der Schusterjunge war nicht ungefällig gewesen. Auf See fängt jeder als Tollpatsch an. Aber der Graupenpamps lag dem Schiffer noch im Gedärm, und das verlorene Ankergeschirr war ein Schaden, daran lange zu knacken sein würde. Das dämpfte jede Rührseligkeit. Der Schiffer nahm die Kömflasche nochmals unter die Nase, und danach polterte er wieder auf Deck, und das Jackvoll, das dem andern zugedacht war, bezog nun der Wiederkehrer, und der ließ es geduldig über sich ergehen, weil es immerhin zu seiner Erwärmung beitrug, und weil das Leben besser ist als der Tod.
Mussel auf dem Schlick
An der Dithmarscher Küste lebten zwei Vettern, die von Jugend auf einander ähnlich sahen und auch an Wildheit der Gebärde und der Lebensauffassung keiner dem anderen nachstanden. Beider Familienname war Leweko. Harm, der eine, als Erbe eines großen Hofes, wurde Landwirt, der andere, ohne Aussicht auf Grundbesitz, machte zur Not das Abitur und begann, in Kiel dies und das zu studieren. Als der Krieg ausbrach, meldete er sich zur Marine. Doch in den langen Jahren zwischen U-Boot- und Hafendienst gelangte er, trotz allen Wagemuts durch mancherlei Zügellosigkeiten den Vorgesetzen unbequem, nicht weiter als bis zum Obermaaten, spielte alsbald bei den Umsturzgeschichten eine Rolle, wurde fast, ob zu Gebühr oder nicht, von den eigenen Kameraden standrechtlich erschossen und kam, abgekühlt und nach Ruhe verlangend, in seinem Heimatorte wieder an.
Dort hatte er mit einiger Aussicht ein Mädchen sehr gern gehabt, die Tochter des Schulmeisters, sich auch öfter während des Feldzuges um sie gekümmert. Sein Vetter hingegen, sein Rivale auch in dieser Sache wie in manchen sonstigen Wettbewerben der einstigen Jugend, war schon länger wieder daheim; sein Draufgängertum hatte ihm bei der Linie bis zum Offizierspatent verholfen, so daß er mit Glück die einst Umstrittene für sich gewann; zumal man über den anderen, der unzweifelhaft vor Jahren die besseren Chancen gehabt hatte, allerhand der dunkeln Kieler Gerüchte selbst bis an diesen weltverlorenen Strand dringen hörte. Was Wunder, daß keiner von dem »roten Mariner« recht etwas wissen wollte. Selbst seine Eltern und Geschwister empfingen ihn voller Sorge, daß nun bald das Dorf von nichts als seinen angeblichen Untaten rede. Nur der alte Strandvogt war bereit, den guten Kern unter der zerlumpten Paradejacke zu erkennen. Seit je war ihm dieser unruhigere und empfindsamere Sproß der Lewekos lieber gewesen als dessen hochnäsig zielstrebiger Vetter, der sich schon als Deichgraf zu fühlen begann.
Der Heimgekehrte, dessen Neckname vordem Mussel gewesen war, weil er als ein vorzüglicher Muschelfischer gegolten hatte, besann sich auf die See hinterm Deich, lieh sich ein Boot und eine Möwenflinte bei dem gütigen Vogt und fuhr auf eine als unrentabel von der Domäne längst aufgegebene Schlickinsel weit draußen im Watt, wo die Tiden seit Urzeit Land wegschlürfen und Land ausspeien wie am zweiten Schöpfungstage. Dort hauste er in der während des Krieges verlassenen Schäferhütte, die auch kurz als Beobachtungsstation gedient hatte. Er schoß Seehunde und Wattvögel und begann mit den Fellen und Bälgen einen Tauschhandel nach Helgoland, das er fast alle vierzehn Tage, Sommer und Winter, in seinem unmöglichen und vielgeflickten Boote aufsuchte. Niemand störte ihn dabei. Eine Anzahl Legenden bildeten sich über den anwachsenden Luxus seiner Haushaltung, jedoch auch über die lebensgefährlichen Maßnahmen, die er zur Verteidigung seiner Schlickfestung ersonnen hatte, indem er angetriebene oder aufgefischte Minen in die Prielzugänge rund um die Insel verankert haben sollte.
Inzwischen fand die Hochzeit des Vetters statt, der das Hoferbe angetreten hatte. Die junge Frau sah am Hochzeitsmorgen ein ausgesucht schönes Seehundsfell auf der Hausschwelle liegen. Ihr Mann, der darüber zukam, wie sie es in einer Truhe verbergen wollte, meinte, Lunte wittern zu müssen, und ließ nicht nach, in der Folgezeit auf Schritt und Tritt zu sticheln und zu argwöhnen, zumal die junge Frau angab, erst am Trautage selbst durch den Vogt erfahren zu haben, daß Mussel Leweko noch in der Gegend sei, sie habe es aber weder damals noch jetzt glauben können. Die mißtrauischen Redensarten ihres Gatten, die schließlich, obwohl gänzlich grundlos und wohl gerade deswegen, in Grobheiten und sogar Handgreiflichkeiten ausarteten, weckten notgedrungen immer stärker die Erinnerung an jenen durch die Kieler Ereignisse Verrufenen, Erinnerung früher, längst vergessener Zärtlichkeiten, die auf dem trüben Grunde dieser Ehe mählich übergroß und verlockend aufzublühen begannen.
Inzwischen war der Behörde verschiedentlich Unliebsames zu Ohren gekommen über einen Schmuggel mit unverzolltem Rum zwischen Helgoland und der Dithmarscher Küste. Der alte Strandvogt, der die Aufmerksamkeit der Amtsstellen nach der dänischen Grenze zu abzulenken gewußt hatte, starb um diese Zeit. Seinen Posten übernahm Harm Leweko, und eine seiner ersten Vogtshandlungen war, sich mit einer Anzahl Gendarmen, die ihm aus Schleswig zur Verfügung gestellt wurden – mit den ortszuständigen hatte er sich längst überworfen und bezichtigte sie allesamt der Unfähigkeit –, nach jener Schlickinsel einzuschiffen, die er als Schmuggelnest lange und laut schon in Verdacht gehabt hatte. Sie kamen auch unter Beobachtung aller Vorsicht durch den Ostpriel. Von einer Minensperre zeigte sich nicht eine Spur, und der neue Strandvogt lachte verächtlich über das Gefasel der albernen Koogbauern, die über Nacht einen Seeteufel und Störtebeker aus dem albernen, weggelaufenen Mariner und Muschelschlucker gemacht hätten. Er prahlte, er werde den Käskerl sanft wie ein Milchlamm und ganz allein aus seiner Schlammbude holen. Somit ließ er die Landjäger, die sich in der grauen, naßkalten Nordsee-Einsamkeit sowieso nicht zu Hause fühlten, an der Vorlandsgrenze im Boot zurück und stieg unbegleitet, allerdings die Flinte hinterm Knast, in seinen Schaftstiefeln den über zwei Kilometer breiten, öden Quellgürtel hinan, der ungestaltet, seltsam und häßlich wie etwas eben Geborenes die flache Kuppe Sandes umgab, die hinter einem kniehohen Dünensaum den Unterschlupf für den Gesuchten bot. Es war schon spät im Jahr, Vogelschwärme zogen wie schmale, enggestrickte Reusennetze durch die Diesigkeit des Tages.
Er soll mir nicht entgehen! sagte sich der Neuvogt. Denn er sah Rauch über der Bude aufsteigen. Aber er erstaunte, als er statt der morschen Schäferhütte, oder vielmehr hinter den Resten dieser, beim Näherkommen ein, wenn auch niedriges, so doch kräftig anmutendes Haus aus frischem Holz erspähte.
Einer der Gendarmen, der durch das Glas vom Boote aus des Vogtes Weg zu verfolgen vermochte, bemerkte, wie er die Flinte nach vorn schob und hinter dem Dünenkamm dort verschwand. Nach einer Weile hörte man aus jener Richtung einen Knall, der nichts anderes als ein Gewehrschuß sein konnte, und dem bald ein zweiter folgte. In Eile machten sie sich nun auf, um über das Vorland an die Hütte zu gelangen; ihre Füße sanken ein, und es dauerte fast eine halbe Stunde, ehe sie den niedrigen Dünensaum erreichten. Dort trat ihnen der Strandvogt entgegen und führte sie in das Haus, wo er im Vorraum auf ein Dutzend Rumfässer wies. In der Stube, die mit aller Behaglichkeit eingerichtet war, lag ein Mann erschossen auf dem Boden. Er war in Seehundsfell gekleidet. Neben seiner gekrampften Rechten lag ein noch neues Jagdgewehr. Ja, ja, das also war Mussei, der große Schmuggler, der rote Kieler. Da lag er nun wie ein toter Eskimo. Er sah ganz so aus, wie ihn die Bauern und Fischer zu beschreiben pflegten.
»Es ging nicht anders, er oder ich!« sagte der Vogt, »hier ging sein Schuß und Gott sei Dank vorbei in die Wand.«
Die Beamten gaben zu, daß die Sache hätte unglimpflicher ablaufen können. Der Vogt erklärte, ein Protokoll schon aufgenommen zu haben, zeigte auch dergleichen und ließ die Gendarmen den Tatbestand durch Unterschrift bekräftigen. Im übrigen müsse man sich sputen, sagte er sodann, da die Witterung unbeständig sei. Man vermied, an der Lage des Toten Wesentliches zu ändern, nahm ein Faß Rum als erstmaliges Zeugnis mit, und nachdem ein Wachtmeister flüchtig und hinterderhand zu einem seiner Kameraden bemerkt hatte, der Erschossene und der Strandvogt sähen einander merkwürdig ähnlich, und der Angeredete ihn taktvoll daraufhin anstieß, es seien ja auch Vettern gewesen die beiden, fuhr man wieder von dannen.
Der Strandvogt zeigte von da ab ein sonderbar verändertes Wesen, obschon die gerichtliche Untersuchung seinem energischen Vorgehen durchaus Billigung angedeihen ließ. Er war sanfter, namentlich gegen seine Frau, und beide machten oft einen seltsam heiteren Eindruck. Manche wollten allerdings seit der unseligen Tat eigentümliche Gedächtnisstörungen und eine veränderte Redeweise bei dem Strandvogt bemerkt haben. Vielleicht war ihm die Sache nähergegangen, als man hätte vorher vermuten mögen. Immerhin schien ihm, und wohl namentlich auch der Frau, die ein Kind zu erwarten begann, die Gegend nicht mehr zu gefallen. Er legte sein Amt nieder, verkaufte den Hof und wanderte nach Kanada aus.