Roy Jacobsen

Das Dorf der Wunder


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      Roy Jacobsen

      Das Dorf der Wunder

      Roman

      Aus dem Norwegischen von

      Gabriele Haefs

      Saga

      Das Dorf der Wunder

      Aus dem Norwegian von Gabriele Haefs

      Originaltitel: Hoggerne © 2005 Roy Jacobsen

      Alle Rechte der deutschen Ausgabe © Osburg Verlag Hamburg 2009 www.osburg-verlag.de. Alle Rechte der Ebookausgabe:© 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

      All rights reserved

      ISBN: 9788711449646

      1. Ebook-Auflage, 2016

      Format: EPUB 3.0

      Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

      SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

      »Wenn man vor Sokrates und Karl XII. steht, und Ersterer sagt: Komm mit mir und wir machen eine Stunde Philosophie, und Letzterer sagt: Nein, komm mit mir und wir stürzen den russischen Zaren, dann werden wir alle lieber Karl folgen.«

      Samuel Johnson

      1

      Suomussalmi wurde bereits am 7. Dezember angesteckt, nachdem die viertausend Einwohner evakuiert worden waren, nur ich nicht, ich war hier geboren, hatte mein ganzes Leben hier verbracht und konnte mir nicht vorstellen, an irgendeinem anderen Ort zu leben – und als dann plötzlich ein Wesen in weißer Uniform vor mir stand und von einem Blatt ablas, dass ich wegsollte, bohrte ich die Hacken in den Schnee und ließ mich nicht bewegen, so ist es wohl überall in der Welt, es gibt immer einen, mindestens einen, der nicht dasselbe tut wie alle anderen, er braucht nicht einmal zu wissen, warum nicht, und hier in Suomussalmi war ich das also.

      Es ist seltsamerweise entsetzlich und erregend zugleich, wie eine einsame Salzsäule dazustehen und das gewaltige Flammenmeer in den eiskalten Wäldern zu sehen, denn es war eine schöne Stadt gewesen, die einzige, die ich überhaupt als etwas anderes kannte denn als Ansammlung von Dächern und Wäldern, und alles war schon vorbei, ehe ich auch nur bis zwanzig hatte zählen können.

      Auch der Kaufmann Antti hatte gesagt, ehe er weggegangen war, hier kannst du nicht bleiben, Timo, die Russen können jeden Moment hier sein, und die bringen dich um.

      »Idioten bringen die nicht um«, hatte ich geantwortet. »Ich kenne die Russen.«

      »Red keinen Unsinn, die bringen alle um, ob sie sie nun kennen oder nicht, es ist Krieg, Timo.«

      Also blieb mir nichts anderes übrig, als zu wiederholen, was ich schon gesagt hatte, dass niemand mich anrühren würde, aber das hielt ich für unnötig, da ich es ja schon gesagt hatte, weshalb ich einfach Antti so ansah, wie ich Leute ansehe, wenn es nicht nötig ist, etwas zu sagen. Antti, für den ich seit dem Tod meiner Eltern gearbeitet habe und der mich nie auf kränkende Weise bezeichnet hat, obwohl es schon vorgekommen ist, dass er sowohl mit meinem Verhalten als auch mit meiner Arbeit unzufrieden gewesen ist.

      »Die Holzscheite müssen kürzer sein«, sagt er zum Beispiel.

      »Du hast gesagt, sie sollen einen halben Meter lang sein«, antworte ich zum Beispiel und hole sogar den Zollstock und schlage wie als eine Art Drohung damit auf meine Handfläche, um ihm die Wahrheit zu beweisen, falls er seine Behauptung nicht zurückzieht.

      »Die Kirche hat keinen so langen Ofen«, beharrt er dann zum Beispiel, »und jetzt will der Pastor das Holz nicht haben.«

      »Dann verkauf es an Marja.«

      »Ihr Café hat keine Gäste mehr.«

      »Was, wenn ich es noch einmal teile, dann sind die Scheite fünfundzwanzig Zentimeter lang und du kannst sie an Lehrer Mäkinen verkaufen, die Schule hat doch kleine Öfen?«

      »Das wird doppelte Arbeit«, macht Antti dann zum Beispiel weiter, »und du verdienst ja ohnehin so gut wie nichts.«

      Aber das ist eine Abschweifung, denn wie es uns hier auf dieser Welt geht, ist in der Regel unsere eigene Sache, da stimmen mir die meisten zu, und da ist es seltsam, dass es so oft wiederholt werden muss; ich brauchte außerdem kein Geld, ich hatte den Hof und die Erde und den Wald, ich konnte fischen und jagen, ich bekam von Antti gratis Milch und Mehl und auch ein paar Konserven, oder er zog die Kosten von meinem Lohn für das Holz ab, es spielte keine Rolle, denn solange er selbst den Preis für Milch und Holz festsetzte, war der niedrig, weil Antti nicht nur geizig war, sondern weil ich ihm auch leidtat – ich tue den meisten in der Gegend leid, wenn sie sich nicht über mein Aussehen ärgern oder sich aus anderen Gründen über mich lustig machen, aber darum habe ich mich nie gekümmert, denn oft können dieselben Menschen, denen ich im einen Moment leidtue, im nächsten Moment zu der Überzeugung gelangen, dass sie sich über mich lustig machen müssen, als ob sie vom Mitleid müde würden; am einen Tag nennen sie mich den Idioten, am nächsten geben sie mir Milch oder Speck, ich bekomme selten beides gleichzeitig, ich bin die Art Mensch, die immer nur wenig auf einmal bekommt, was bedeutet, dass ich lernen musste, mit dem wenigen hauszuhalten, was ich habe, auch mit dem, was in den Augen anderer keinen Wert hat.

      Jetzt half ich Antti und seinen beiden kleinen Söhnen beim Packen, und das, was er unbedingt mitnehmen musste, kannte keine Grenzen.

      »Hast du nicht vor, zurückzukommen?«, fragte ich, während wir den Rocken und die riesige Nähmaschine hinaustrugen, die er seit dem Tod seiner Frau Anna nicht mehr benutzt hatte.

      »Doch«, erwiderte er. »Aber das Haus wird abgefackelt werden, und das will ich nicht mit ansehen, beeil dich.«

      »Willst du dann neu bauen, wenn du zurückkommst?«

      »Ja, und es soll genau hier stehen, das Grundstück läuft ja nicht weg.«

      »Ich werde darauf aufpassen.«

      Aber Antti lächelte nicht an diesem Tag. Er sagte, es sei das Traurigste, was er in seinem ganzen fünfundvierzig Jahre langen Leben erlebt habe, vielleicht mit Ausnahme des Tages, an dem Anna gestorben war, das war jetzt fast genau ein Jahr her.

      Wir füllten den großen und zwei kleine Schlitten mit Möbeln und Bettwäsche und Kleidern und Besteck, und mit Annas Hinterlassenschaften, und wir entfernten Konservendosen und getrocknete Lebensmittel aus dem Laden, den Rest vernichteten wir; das Einzige, was in den fremden und weit offenen Räumen noch vorhanden war, waren die Öfen, es war ein Haus mit Echo und grauen Wollmäusen geworden, die an den Fußbodenleisten entlanghuschten und den Ratten Angst einjagten.

      »Kann ich hier wohnen?«, fragte ich und nickte zur hinteren Kammer hinüber, wo ich ein Bett und einige meiner Habseligkeiten hatte.

      »Das hier wird abgefackelt!«, schrie Antti. »Geht das denn nicht in deine Birne!«

      »Wenn ich hier wohne, kann ich es vielleicht retten«, sagte ich. »Dann musst du nicht neu bauen, wenn du zurückkommst.«

      Antti sah aus, als ob ich ihm leidtäte und als ob er mich verachtete. Aber dann legte er mir die Hand auf die Schulter und schaute traurig in eine andere Richtung, das war eine Angewohnheit von ihm, dass er in eine andere Richtung blickte, wenn er wusste, dass mein bloßer Anblick unsere gebrechliche Freundschaft auf die Probe stellen könnte.

      »Dann wirst du erschossen«, sagte er. »Der Befehl stammt von Mannerheim persönlich.«

      »Das ist meine Sache«, sagte ich.

      Dann waren wir mit dieser Sache fertig, so, dass wir beide unseren Willen durchgesetzt hatten, wie wir das immer tun, ohne dass einer von uns daran irgendeine Freude hat.

      Wir kamen überein,