Roy Jacobsen

Das Dorf der Wunder


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ersten Schlitten und nahm auch die Zügel des Pferdes dahinter, das den Schlitten zog, in dem Harri saß, sein ältester Sohn, der wiederum die Zügel des Pferdes hielt, das den hintersten Schlitten zog, in dem Jussi saß, und dahinter trottete Kävi, frei wie ein Vogel, so dass sie aussahen wie ein kleiner Zug, eine Lokomotive mit zwei Anhängern, wie sie da auf knirschenden Kufen auf die Brücke nach Hulkoniemi zuglitten, und keiner von ihnen schaute sich um, soweit ich sehen konnte, denn ich blieb auf der Treppe stehen und winkte, bis sie verschwunden waren, zusammen mit Hunderten von anderen Schlitten und Autos und Haustieren und auch einigen Treckern; alles, was kriechen und gehen konnte, verließ Suomussalmi an diesem dunkelsten Tag in Anttis Leben, dem 7. Dezember 1939.

      In keiner Stadt war es jemals so still gewesen. Nirgendwo brannte ein Licht, kein Schritt war in dem sandtrockenen Schnee zu hören, keine Stimmen, kein Gebrüll, kein Hundegebell, keine Pferde oder Kühe, die in ihren Ställen standen und stampften und prusteten, die Geräusche der Stadt, die waren verschwunden, und vor allem – kein Rauch aus den Schornsteinen; was eine Stadt mit viertausend Einwohnern gewesen war, mit ebenso vielen Tieren, wenn nicht mehr, war innerhalb weniger Stunden in eine willkürliche Ansammlung aus leeren Holzschalen verwandelt worden, die die Luft anhielten, in dem eiskalten Winter, der hier in den Wäldern wütet und hier gewütet hat, seit Menschen und Tiere auf die Idee gekommen sind, erschaffen zu werden.

      Ich verließ den Laden und wanderte in der plötzlichen Leere umher, fast um sie anzufassen und auszukosten. Aber dann fiel mir auf, dass viele Türen unverschlossen waren, ja, offen standen, und dass einzelne Einwohner selbst kleine Ladungen Stroh und Holz angekarrt hatten, damit das Anzünden den Soldaten leichter fallen würde, und ich erkannte vieles von dem Holz, es war meins, die Art, wie es gehackt und zerteilt war, ja, ich habe fast meine eigene Zinke, wenn es um Holz geht.

      Einige hatten auch in ihre Häuser Holz gebracht, hatten es zusammen mit Stroh und Zeitungspapier auf dem Boden verteilt und auf Treppen und in Schränken aufgestapelt. Und es war deutlich, dass nicht alle so viel von ihren Habseligkeiten mitgenommen hatten wie Antti. In einem Haus fehlten nur die Schlafzimmermöbel, in einem anderen schien die Küche das Unentbehrlichste gewesen zu sein, ein drittes sah aus, als seien Diebe am Werk gewesen oder als sei Panik ausgebrochen, das Chaos dort war unbeschreiblich, als hätten sie ihre Einrichtung ganz bewusst zerstört.

      Aber in einer Hütte, die dem alten Luukas und seiner Frau, die wir Tante Roosa nannten, gehörte, schien nichts zu fehlen, dagegen rochen alle Räume frisch geputzt, die Betten waren sorgfältig gemacht, und es war so ordentlich, als ob sie es für Weihnachten vorbereitet hätten. An den Wänden hingen noch immer die Fotografien der drei Söhne und der Verwandten des alten Ehepaares in Raatevaara, der kleinen Stadt gleich vor der Grenze, wo angeblich vor einer knappen Woche die Russen durchgebrochen waren, die Truppen, die sich jetzt auf dem Weg nach Suomussalmi befanden.

      Ich war oft bei Luukas und Roosa gewesen, um Holz abzuliefern, und der Alte hatte auch von mir ein Bild gemacht, neben Kävi und dem Holzwagen, auf dem ich mich aufgestellt hatte wie eine Art Häuptling. Aber in der Regel hängen bei solchen Menschen nur Familienmitglieder an der Wand, deshalb lag ich sicher in einer Schublade oder einer Schachtel. Aber ich rührte nichts an, ich lief nur umher und betrachtete diese seltsame und frischgeputzte Ruhe und Ordnung – alles, was die Menschen brauchten, dazu ihre Erinnerungen, und dann war es tot, tot wie Schnee.

      Aber weshalb ich mich eigentlich entschloss, auch dieses Haus zu retten, zusammen mit Anttis, war, dass ich eine Heugabel fand und auf den Heuhaufen losging, den Luukas vor der Tür hinterlassen hatte, ich schaffte ihn in den Stall und in den Mistkeller. Dort fand ich auch ein halbes geschlachtetes Schwein, das die alten Leute offenbar vergessen hatten oder das zusammen mit dem Stall hatte in Flammen aufgehen sollen.

      Ohne weiter darüber nachzudenken – mir blieb ganz einfach nichts anderes übrig –, machte ich mich daran, das halb gefrorene Schwein zu zerlegen, wickelte die Fleischstücke in eine Plane und hängte sie an eine ein Stück tiefer im Wald stehende Tanne, wo sie sich im Frost Wochen und Monate halten konnten, wenn sie nur vor Tieren geschützt wären. Und während ich noch dort stand und mich fragte, ob ich auch eine Marderfalle aufstellen sollte, hörte ich zum ersten Mal den Krieg, fernes Motorendröhnen, das langsam in dem windstillen Winter näher kam, aus derselben Richtung, in die die Evakuierten verschwunden waren, danach fielen auch einige Schüsse, sehr weit weg, im Osten, Kanonendonner.

      Ich ging langsam zurück durch die dunklen Straßen und erreichte Anttis Laden, als gerade die ersten Militärfahrzeuge über die Brücke rollten, und ein Jeep hielt vor mir – während die anderen weiter in die Stadt hineinfuhren, gefolgt von weiß gekleideten Soldaten, die hinaussprangen und mit Stroh, Reisig und Petroleumkanistern in die wehrlosen Häuser eindrangen.

      Ein Mann von Mitte dreißig stieg aus dem Jeep und maß mich mit einem Blick, der bedeuten mochte, dass er seinen eigenen Augen nicht traute, in einer Stadt, die der Vernichtung preisgegeben war.

      »Was machst du hier?«, fragte er.

      »Ich wohne hier«, sagte ich.

      »Die Stadt muss evakuiert werden«, sagte er. »Die Russen kommen ... vielleicht schon morgen.«

      »Das macht mir nichts aus.«

      Wieder sah er aus, als stehe er vor etwas, an das er nicht so ganz glauben konnte. Sein Fahrer sprang aus dem Wagen und fing an, mit ihm zu reden, aber an meinem Gehör war noch nie etwas auszusetzen, und der Mann, der mit mir gesprochen hatte und offenbar Offizier war, kam zurück und fragte, ob ich der Dorftrottel sei. Er sagte das ohne einen Anflug der vielen Arten von aasigem Lächeln, die es so gibt, als habe er mir eine ganz normale Frage gestellt, nach meinem Alter, zum Beispiel, und deshalb antwortete ich einfach, ja, der sei ich wohl, und ich würde hier bleiben, selbst wenn er drohte, mich zu erschießen, denn Suomussalmi würde ich niemals verlassen, es gebe wichtigere Dinge auf dieser Welt als ein schnödes Menschenleben.

      Das entlockte ihm immerhin ein Lächeln, wenn auch ein unfreiwilliges.

      »Hast du eine Waffe?«, fragte er nach einer Weile und lutschte an den Eisstücken, die an seinem zerzausten Schnurrbart baumelten.

      Ich ging ins Hinterzimmer von Anttis Lager, wo ich auch mein Werkzeug aufgestapelt hatte und das, was ich an Lebensmitteln besaß, kam wieder heraus und zeigte ihm das Gewehr.

      »Eine Moisin«, sagte er nachdenklich und fuhr mit bloßen Händen über meinen alten Schatz, so dass ich den Eindruck hatte, dass er darüber staunte, wie gut erhalten der war. »Ein Armeegewehr?«

      »Ja. Von meinem Vater.«

      »Hast du auch Munition?«

      Ich gab ihm auch die Munition. Er legte sie und das Gewehr in den Jeep und drehte sich halb zu mir um und schien noch immer über das hier nachzudenken, was ihm solche Beschwerden machte, dass er nicht weiterfahren konnte.

      Hinter den Fenstern der nächststehenden Häuser loderten jetzt die Flammen, rufende Männer liefen zwischen Autos und Gebäuden hin und her, und in dem Moment, in dem die ersten Glasscheiben barsten, brannten Anttis Nachbarhäuser alle beide lichterloh, in etwas, das aussah wie eine doppelte Belichtung. Wir mussten vor der glühenden Hitze zurückweichen, der Offizier bedeutete dem Fahrer, den Wagen in Sicherheit zu bringen, und ging langsam hinterher, während ich dort stehen blieb, wo ich eben stand, mit der Hitze wie einer steinharten Sonne im Rücken.

      Nach nur wenigen Schritten hielt er inne und kam zurück, zog mich mit sich auf die Brücke zu, holte einen Tabaksbeutel hervor und fragte, ob ich eine Zigarette wolle.

      Ich sagte Nein.

      »Wir müssen auch das da abbrennen«, sagte er und nickte zu Anttis Haus hinüber, während der Zigarettenrauch wie zwei weiße Schlangen aus seinen vibrierenden Nasenlöchern quoll.

      »Das kann ich machen«, bot ich an. Und wieder trat dieser nachdenkliche Ausdruck, der zu nichts führte, in seine Augen. »Ich hab keine Angst«, fugte ich hinzu. »Vor gar nichts.«

      Jetzt war es so heiß, dass wir uns auch nicht mehr auf der Straße aufhalten konnten. Ich hatte schon vorher Brände gesehen, aber nur aus der Entfernung, und immer nur bei einem einzelnen Haus, und das, wovon ich jetzt wirklich nicht das