Lungenkarzinomen ursächlich mit Rauchen zusammenhängen, kann sich der Raucher seinen Lungenkrebs gut erklären. Ursache und Wirken passen zusammen. Anders der Marathonläufer. Er kann sich seine Krankheit nicht erklären. Ursache und Wirken klaffen auseinander. Er kann keinen Sinn finden.
Der Krebs ist für beide eine immense Schädigung ihres Lebens, er ist für beide in diesem Sinn „böse“. Aber einer kann ihn überzeugend deuten, der andere nicht. Das Problem der Deutung des Bösen bricht für den Marathonläufer viel dringender auf als für den Raucher. Ein Mensch, der im Dualismus von „gut“ und „böse“, „Gott“ und „Teufel“ erzogen wurde, mag hier auf den Gedanken kommen, dass der Krebs vom Teufel ist und der Mensch durch den Teufel und die durch ihn verursachte Krankheit in seinem Glauben geprüft wird. Der Teufel ist damit die Sinndeutung des Bösen.
Der Teufel und seine Funktion
Die Geschichte des Teufels ist lang. Und die Geschichte des Umgangs mit ihm auch. Der Teufel kann als Bedrohung und Einschüchterung eingesetzt werden. So hat dies die Kirche über Jahrhunderte gehalten. Er bestraft die sündigen Menschen in der Hölle. Das ist seit der Alten Kirche ein klassisches Motiv, das sich über Dante Alighieris „Göttliche Komödie“ weit in das christliche Abendland hineinzieht und selbst in der TV-Serie „Lucifer“ seine eigentliche Aufgabe darstellt. Der Teufel ist in dieser Tradition ein Instrument der Gerechtigkeit Gottes, die letztlich aus rächender Vergeltung besteht.
Der Teufel kann weiter als Erklärung für das Böse in der Welt stehen. Von Anfang an, von der Schlange im Paradies bis zur Erklärung von Drogen und Glücksspiel, ist der Teufel der Böse. Das macht sowohl seine Faszination als auch seine Gefährlichkeit aus. Das Böse ist letztlich die Triebfeder der Teufelsfigur. Weil es im Kontext christlicher Theologie, vor allem unter der Prämisse des Monotheismus eigentlich nicht richtig erklärt werden kann, muss es einen Ausweg geben, mit dem der gläubige Mensch leben kann. Der Teufel ist dieser Ausweg und nimmt die Schuld am Bösen auf sich. Wie dies der theologischen Deutung gelingt, soll dieses Buch in den weiteren Kapiteln zeigen. Dazu müssen zunächst die Entstehung des Monotheismus knapp skizziert und seine Auswirkungen auf das Böse und den Teufel erläutert werden. Im nächsten Schritt werden die drei grundlegenden Antworten auf die Frage nach dem Bösen vorgestellt, die sich in der Bibel finden; grob zusammengefasst:
Erstens: Gott ist schuld am Bösen.
Zweitens: Der Mensch ist schuld.
Drittens: Der Teufel ist schuld.
Im sechsten Kapitel wird eine philosophische Antwort auf die Frage nach dem Bösen vorgestellt, die ihrerseits auf den Teufel als Symbol Bezug nimmt. Und schließlich soll im letzten Abschnitt eine moderne theologische Antwort skizziert werden, eingedenk dessen, dass es aus christlicher Sicht wohl kaum eine überzeugende Lösung geben wird.
Der Teufel heute
Interessant für jetzt ist nur: Der Teufel ist in der Gegenwart keine eindeutige Figur mehr. Was man von ihm hält, hängt hochgradig davon ab, wer man selbst und in welchem religiösen und weltanschaulichen Milieu man zuhause ist. Und deutlich ist auch: Man kann selbst ein hochmoderner Mensch sein, der sich mit aktuellen Smartphone-Modellen auskennt, Grundlagen künstlicher Intelligenz versteht und ganz in der Moderne angekommen ist – und trotzdem an den Teufel glauben. Religiöse Aufklärung kann sich komplett von sonstigen Lebenseinstellungen abkoppeln. Man kann ein fundamentalistisches Bibelverständnis haben und trotzdem ein moderner Mensch sein. Diese paradoxe Tatsache muss man sich gerade im Hinblick auf den Teufel vor Augen führen. Der Mensch kann eine paradoxe Identität leben, indem er seine religiösen Überzeugungen von seinem sonstigen Denken unabhängig macht. Wer an den Teufel glauben will, wird sich von keinem theologischen Argument und keiner historischen