Wenn es nur zwei waren, müssen sie sehr kräftig sein. – Weiter im Text: Sie wurden geschlagen. Die Täter haben einen Gegenstand benutzt, den sie im Haus vorgefunden haben. Das Ehepaar scheint ja Kunst gesammelt zu haben …« Der Privatdozent räusperte sich. »Das Schlaginstrument, wenn ich es so nennen darf, lag keine 80 Zentimeter von der weiblichen Leiche entfernt und hatte Blutanhaftungen. Es handelt sich um eine Skulptur.« Er räusperte sich abermals und zog einen Zettel aus der Jackentasche. »Eine 90 Zentimeter messende massive Bronzeskulptur mit dem Titel ›Diaphragmatisches Rumpfstück‹ von John Hengst-Brueback aus Ahrenshoop.« Nun seufzte er.
»Wie war noch mal der Titel?«, fragte KDD-Mann Krüger nicht ohne Süffisanz.
Geldschläger kam um eine Antwort herum, weil Staatsanwalt Bormann Krüger ins Wort fiel und wissen wollte, ob sich Dr. Geldschläger mit einheimischer Kunst auskenne.
»Nein«, entgegnete der Gerichtsmediziner pikiert. »Das stand alles auf der Bodenplatte der Skulptur. – Wollen wir jetzt eine Kunstdebatte führen oder darf ich fortfahren?«
»Bitte fortfahren!«, sagte Gunnar Wendel.
»Um das Ehepaar zu quälen, haben die Täter den Hals einer Weinflasche der Marke … tja …« Geldschläger blickte etwas unschlüssig auf seinen Zettel. »Schlah…tina? Also es schreibt sich am Anfang mit so einem Z mit einem umgekehrten Dach drauf …«
»Ein Hatschek«, platzte Uplegger heraus und hätte sich sofort auf die Lippen beißen mögen, denn Geldschläger konnte seit seinem universitären Aufstieg keine Menschen ertragen, die etwas wussten, was er nicht kannte.
»Meinetwegen so etwas«, sagte er aufgebracht. »Hatschek oder wie auch immer. Es scheint jedenfalls ein jugoslawischer Wein zu sein. – Jajaja, Herr Kollege, ich weiß: Jugoslawien gibt es nicht mehr. – Die Täter haben den Hals der Flasche abgeschlagen und den Geschädigten damit tiefe Ritzwunden beigebracht. Zu diesem Zweck haben sie beiden zunächst den Oberkörper entblößt. Die Details erfahren Sie aus meinem Bericht nach der Obduktion.«
»Der erste Eindruck war also richtig«, bemerkte Ann-Kathrin Hölzel.
»Welcher erste Eindruck?«
»Dass sie gefoltert wurden.«
»Kann man so sagen«, meinte Dr. Geldschläger und steckte seinen Zettel ein.
Annalena Meissner, die 54 Jahre alt war und im Labor des Instituts für Ostseefischerei arbeitete, war zutiefst verstört und wurde während des Gesprächs immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt. Barbara hatte ihr zugesichert, diese Erstbefragung diene nur einem ersten Eindruck und würde daher vielleicht eine Viertel-, höchstens eine halbe Stunde in Anspruch nehmen; erst an einem der folgenden Tage müsse sie zu einer Vernehmung in der Ulmenstraße erscheinen.
Meissner hatte den Schlüssel zum Haus erhalten, um die Pflanzen zu gießen, aber auch, um den Briefkasten zu leeren, die Post auf der Flurgarderobe zu deponieren und allgemein nach dem Rechten zu schauen. Einmal in der Woche sollte sie den Rasen sprengen und sich auch um die Gartenpflanzen kümmern. Das war sozusagen ein Liebesdienst um Gotteslohn, allerdings brachten ihr die Klaas’sens immer einen Karton sehr guten Weins und ein riesiges Stück luftgetrockneten Schinken aus Istrien mit. Auch kümmerten sie sich um ihre Wohnung, wenn Annalena Urlaub machte. Allerdings gab es in dieser Hinsicht einen auffälligen Unterschied: Das Ehepaar verbrachte oft ein Vierteljahr an der Adria, während Meissner nie länger als drei Wochen verreiste.
»Und sie fahren immer nach Kroatien?«, erkundigte sich Barbara.
»Seit Jahren. Dorothee … sie hat damals noch im Kulturhistorischen Museum gearbeitet, bevor sie sich dann selbstständig machte.«
»Was macht sie denn beruflich?«
»Sie arbeitet als Kunsthistorikerin, Kunsthändlerin und Kuratorin. Freiberuflich. Wenn Sie Zeitung lesen, müssen Sie ihren Namen eigentlich kennen, denn gerade in der letzten Zeit war sie viel in der Presse. Sogar im Fernsehen. Im Nordmagazin habe ich sie mindestens zweimal gesehen.« Annalena Meissner kamen die Tränen und sie nestelte ein frisches Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche, mit dem sie sich über die Augen fuhr. »Zum 55. Jubiläum der Städtepartnerschaft zwischen Rostock und Rijeka hat sie die Ausstellung in der Kunsthalle organisiert. Oder kuratiert, so heißt das wohl.«
Barbara wusste augenblicklich, wovon die Frau sprach, obwohl sie die Ausstellung nicht gesehen hatte und auch keinen Grund sah, diesen Mangel zu beheben. In der Ostsee-Zeitung hatte man Bilder gezeigt, auf deren Anblick sie gern verzichtete. »Der Titel ist ›Rostock 55 Rijeka‹, nicht wahr?«
Annalena Meissner nickte. »Es gibt auch eine Parallelausstellung in Rijeka. Die heißt ›Rijeka 55 Rostock‹. Dorothee präsentiert …« – ein kurzes Aufstöhnen – »Dorothee hat dort Künstler aus Mecklenburg-Vorpommern präsentiert. Und hier bei uns natürlich Künstler aus Rijeka. Wobei, es geht ja um eine Partnerschaft … also es hängen immer Werke von Gästen und Einheimischen zusammen in den Ausstellungen.«
»Verstehe. Ich muss Sie leider bitten, mir so genau wie möglich zu beschreiben, was heute Abend passiert ist. Aber zuvor möchte ich noch wissen, woher Sie Frau Klaas und natürlich auch ihren Mann kennen.«
Meissner nickte und wischte sich noch einmal über das Gesicht. »Wissen Sie, ich habe meine ganze Kindheit und Jugend in Reutershagen verbracht. Wir haben in der Kuphalstraße gewohnt, also direkt am Schwanenteich. Wie weit mag es zur Kunsthalle gewesen sein? Fünf-, sechshundert Meter? Aber, ich muss es zugeben, meine Eltern hatten einen sehr eingeschränkten Horizont. Obwohl mein Vater Ingenieur war und meine Mutter Ökonomie studiert hatte.«
Eigentlich war jetzt nicht die Zeit für Annalena Meissners Lebensgeschichte, doch Barbara schwieg in der Hoffnung, etwas Relevantes zu erfahren.
»Mein Vater hat auf der Neptunwerft gearbeitet, allerdings nicht für die Werft selbst, sondern für die dortige Außenstelle der Schiffswerft Rechlin. Sie haben Rettungsboote entworfen, Rettungsmittel für die Seefahrt überhaupt. Meine Mutter war im VEB Schiffselektronik, zuletzt war sie Abteilungsleiterin. Beides gehörte ja zum Kombinat Schiffbau und … Verzeihung, ich will nicht abschweifen.« Meissner klaubte ein weiteres Papiertaschentuch aus der Tasche, behielt es aber nur in der Hand. »Sie sind studierte Menschen … beide leben noch, im PflegeWohnPark Kühlungsborn … Ja, studierte Leute, aber ihre Interessen beschränkten sich auf Wohnung, Garten, Datsche und Lada. Dieses Auto, Sie wissen sicher? Und nach der Wende? Nur noch Reisen! ›Wir müssen ja was nachholen‹, haben sie gesagt und sind jedes Jahr an die spanischen Mittelmeerküsten gefahren, an Orte, an denen man Deutsch spricht. Sie wissen weniger über Spanien als ich, die ich nur einmal für eine Woche in Sevilla gewesen bin.«
Nun war sie doch wieder abgeschweift, was Barbara mit einem Zusammenziehen der Brauen quittierte.
Meissner begriff sofort. »Kurz und gut, ich bin nie in der Kunsthalle gewesen. Aber dann … Es ist Jahre her … Ich habe eine Bekannte, wir waren früher an der Heinrich-Schütz-Schule, und sie arbeitete damals im Rathaus. Unter diesem Oberbürgermeister, wissen Sie, für den sich Kultur auf Windjammerparaden, Bier und Bockwurst reduzierte. So hat das jedenfalls Dorothee ausgedrückt. Da wollte wohl die Stadtverwaltung aus der Kunsthalle ein Autohaus machen. Und da endlich habe ich mir gesagt: Das geht nicht! So kann man mit einer Kultureinrichtung nicht umgehen! Als gäbe es nicht genug Autohäuser. Warum werfen wir die Rostocker Filetstücke immer nur schmierigen Typen in den Rachen? Nee! Und ich bin Mitglied im Förderverein ›Freunde der Kunsthalle‹ geworden. Keinen Tag habe ich diesen Schritt bedauert.«
»Und dort …«, fragte die nun doch etwas enervierte Barbara, »dort haben Sie Frau Klaas kennengelernt?«
»Ja. Und später auch ihn. Also den Mann. Michael. Er ist inzwischen auch Mitglied.«
Der Chef der Spurensicherung, Manfred Pentzien, bat zu Tisch. So nannte er es, wenn er ausgewählten Mitarbeitern der Mordkommission gestattete, einen Tatort näher in Augenschein zu nehmen. Bisher war das Haus der Familie Klaas allein sein Reich gewesen, nun war er bereit, sein Herrschaftswissen zu teilen.
Es war Uplegger, der den Chef Gunnar Wendel ins Haus begleitete. Zunächst