wie vor an Grundlagenforschung, d.h. an umfangreicheren empirischen Studien oder gar large scale assessments, zu deutschsprachigen Schülerinnen und Schülern und ihrem Wortschatzwissen und -können; insbesondere oberhalb der Primarstufe, für ältere Schülerinnen und Schüler, gibt es kaum Untersuchungen zur Differenzierung und zum Reichtum des Wortschatzes (Mathiebe 2018: 75). Daher wird bis heute auf die so genannte DESI-Studie (Deutsch Englisch Schülerleistungen International; Klieme/Beck 2007; DESI-Konsortium 2008) und ihr Modul „Wortschatz Deutsch“ und damit Daten von über 10000 Neuntklässlern aus den Jahren 2003/04 verwiesen (vgl. etwa Kilian 2010; Balsliemke/Peschel/Runschke 2015; Mathiebe 2018), um den Bedarf deutschsprachiger Schülerinnen und Schüler an Wortschatzförderung aufzuzeigen. Dabei wird die Operationalisierung von (semantischem) Wortschatzwissen in der DESI-Studie durchaus kritisch gesehen, da die Testaufgaben nicht tiefgehend genug seien, um den Handlungscharakter des Wortwissens in ausreichendem Maße abzubilden (vgl. hierzu wie zur Zusammenfassung der DESI-Ergebnisse zum Wortschatz Mathiebe 2018: 75ff.). Für die Wortschatz-Testung in DESI wurden zwei Varianten der Wortverwendung in drei Aufgabentypen benutzt: in Variante 1 mussten die Zielitems frei produziert werden, indem vorgegebene Wortfelder auszufüllen waren (Typ 1), darüber hinaus waren bildlich dargestellte Begriffe zu benennen (Typ 2). Beide Aufgabentypen überprüfen den Umfang des produktiven Wortschatzes der Schülerinnen und Schüler. Bei Aufgabentyp 3 sollten Schülerinnen und Schüler Vorgaben in Text- und Satzzusammenhängen rezeptiv in Bezug auf bestimmte Nuancierungen überprüfen; hierdurch wurde das Wortverständnis und die Qualität der lexikalischen Einträge im mentalen Lexikon der Schülerinnen und Schüler getestet. Bei der Auswertung setzte DESI drei verschiedene Kompetenzniveaus an:
1 hochfrequente Wörter, die zu den ersten 2000 registrierten Wörtern im Langenscheidt-Grundwortschatz gehören (z.B. Ofen, meinen)
2 frequente Konkreta und Abstrakta, die nicht mehr zum Grundwortschatz zählen (Standuhr, defensiv)
3 seltenere Fach- oder Fremdwörter sowie Redensarten (Stellwerk, trojanisches Pferd).
Die Auswertung ergab, dass fast 40 % der Schülerinnen und Schüler in ihren Wortschatzfähigkeiten noch unter Niveau A lagen, wobei starke Schulformunterschiede festgestellt werden: Während an der Hauptschule 71,4 % das Niveau verfehlten, waren dies am Gymnasium lediglich 7,6 % der Schülerinnen und Schüler. Insgesamt erreichten knapp 30 % das Niveau A, 14,5 % das Niveau B und 17,9 % das Niveau C (aber immerhin 44,2 % der Schülerinnen und Schüler am Gymnasium das Niveau C). Neben der Schulform kann die Familiensprache als deutlicher Hinweis auf die Wortschatzleistung gelten, denn monolingual Deutsch sprechende Schülerinnen und Schüler erzielten in allen Schularten bessere Leistungen als diejenigen, die im Elternhaus neben Deutsch eine weitere Sprache oder gar kein Deutsch sprechen. Gleichzeitig war aber zu beobachten, dass mehrsprachige Schülerinnen und Schüler am Gymnasium durchschnittlich besser abschnitten als monolingual Deutsch sprechende Schülerinnen und Schüler in den anderen Bildungsgängen. Insgesamt schnitten die Schülerinnen und Schüler im Vergleich zu den anderen Deutschmodulen im Bereich Wortschatz am schlechtesten ab, was als deutliches Indiz für den Bedarf an Semantik- und Wortschatzarbeit im Deutschunterricht gewertet werden muss – und zwar umso mehr, als die Wortschatzleistungen in DESI mit den anderen Deutschmodulen, also den weiteren sprachlichen Teilfertigkeiten (außer Schreiben!), korrelieren. Semantisches Wissen und angemessenes Können in diesem Bereich spielen demnach eine zentrale Rolle für sprachliche Bildung und Fähigkeiten ganz generell.
Nachdem der Schülerwortschatz über lange Jahre weder in der fachdidaktischen Forschung und Theorie noch in der Unterrichtspraxis prominent thematisiert wurde, mehren sich angesichts solch alarmierender Ergebnisse in den letzten Jahren die Stimmen in verschiedensten Disziplinen (etwa Psychologie, Pädagogik, Psycholinguistik, Sprachdidaktik), die fordern, dass Wortschatzarbeit ein größeres Gewicht in der fachdidaktischen Diskussion und im Unterricht zukommen muss. Es sei die genuine Aufgabe der Schule,
Bedeutungen und Konzepte, die die Wörter bezeichnen, zu vermitteln und zu erklären;
unbekannte Bedeutungen unbekannter Wörter zu vermitteln;
zu ermöglichen, ungewöhnliche Verwendungsweisen vertrauter Wörter kennenzulernen und damit Möglichkeiten zu schaffen, Mehrdeutigkeiten von Wörtern wahrzunehmen und die Rolle des Kontexts bei der Desambiguierung zu erkennen und den Kontext dementsprechend zu nutzen (Ulrich 2011a: 180f. mit Verweis auf den Pädagogen und Psycholinguisten John B. Carrol);
die Beziehungen der zu einem Netzwerk verknüpften Wörter und Wendungen zu erhellen und bewusst zu machen;
im Rahmen der präzisen Bedeutungsbestimmung Bedeutungsabgrenzungen zu ermöglichen und dadurch
für Ausdrucksangemessenheit und Ausdrucksnuancen zu sensibilisieren, indem etwa beim Lesen und Zuhören die Aufmerksamkeit über die Inhalte hinaus auch auf die Wortwahl im Text gelenkt werde. (Pohl/Ulrich 2016b: XIII)
Der Ort, an dem diese auf die Semantik ausgerichtete Wortschatzarbeit stattfinden solle, sei vor allem der Bereich der Sprachreflexion (Pohl/Ulrich 2016b: XIII), für den Ulrich fordert: „Weniger satz- und syntaxzentrierten Grammatikunterricht und mehr wortschatzorientierte Sprachreflexion im Deutschunterricht!“ (Ulrich 2011a: 181).
Wie aber bereits angedeutet und u.a. auch in DESI empirisch nachgewiesen, hängen die Wortschatzfähigkeiten eng mit den anderen sprachlichen Teilfertigkeiten und curricularen Bereichen zusammen, da ein quantitativ und qualitativ ausreichender Wortschatz „Voraussetzung für ein differenziertes Leseverständnis, für eine gelingende Gesprächsführung und für einen sach- und situationsangemessenen schriftlichen Ausdruck“ (Pohl/Ulrich 2016b: XIII) und damit Grundlage für schulischen Erfolg (McElvany et al. 2016: 45) wie gesellschaftlich angemessenes und erfolgreiches Handeln ist. Eine angemessene Wortschatzkompetenz wirkt sich auf alle anderen sprachlichen Kompetenzen positiv aus (vgl. Ulrich 2016a).
Übung 123a
1.2.4 Zusammenhänge von Wortschatzfähigkeiten und anderen sprachlichen Teilfertigkeiten
„Spracharmut“, so Ulrich (2014: 1), sei vor allem „Wortschatzarmut“, mangelnde Sprachfähigkeiten sind demnach in großen Teilen auf mangelnde Wortschatzkompetenz rückführbar. Ergebnisse der empirischen Bildungsforschung deuten darüber hinaus darauf hin, dass eine zu geringe Wortschatzkenntnis ursächlich generell für Lernschwierigkeiten in unterschiedlichen Kompetenzbereichen ist (Kilian 2011: 161) – so, wie es spätestens seit der ersten PISA-Studie im Jahre 2000 als nachgewiesen gilt, dass mangelnde Lesefähigkeiten zu Defiziten beim Lernen auch in den Sachfächern führen. Nun wird aber die Lesefähigkeit ihrerseits partiell mitbestimmt durch die Wortschatzkenntnis. Eine „systematische Sprachförderung im Bereich ‚Wortschatz und Semantik‘ im Regelunterricht des Deutschen als Erstsprache“ mit dem Ziel der Förderung einer lexikalisch-semantischen Kompetenz (ebd.) ist also eine unabdingbare Basis für jegliche Sprachförderung. Wortschatzarbeit wirke, so Steinhoff (2013: 12) „per se integrativ“, da der Wortschatz „für das Sprechen, Zuhören, Lesen und Schreiben gleichermaßen relevant und folglich für die Förderung aller sprachlichen Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen von großer Bedeutung“ (ebd.) und damit die „Schaltstelle für das Sprachwissen und den Spracherwerb“ und „Bindeglied der verschiedenen Teilgebiete des Deutschunterrichts“ sei (Steinhoff 2009: 3, 24). Kinder und Jugendliche, die über einen umfangreichen Wortschatz verfügen, sind eher dazu in der Lage, die sprachlich-fachlichen Erwartungen der einzelnen Unterrichtsfächer zu erfüllen als Kinder und Jugendliche, die einen schwächeren Wortschatz aufweisen (Steinhoff 2013: 16).
Schon wenn 3 % der Wörter eines Textes nicht verstanden werden, kann das Textverständnis insgesamt blockiert werden (Apeltauer 2008). Der enge Zusammenhang zwischen Wortschatzfähigkeiten und Leseverständnis ist schon länger recht gut untersucht und nachweisbar