irgendwas für dich«, sagte Greathouse, nachdem sie alle lauschenden Ohren abgeschüttelt hatten. »Lillehorne kannst du vielleicht was vormachen, aber mir nicht. Sag, was du weißt.«
Matthew war nahe daran, es zu sagen. Er dachte, beim nächsten Schritt würde er seinem Freund alles erzählen, aber … er tat es nicht. Hudson in diese Sache hineinziehen, ohne dass es Beweise gab? Ihn zu irgendwelchen Handlungen gegen … was? Schatten? … aufzustacheln? Oder gegen ein spöttisches Grinsen von Jason und Rebecca Mallory, das er sich vielleicht nur eingebildet hatte? Nein, das konnte er nicht. Dies war ein persönliches Duell, er gegen sie, und diesen Kampf würde er still und allein austragen müssen.
»Ich weiß nichts«, antwortete er.
Greathouse blieb stehen. Im schwachen Lichtschein der Laternen von New York wirkte seine Miene gleichmütig. Seine kohlschwarzen Augen schauten wissend drein. »Du lügst«, sagte er. »Ich lasse mich nicht anlügen.«
Matthew erwiderte nichts. Wie konnte er auch? Es war nutzlos, die Wahrheit mit einer weiteren Lüge zu tarnen.
»Ich geh nach Hause«, verkündete Greathouse nach ein paar Sekunden. Sein Zuhause war ein Gasthaus in der Nassau Street, das von der netten, aber recht neugierigen Madam Belovaire betrieben wurde. Matthew hatte sich bereits Gedanken darüber gemacht, ob Greathouse die Witwe Donovan in seine Zimmer schmuggelte oder sie ihn in ihre. So oder so wurde viel geschmuggelt. »Nach Hause«, wiederholte Greathouse betont. Er zog seinen Mantelkragen enger um den Hals zusammen. »Lass mich wissen, wenn du dich dafür entscheidest, mit dem Lügen aufzuhören. Ja?« Er machte einen Schritt in Richtung Nassau Street und drehte sich dann wieder zu Matthew um. Erstaunt nahm Matthew die Mischung aus Verärgerung und Verletzung in Greathouses Gesicht wahr. »Vergiss nicht«, sagte Greathouse. »Ich bin immer auf deiner Seite.« Und dann folgte er mit steifer Würde seinem auf die Erde tappenden Gehstock.
Matthew stand einsam im Wind.
Seine Gedanken waren ein einziges Durcheinander, genauso verworren, wie ihm sein Leben im Moment vorkam. Er begann sich in nördlicher Richtung die Queen Street entlang auf den Heimweg zu machen. Er kam an den Segelschiffen und dem Sklavenmarkt vorbei. Der Wind, jetzt stürmischer und kälter, peitschte aus verschiedenen Richtungen auf ihn ein, wie um ihm das Gleichgewicht in der Welt zu rauben. Als er mit hochgezogenen Schultern, das Kinn an den Hals gepresst, am letzten der vertäuten Schiffe vorbeikam, warf er einen Blick auf die Dunkelheit des Meeres hinaus. So viel Finsternis, dachte er. Die Finsternis war unermesslich groß, und er spürte, wie sie an seiner Seele zog. Er spürte sie nach ihm schnappen, ihn hänseln, seinen Namen verspotten und aus seinem Verlangen nach der Wahrheit eine Lüge machen.
Und diese Finsternis besitzt einen Namen, dachte er.
Dieser Name lautete Professor Fell.
Abrupt blieb er stehen und spähte in die schwarze Nacht.
Was war das eben? Ein kurzes, rotes Aufblitzen? Weit, weit draußen war es gewesen. Falls es tatsächlich existiert hatte. Bildete er sich rote Signallampen ein? War er dabei, wie Hooper Gillespie zu werden und in der Einsamkeit seines Verstands als nächstes Selbstgespräche zu führen? Aufs Meer hinausschauend wartete er, aber die rote Lampe – oder was es auch gewesen sein mochte, falls es überhaupt dagewesen war – zeigte sich nicht wieder.
Er erinnerte sich an das, was Greathouse ihm über Professor Fell erzählt hatte. Es kann sein, dass Fell inzwischen kurz davorsteht, das zu erschaffen, was wir vermuten: ein Verbrecherreich, das die Kontinente überspannt. All die kleinen Haie – die in ihren eigenen Meeren tödlich genug sind – haben sich um diesen großen Hai versammelt und sind sogar bis hierher geschwommen …
Dieser große Hai, dachte Matthew, hatte große Zähne und große Augen. Er sah alles und wollte alles verschlingen. Sogar – vielleicht insbesondere – das Herz eines jungen Mannes, der sein Leben in Massachusetts als Sohn eines Pflügers und einer Frau begonnen hatte, die beide früh gestorben waren, und der dann auf den Schweinehof einer Tante und eines Onkels auf Manhattan Island geschickt wurde. Nachdem er auf einem Heuwagen aus dem Kerker aus Schweinescheiße und betrunkener Gewalt geflüchtet war, hatte er sich einer Gruppe anderer Kinder im Hafen angeschlossen, nur um später buchstäblich vom langen Arm des Gesetzes eingefangen, verschnürt und dem Waisenhaus der Stadt übergeben zu werden. Dort hatte ihn ein intelligenter, freundlicher Schulmeister erzogen, aber weiteres Unglück wartete bereits. Natürlich, neues Unglück gab es immer … daraus bestand das Leben. Es stärkte einem entweder den Charakter oder man zerbrach daran. Dann arbeitete er als Gerichtsdiener für zwei Richter, bis ihm schließlich der Posten als Problemlöser für die Herrald-Vermittlung von niemand Geringerem als Katherine Herrald höchstpersönlich angeboten wurde.
Schließlich? Nein, Matthew hatte keinerlei Zweifel daran, dass seine Lebensgeschichte noch lange nicht zu Ende war. Aber im Moment fühlte er sich in Ungewissheit verloren, in einem grauen Tal, das ihn nur durch die richtigen Entscheidungen und Handlungen freigeben würde; doch welche dies waren, wusste er nicht.
Und dort draußen im dunklen Meer schwamm der große Hai. Zog seine Kreise, näher und näher.
Eine Hand berührte seine Schulter. Er erstarrte fast zur Salzsäule.
»Entschuldige!«, sagte Berry und zuckte zurück. Sie trug einen schwarzen Mantel mit einer dunklen Haube, in dem sie beinahe mit der Nacht verschmolz. »Warst du am Nachdenken?«
»War ich«, brachte er heraus, als er das Gefühl hatte, wieder verständlich sprechen zu können. Sein Herz war immer noch wie eine Trommel, auf die die Faust eines Irren drosch. »Weißt du nicht, dass man sich an Leute nicht anschleichen soll?«
»Entschuldige«, sagte sie und fügte hitzig hinzu: »Nochmals.«
Matthew nickte. Es war besser, den Rückzug einzutreten, als den Zorn eines Karottenkopfes zu riskieren. »Ist schon gut. Schon vorbei.« Er zuckte die Schultern. Sein Herzschlag beruhigte sich vom Galopp zum Trab, was ihn auf den Gedanken brachte, dass er ein nervenstärkendes Getränk aus der nach galoppierenden Pferden benannten Schänke in der Crown Street gebrauchen könnte – wenn Felix Sudbury denn die Türen für die Löschmänner und Schaulustigen geöffnet hatte. New York war wirklich auf dem besten Wege, zu einer Stadt zu werden, die niemals schläft. Zumindest nicht sonderlich fest.
»Matthew?«
»Ja?« Er hatte zu Boden gestarrt und hob jetzt den Blick, bis er sie ansah.
»Hast du nicht irgendeine Ahnung? Ich meine … wirklich. Irgendwas?«
»Nichts«, antwortete er ein wenig zu schnell.
Sie trat einen Schritt näher. Ihr Blick war durchbohrend und ernst. Sie akzeptierte diese Antwort nicht. »So bist du nicht«, erklärte sie. »Irgendwelche Ideen hast du immer. Vielleicht sind manche besser als andere …« Sie stockte. Er wusste, dass sie an ein gewisses Ausweichmanöver mit Pferdemist dachte, mit dem sie im letzten Sommer in einer furchtbaren Situation ihre Gesichter davor bewahrt hatten, von Falken abgerissen zu werden. »Sehr viel besser als andere«, fuhr sie fort. »Aber Ahnungen und Ideen hast du immer. Hättest du die nicht, dann wärst du nicht …« Sie stockte erneut und überlegte. »Wenn du also welche hast, Ahnungen, meine ich, dann würde ich die gern hören. Wenn du sie mir sagen möchtest.«
Er sah sie aus einem Abstand an, der gleichzeitig schrecklich groß und im Moment unangenehm klein war. Er erkannte, dass sie ihn bat, ihr zu vertrauen. Denn sie konnte in seinen Augen sehen, dass er darin etwas versteckte, in seinem Gehirn. Und sie wollte Teil daran haben.
Ein paar Sekunden lang gingen Matthew viele Dinge durch den Kopf. Was er sagen könnte. Die richtigen Worte, der richtige Ton. Ein komplizierter Satz, der der Wahrheit nahekam, um ihrer Neugierde ein Ende zu setzen, und sie unbedingt vor Gefahr zu bewahren. Aber was ihm einfiel, bestand nur aus drei einfachen Worten.
»Ich kann nicht.«
Dann wandte er sich von ihr ab und ging auf der Suche nach einem spätabendlichen Getränk in Richtung Crown Street zum Trot.
Berry blieb, wo sie war. Der Wind fühlte sich kälter an. Sie zog