die er sich lehnen konnte, aber da war keine. Immerhin schien Kenyard Clifton, oder wie er sich auch nannte, wirklich genug zu sein, um im Kerzenlicht einen riesigen Schatten zu werfen.
»Lord Mortimers Tochter ist bei ihm«, brachte Matthew heraus. »Er möchte nur noch ein bisschen mehr Zeit mit ihr haben. Werdet Ihr dies ihm gewähren?«
»Ein wie langes bisschen?« Verärgerung flammte in der Stimme auf und das Lächeln verging ihm endlich.
»Ich bin mir nicht sicher. Er ist sehr schwach, aber er nimmt sich mit aller Kraft zusammen, um …« Matthew fehlten die Worte und plötzlich kam ihm die ganze Situation geradezu absurd vor. »Hört mal, Sir! Ihr seid nicht der, als den Ihr Euch ausgebt! Ihr könnt es nicht sein!«
»Und Ihr, Sir, habt kaum genug Verstand, um den letzten Nagel in Lord Mortimers Sarg zu hämmern, wenn ich das so deutlich sagen darf. Ich habe gesagt, mein Name ist Kenyard Clifton! So heiße ich! Und bei diesem Wetter bin ich unterwegs! Und möchte wenigstens noch vor dem Morgengrauen wieder bei meiner Frau und unseren zwei Kindern sein! Wollt Ihr mir nicht die Freundlichkeit erweisen, mich zu ihm zu lassen, bevor er stirbt?« Zusammengezogene Augenbrauen schoben den letzten Rest des Lächelns weg. »Na, also gut! Hier!« Er steckte eine Hand unter seinen Umhang und zog einen braunen Umschlag heraus. »Gebt ihm den selbst, aber dem Gesetz und den Vorgaben meines Dienstherren nach muss ich anwesend sein, wenn er ihm gegeben wird!«
Matthew wurde immer verwirrter. Hatte der Tod soeben gesagt, dass er eine Frau und zwei Kinder hatte? Matthew starrte den Umschlag an. »Was ist das?«
»Vertrauliche Dokumente. Wenn Ihr das unbedingt wissen müsst. Die ein Gerichtsverfahren betreffen, das sich über viele Jahre hingezogen hat. Ich bin von meinem Dienstherrn, der Kanzlei Pierce, Campbell und Blunt geschickt worden. Aus Boston, was schrecklich weit von hier entfernt ist. Soviel ich weiß, sind die Anwälte zu einer einvernehmlichen Lösung gekommen, und die Arbeiter, die verletzt wurden, werden Schadensgeld erhalten – und die Witwen, die ihre Männer verloren haben, werden auch entschädigt. So das denn möglich ist.«
Matthew erkannte, wovon der Mann sprach. »Es geht um den Unfall in dem Gebäude. In der Wittersen-Halle.«
»Korrekt. Lord Mortimer hat seinen Anwalt vor einigen Wochen davon in Kenntnis gesetzt, dass er zu einer Einigung bereit ist, und soviel ich weiß, hat er eine große Summe Geld zur Verfügung gestellt, um den Arbeitern gerecht zu werden. Daher bin ich gekommen, um entweder ihn oder seinen bevollmächtigten Vertreter die letzten Papiere unterschreiben zu lassen.«
»Oh«, machte Matthew. Es war ein verblüfftes Geräusch, kaum zu hören. Im nächsten Moment hatte er sich wieder gefangen. »Aber … woher wusstet Ihr meinen Namen? Und meinen Beruf?«
»Ganz einfach. Ich habe den Kutscher unten am Hügel gefragt, wen er heute Abend bei diesem Wetter hergebracht hat. Der arme Kerl ist entschlossen, da unten bei seinen Pferden zu bleiben. Ist es nicht faszinierend, wie äußerst wohlhabende Männer ihre Villen immer auf den Kuppen der höchsten Hügel bauen? Leider müssen sie für diese luftige Lage oft einen Preis bezahlen. Aber jetzt … wenn Ihr mich bitte zu …«
»Mr. Corbett?«
Matthew drehte sich zu der Stimme um, die hinter ihm lautgeworden war.
Jesper Oberley stand mit einem dreiarmigen Kerzenleuchter da. Sein Gesicht war lang und ernst und voller tiefer Schatten. Sein Blick wanderte zu Kenyard Clifton, blieb ein paar Sekunden an ihm hängen und richtete sich dann wieder auf Matthew.
»Lord Mortimer ist vor ein paar Minuten verschieden«, sagte Oberley. »Miss Christina war bei ihm. Es freut mich, sagen zu können … dass Miss Christina ihrem Vater während seiner letzten Atemzüge vergeben hat … und am Ende seine Hand gehalten hat. Ich denke, es hat sie große Überwindung gekostet … ihm das zu sagen und seine Hand zu nehmen … aber Miss Christina war ganz ruhig und sehr gefasst. Ich habe sie für die Nacht zu ihrem Zimmer gebracht.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Und dieser Gentleman ist … jemand, den wir erwartet haben?«
»Er ist von einer Kanzlei in Boston«, sagte Matthew. »Er hat Papiere gebracht, die unterschrieben werden müssen. Wichtige Papiere, sollte ich sagen. Die … Leiden ein Ende setzen«, beschloss Matthew zu sagen. Ihm kam plötzlich ein Gedanke. »Vielleicht wäre es angebracht, wenn Miss Christina sie unterschreibt?«
»Sie hat über Schwindelanfälle geklagt und dass ihr der Kopf … schwimmt, wie sie es ausdrückte. Sie wollte weder etwas essen noch trinken, sondern nur alleingelassen werden. Ich glaube, das Erlebnis hat ihr alle Kraft geraubt. Aber ich danke Gott, dass sie gekommen ist. Lord Mortimer mag keine strahlend reine Seele besessen haben, aber vielleicht hat er sich zuletzt von seiner Tochter doch noch ein bisschen Frieden und Vergebung verdient.« Oberley hielt die Kerzen hoch, um Kenyard Clifton besser zu beleuchten. »Ich bedaure, dass Ihr nicht mehr rechtzeitig zu Lord Mortimer gekommen seid, Sir.«
»Ich auch. Aber … ich muss diese Papiere unterzeichnet haben, bevor ich mich wieder auf den Weg machen kann. Gibt es einen Bevollmächtigten, der sie unterschreiben kann? Die Dokumente legen klar und deutlich fest, wie viel Geld den Arbeitern zusteht, die vor acht Jahren beim Einsturz der Wittersen-Halle in London zu Schaden kamen. Es handelt sich um eine große Summe und sie wird bitter benötigt.« Clifton hielt Oberley den Umschlag hin. »Könnt Ihr unterschreiben, Sir?«
»Ich? Nein, Sir. Das kann ich in meiner Stellung nicht. Aber … Mr. Corbett ist von Lord Mortimer engagiert worden. Er könnte es unterzeichnen, denke ich.«
»Das kann ich nicht!«, sagte Matthew. »Nicht etwas so Wichtiges. Ich würde weiterhin sagen, dass Miss Christina unterschreiben sollte.«
»Ich möchte sie nicht nochmals stören, Sir. Sie sagte, dass sie sich unbedingt ausruhen muss.« Oberley nahm Clifton den Umschlag aus der Hand und gab ihn Matthew. »Wenn Ihr mir folgen wollt, Gentlemen. Ich führe Euch in ein Zimmer, wo Feder und Tinte stehen.«
Matthew nahm sich die Zeit, das Dokument gewissenhaft durchzulesen, bevor er unterschrieb. Es war tatsächlich sehr verständlich aufgesetzt und verfügte, dass eine Summe, bei der es sich durchaus um die Hälfte des Vermögens des reichen Mannes handeln mochte, unter vierzehn Arbeitern und drei Witwen verteilt wurde. Eine Kopie davon wurde auch noch unterschrieben und Oberley zur sicheren Verwahrung gegeben. Dann wickelte Kenyard Clifton sich in seinen Umhang, setzte seinen Dreispitz wieder auf und wünschte eine gute Nacht.
»Kommt sicher nach Hause«, sagte Matthew zu dem jungen Mann, der der Tod hätte sein können, aber stattdessen für viele, die unter Lord Mortimer gelitten hatten, ein neues Leben war.
Clifton verließ das Haus. Bess schloss hinter ihm die Tür, und die Standuhr tickte weiter.
»Ich kann Euch und Dr. Baker Essen und Wein anbieten, Sir«, sagte Oberley, als er mit Matthew durch den Korridor ging. »Bess ist eine ausgezeichnete Köchin, und Lord Mortimer hat im Keller einige äußerst gute Weine.« Er lächelte. Seine Augen schauten noch traurig drein, aber das Lächeln kam von Herzen. »Ich glaube, Lord Mortimer würde Euch den besten Jahrgang anbieten wollen.«
Matthew nickte. »Gern. Und ich werde auf Lord Mortimers Seele trinken … und darauf, dass ich zu Wackelpudding geworden wäre, wenn der Tod hier heute Abend tatsächlich aufgetaucht wäre.«
Das Essen war in der Tat ausgezeichnet und der Wein floss in Strömen. Als die Uhr elf schlug, entschuldigte sich der Arzt und ging schlafen, und Matthew bat kurz danach, zu seinem Zimmer geleitet zu werden. Er legte sich in dem bequemen Himmelbett zu Ruhe und lauschte dem Pochen des Eisregens an den Fenstern. Obwohl ein toter Mann ein paar Zimmer weiter lag, schien in dieser Nacht Friede im Haus zu herrschen … alles war im Lot … ein befriedigender Ausgang der Dinge … und so fiel es Matthew nicht schwer einzuschlafen.
Er wachte von einem Klopfen an der Tür auf, das immer dringlicher wurde.
»Sir? Sir?« Es war Oberleys Stimme, die äußerst … nervös klang.
Matthew stand auf. Durch die Fenster drang graues Licht herein. Der Regen schien aufgehört zu haben. Die Bäume glänzten. Matthew öffnete seine Tür und kniff