Thilo Koch

Briefe aus Krähwinkel


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sentimentaler als Ihr Richtigen.

      Anhalter Bahnhof sind wir auch vorbeigefahren. Alles tot, immer noch. Wie oft kam ich da an, in Deinem Alter und jünger, aus Elsterwerda, mit dem Dresdner Eilzug. Wie oft fuhr ich da ab. 16.44 Uhr, ich weiß es noch genau. Und wenn der Koffer im Netz war, das Fenster wieder hoch, das Taschentuch nach dem Winke-Winke zusammengefaltet, und wir ratterten durch Lichtenrade, Richtung Zossen, fing ein langes Selbstgespräch an: Mensch Junge, is det ne Stadt, wa? Mann, und da mußte mal durch . . .

      Und da bin ich auch durch, wenn auch erst mit erheblicher Zugverspätung — so’n kleiner Weltkrieg kam dazwischen. Und da war ich nun wieder, paar Amerika-Jahre dazwischen, und da hatten sie mich am Hilton (ein Amerikaner in Berlin, hahaha) vorgefahren, in ihrem guten alten grünen VW, und der Zweimeterzehn-Portier hatte kaum heruntergereicht, und dann hatte mich ein Boy zehn Stock nach oben gefahren: »Sie war’n wo’ lange nich da, der Herr« — und dann mache ich das Kippfenster auf, es liegt zum Zoologischen Garten hin, und da ist Nachmittags-Tanztee, und da spielen sie ausgerechnet:

      Weißt Du, wo die Blumen sind,

      wo sind sie geblieben?

      Immer hab ich dabei zwei Stimmen im Ohr. Marlenes natürlich, guttural-sinnlich, Gänsehautfördernd, schauerlichschön, und Deine, wie Du es summst an Deinem Bungalow-Fenster, Washington-Suburbia, abends, vor dem violetten Sonnenuntergang über den Wäldern von Virginia. Sah’ es nicht immer alles aus, wie von Grandma Moses gemalt?

      Where have all the flowers gone,

      picked by young girls everyone.

      Where have all the young girls gone,

      gone to young man everyone.

      Where have all the young man gone,

      gone to soldiers everyone.

      Where have all the soldiers gone,

      gone to graveyards everyone.

      Where have all the graveyards gone,

      gone to flowers everyone . . .

      Kitsch, ich weiß. Aber dies — long time passing, long time ago, dies mir in Berlin. Es nahm mich hin, trug mich fort. Später stand ich auf dem Waldfriedhof, zuerst am Grabe meiner Mutter, später am Grabe Gottfried Benns. Sie waren ein Jahrgang: 1886. Sie starben fast im selben Jahr. Da gibt es diese Zeile von ihm:

      Nicht im Sommer sterben,

      wenn alles hell ist,

      und die Erde für Spaten leicht.

      Aber es war ein brennend heißer Sonntag mit tiefblauem Himmel, einem märkischen Himmel trotzdem, als wir ihn 1956 begruben. Mein liebster Benn-Vers:

      Leben ist Brücken schlagen,

      über Ströme die vergehn.

      Where have all the graveyards gone? Meines Vaters Grab ist unerreichbar weit schon lange, hundert Kilometer von dem seiner Frau entfernt. Das wäre weit, heutzutage im Jet-Zeitalter? Oh, hundert Kilometer, das kann sehr weit sein, unerreichbar weit, wenn es hundert Kilometer sind, südlich von Berlin.

      Aber Schluß. War froh, als ich wieder zu Hause war, in Krähwinkel, hier im südlich idyllischen Deutschland, ja: zu Hause. Berlin, das ist vielleicht noch einmal etwas für Euch, für Dich und Deinen Bruder. Warum nicht. Ich war bei dieser Reise immerfort à la recherche des temps perdus.

      Für Dich, Tochter, ist das noch kein weiter Weg. Was heißt »verlorene Zeit« — mit Achtzehn. Oder ist es doch schon da, dieses Verloren, oh Verloren des Thomas Wolfe? Wenn ich mich recht entsinne, las ich Proust doch schon in Deinem Alter zum ersten Mal — Im Schatten junger Mädchenblüte. Welch ein poetischer Titel, fällt mir heute auf. Habt Ihr Nachkriegskinder einen Sinn für Poesie, für diese Poesie?

      Du hast nie Chopin gespielt. Man hört auch im Radio kaum noch mal ein Notturno. Aber Elise von Beethoven, ich werde es nie vergessen, wie Du eines Sonntagmorgens an Deinem kleinen grauen Klavier saßest, das mit den Messing-Füßen, in dem rosa-weiß-karierten Kleidchen mit der Spitzenbordüre an Ärmeln und Ausschnitt (hast Du es noch?) und Elise spieltest, selber ganz und gar Elise. Deine Stirn war noch sehr rund und ernst.

      Bin heute komisch weich gestimmt, ganz auf h-moll. Kommt, weil ich von Berlin erzähle. Dabei wird Krähwinkel jeden Tag schöner. Die Wiese vorm Haus brachte als neueste Attraktion Klatschmohn heraus. Lauter kleine Halt-Signale. Ach ja, möchte auch gar nicht mehr abfahren. Nach Berlin. Oder nach Bonn. Ich bin Dir aber — wie im letzten Brief versprochen — eine Beschreibung unserer Bundeshauptstadt schuldig. Und Du, Du bist mir endlich wieder einen schönen Schreibebrief aus München schuldig.

      Mein Vater, Dein Großvater, erzählte gern eine Geschichte aus seiner Jugend. Die ging so: Seine Mutter, Deine Urgroßmutter, war eine westfälische Bauerntochter, eine geborene Hagensieker. Sehr genau und sparsam. Wenn sie ihren Ältesten, meinen Vater, Deinen Großvater, in den Keller schickte, etwas raufzuholen, mußte er immer pfeifen. Pfiff er mal nicht, rief es sofort: »Willi! Willi, warum pfeifst Du nicht?« Willi hätte ja einen Apfel oder ein Stück Wurst schnell im Vorbeigehen unten verspeisen können . . .

      Tochter! Tochter, warum schreibst Du nicht? Was treibst Du? Verspeisest Du etwas, schnell im Vorübergehen, unten in München? Wart man lieber, bis es auf den Tisch kommt.

      Das sagt Dir, mit einem Kuß, bei Euch in Bayern auch Busserl genannt,

      selber Schuld! Wer sich ins Münchner Nachtleben stürzt, kommt darin um. Ist ja rührend, daß Du endlich schreibst. Anstatt anzurufen: Vater, I have got some Problems. Krähwinkel liegt schließlich nicht aus aller Welt. Schwupps, wär’ ich bei Dir gewesen. Hab mir doch immer gedacht, daß Dir diese Schwabinger Pullover-Jünglinge eines Tages dutzendweise zum Halse raushängen. Aber gleich ein Mann in meinem Alter? Heiliger Freud! Ich meine, den Psy-cho-ana-ly-ti-ker . . .

      Hätt’ ich Dir bloß nicht die Tote von Beverly Hills empfohlen. Wer denkt denn auch, daß diese Tochter gleich Kunst und Leben vermischt, verwechselt, vertauscht. Zugegeben, solch einer Lou, dem Fräulein Weiß (in Pfleghaars Film), würd ich auch kein Autogramm — oder so — verweigern (in meinem Krähwinkel oder in Beverly Hills). Aber wenn die eigene Tochter . . ., dann sieht alles plötzlich ganz anders aus. Ganz anders aus!

      Ob ich Deinen »Geliebten« kenne? ’türlich kenn’ ich den Mann. Man kennt ihn. Das tiefzerfurchte Riemenschneider-Gesicht. Hat nichts mit Riemen schneiden zu tun; Tilman Riemenschneider war ein — ach, laß Dir das, potz Kuckuck, doch von Deinem Bildhauer-Professor erklären. Dafür ist er ja wohl zuständig. Dafür — ja! Das volle weiße Haar, seine »beseelten« Hände, wie Du Dich auszudrücken beliebst. Du und schwärmen! Kind, you have really got some Problems. Hast Du?

      Im übrigen — keine Angst: Ohne daß Du mich nicht rufst, komme ich nicht. Schließlich kennt Dein »Vatilein« nicht nur diesen »Großen Künstler und Menschen« (uff), sondern auch — — — seine langjährige Gefährtin. Ja, staunste, was? Und die ist aus Buda-Budapescht (oder irgendwo dort) und hat nicht nur rote Haare und grüne Augen, sondern wirklich Paprika im Blut.

      Woher ich das weiß? Tja, denkste, ich hätt’ nie ’n Münchner Fasching mitgemacht? Denkste! Sie muß verreist gewesen sein, als »er« diesen »Nacht-klubbummel« mit Dir gemacht hat. Gemach, Gemach, Jessicka, so heißt die Gute, wenn ich mich recht erinnere, kam noch immer bald zurück. Warte nur, balde. Und dann hat »er« Problems. Jawohl. Und Du, Du hältst Dich dann besser wieder an sein Werk statt an ihn, den großen Menschen und Mann, den ach so großen. Denn Kunst und Leben, Tochter, sind zweierlei. Aber ich gebe zu: eines von beiden ist langweiliger, besonders wenn man gerade die sweet seventeen hinter sich hat.

      Ein Tag später.

      Briefe wie diesen schickt man besser nicht »postwendend« ab. Das Fohlen hat jetzt einen elektrischen Zaun. Zweimal nur ist es drangestoßen und mit allen vier Giraffenbeinen gleichzeitig in die Luft gesprungen, dann wußte es Bescheid. Nun können wir die Weide leicht einteilen. Jeden Tag ein Stück; der Zaun läßt