dieses schrecklichen Ereignisses reiflich geprüft hatten, waren darüber so bestürzt, dass sie Madame Calas, die sich an einen einsamen Ort zurückgezogen hatte, drängten, sich an den Thron zu wenden und dort um Gerechtigkeit zu bitten. Sie konnte sich kaum aufrecht halten und wirkte hinfällig. Zudem jagte der geborenen Engländerin, die es frühzeitig in eine französische Provinz verschlagen hatte, der bloße Name der Stadt Paris Schauder ein. Die Hauptstadt des Königreichs, so vermeinte sie, müsse noch barbarischer sein als die des Languedoc. Schließlich aber siegte die Pflicht, das Andenken ihres Mannes geradezurücken, über ihre Schwäche. Sie war kaum noch recht lebendig, als sie in Paris ankam. Dort fand sie, zu ihrem Erstaunen, freundliche Aufnahme, Hilfe und Tränen.
In Paris hat die Vernunft die Oberhand über den Fanatismus, so stark er auch sein mag, während in der Provinz der Fanatismus fast immer die Oberhand über die Vernunft besitzt.
[18]Herr de Beaumont, berühmter Advokat des Pariser Parlaments, übernahm als Erster ihre Verteidigung und erstellte ein Gutachten, das von fünfzehn anderen Advokaten mitunterzeichnet wurde. Herr Loiseau verfasste mit nicht geringerer Eloquenz eine Denkschrift zugunsten der Familie. Herr Mariette, Advokat am Stadtrat, setzte ein juristisches Gesuch auf, das allgemein überzeugte.
Die drei hochherzigen Verteidiger der Gesetze und der Unschuld überließen der Witwe die Erträge der Buchausgaben ihrer Plädoyers.5 Paris und ganz Europa zeigten sich vor Mitleid erschüttert und forderten Gerechtigkeit gegenüber der unglücklichen Frau. Das Urteil war von der gesamten Öffentlichkeit längst gesprochen, bevor der Pariser Stadtrat es unterzeichnen konnte.
Trotz des ständigen Sturzbachs von Angelegenheiten, der ein solches Gefühl meist gar nicht zulässt, drang dieses Mitleid bis zu ihm durch. Auch führt das ständige Wahrnehmen von Unglücklichen zur Gewöhnung und kann das Herz zusätzlich verhärten. Hier aber ließ man sich rühren. Die Mutter bekam ihre Kinder zurück. Man sah sie alle drei mit Trauerflor bedeckt und tränenüberströmt, und nach einer Weile weinten auch ihre Richter.
Und doch hatte diese Familie immer noch einige Feinde; schließlich ging es um Religion. Mehrere Personen – Angehörige einer Gruppe, die man in Frankreich les dévots nennt, die Devoten6 – sagten laut, es sei besser, einen alten Calvinisten zu rädern, als acht Räte des Languedoc bloßzustellen, indem man sie zu dem Eingeständnis trieb, dass sie sich geirrt hatten. Man bediente sich sogar der Formulierung: »Es gibt mehr Magistrate als Calasse«; und dies sollte heißen, man müsse die Familie Calas der Ehre der [19]Magistratur opfern. Die das äußerten, kamen gar nicht auf die Idee, dass die Ehre der Richter – wie die der anderen Menschen auch – darin besteht, ihre Fehler wiedergutzumachen. Man glaubt in Frankreich nicht, dass der Papst, der sich mit seinen Kardinälen berät, unfehlbar sei; dann möchte man doch meinen, dass acht Richter in Toulouse es ebenso wenig sind. Die übrigen Leute, soweit verständig und objektiv, sagten, dass das Urteil in ganz Europa für null und nichtig erklärt würde, selbst wenn die Obrigkeit sich zu besonderen Rücksichtnahmen verpflichtet sehe wie jene, die den Rat von Paris hinderten, das Verdikt zu kassieren.
So war der Stand der Dinge in dieser seltsamen Affäre, als ebendiese ein paar unparteiischen, aber empfindsamen Leuten die Absicht eingab, der Öffentlichkeit ein paar Reflexionen über Toleranz, Milde und Erbarmen zu präsentieren. Da konnte Abbé Houtteville in seiner schwülstigen und tatsachenwidrigen Deklamation noch so dagegen wettern und das Mitleid ein »monströses Dogma« nennen – die Vernunft nennt es doch Erbgabe der Natur.
Entweder haben die Richter von Toulouse, mitgerissen vom Fanatismus des Pöbels, einen unschuldigen Familienvater rädern lassen – ein Vorgang ohne Beispiel; oder jener Familienvater und seine Frau haben, unter Mitwirkung eines zweiten Sohnes und eines Freundes, diesen Verwandtenmord begangen, ihren ältesten Sohn erwürgt – ein Vorgang wider die Natur. In beiden Fällen hätte der Missbrauch der allerheiligsten Religion zu einem gewaltigen Verbrechen geführt. Es liegt also im Interesse der Menschheit zu prüfen, was die Religion praktizieren sollte: Milde oder Barbarei.
[20]Kapitel II
Folgerungen aus der Hinrichtung des Jean Calas
Wenn die weißen Bußbrüder die Ursache zur Exekution eines Unschuldigen, zum totalen Ruin und zum Auseinanderreißen waren, wenn hier nicht allein die Ungerechtigkeit, sondern eine Hinrichtung Anlass zu Schmach und Schande gibt; wenn die Eilfertigkeit, mit der jene weißen Bußbrüder jemanden, der laut unseren barbarischen Gebräuchen durch den Dreck hätte geschleift werden müssen, wie einen Heiligen feierten, einen ehrsamen Familienvater aufs Rad brachten – dann sollten jene Bußbrüder tatsächlich Buße tun, und zwar für den Rest ihres Lebens; sie und die Richter sollten weinen, aber nicht in langen weißen Kutten und mit einer Maske vorm Gesicht, die ihre Tränen verbirgt.
Den Bruderschaften tritt man allgemein mit Achtung entgegen; sie sorgen für Erbauung; aber welchen großen Nutzen sie dem Staat auch bereiten können – wiegt dieser das abscheuliche Übel auf, das sie verursacht haben? Sie scheinen durch den Glaubenseifer begründet worden zu sein, der im Languedoc die Katholiken gegen jene beseelt, die wir Hugenotten nennen. Offenbar haben da welche geschworen, ihre Brüder zu hassen; wir haben genug Religion, um zu hassen und zu verfolgen, aber nicht genug, um zu lieben und zu helfen. Was, wenn an der Spitze dieser Kongregationen Schwärmer stünden, wie früher bei bestimmten Vereinigungen von Handwerkern oder auch Herrschaften, welche die Gewohnheit, Visionen zu erleben, zu einer Kunst gemacht und in ein System gebracht [21]haben, wie einer unsere beredsamsten und kenntnisreichsten Magistrate sagt? Was, wenn man in den Bruderschaften gewisse dunkle Räume anlegt, genannt Meditationskammern, auf deren Wände Teufel mit Hörnern und Krallen gemalt sind, dazu flammende Schlünde, Kreuze und Dolche, und über das Bild der heilige Name Jesu? Welch ein Schauspiel für ohnehin schon betörte Augen und für die Phantasien jener, die ebenso entflammt wie ihren Führern gefügig sind!
Es gab Zeiten – dies ist uns nur zu bekannt –, da die Bruderschaften gefährlich waren. Fratrizellen und Flagellanten etwa haben für gehörige Unruhe gesorgt. Die Heilige Liga ging aus solchen Vereinigungen hervor. Warum wollte man sich dergestalt von den anderen Bürgern unterscheiden? Wähnte man sich vollkommener? Das allein schon wäre eine Beleidung dem Rest der Nation gegenüber. Wollte man etwa, dass alle Christen in die Bruderschaft eintraten? Das ergäbe ein tolles Schauspiel: das gesamte Europa im Kapuzenmantel und hinter Masken mit zwei kleinen runden Löchern vor den Augen! Meint man ernsthaft, Gott sei ein solcher Aufzug lieber als normaler Justaucorps? Und damit längst kein Ende der Bedenklichkeiten: dieser Habit ist die Uniform der Kontroversisten, die ihre Gegner auffordert, sich zu bewaffnen; sie kann eine Art Bürgerkrieg in den Köpfen entfachen, und der mündete vielleicht in schlimme Ausschreitungen – wenn der König und seine Minister nicht so weise wären, wie die Fanatiker verrückt sind.
Wir wissen zur Genüge, welchen Preis sie gefordert haben, die Streitigkeiten zwischen Christen über Dogmen: Blut ist geflossen, auf den Schafotten wie auf den [22]Schlachtfeldern, vom vierten Jahrhundert an bis in unsere Zeit. Beschränken wir uns hier auf die Kriege und die sonstigen Schrecken, welche die Zwistigkeiten um die Reformation auslösten und was deren Quelle in Frankreich war. Vielleicht kann eine kurze und getreue Schilderung dieses ganzen Unheils einigen Menschen, die nicht genau Bescheid wissen, die Augen öffnen und gutgesinnte Herzen rühren.
[23]Kapitel III
Der Reformgedanke im 16. Jahrhundert
Als mit der Wiedergeburt der Wissenschaften die Geister sich zu erhellen begannen, beschwerte man sich allgemein über Missbräuche; jeder muss zugeben, dass diese Klage berechtigt war.
Papst Alexander VI. hatte die Tiara öffentlich gekauft, und seine fünf Bastarde teilten sich, was sie einbrachte. Sein Sohn, der Kardinalherzog von Borgia, ließ mit dem Einverständnis des päpstlichen Vaters eine Reihe hochgestellter Persönlichkeiten eines gewaltsamen Todes sterben, um ihre Herrschaftsbereiche an sich zu reißen, darunter Vitelli, Urbino, Gravina, Oliverotto und noch hundert andere mehr. Julius II., vom gleichen Geist beseelt, exkommunizierte Ludwig XII. und überließ dessen Gebiete dem nächstbesten Okkupanten. Und er selber, Helm auf dem Kopf und Panzer vor der Brust,