Arnold Zweig

Die Novellen um Claudia


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Weislingen so gesehen hat?« Sie lächelte halb: »Denken Sie an Weislingen? ich an den Götz … Ihre Frage behalte ich aber bei: ob er den Götz so gesehen hat?« Er nahm die Brille ab und rieb sie mit einem weißen Tuche, während er sehr langsam sprach: »Ich weiß nicht, Fräulein Claudia, ob es augenblicklich so sehr auf Götz ankommt. Die Leute, die mit uns heute abend beide sahen, werden vermutlich von dem anderen mehr sprechen, so, wie Sie mich dabei ertappten. Er ist einer von ihnen … von uns. Dieser Götz kann noch in Goethes Sphäre gehören – ob dieser Weislingen, das ist mindestens fragwürdig. Für Goethes Zeit war sicherlich selbst ein so beeinflußbarer und« – er stockte ein wenig, überwand und gab dem folgenden Wort einen starken Nachdruck – »unmännlicher Mensch etwas Dezidierteres. Diese Art von Weislingen blieb uns vorbehalten,« schloß er mit befremdeter Bitterkeit.

      Claudia Eggeling glaubte alles zu fühlen, was aus seinem Ton hervorging; auch hatte sie das starke Empfinden wohl bemerkt, mit dem der lang Bekannte an der Person Weislingens teilgenommen hatte, solange das Spiel gegangen war; aber da sie diese sonst willkommene Erörterung zu verschieben wünschte, bis die Sachlage vertraulicher und beherrschbarer wäre, lenkte sie ab: »Wir werden uns darüber streiten müssen, ich bin gar nicht Ihrer Ansicht. Ich höre ja, wie Sie den armen Weislingen verdammen.«

      »Verdammen? Ach nein, das ist mir ferne, denn …«

      »Jedenfalls lehnen Sie ihn ab. Wie verträgt sich aber, mein Herr Philosoph, der »unmännliche Mann« mit Ihrer Logik?« Sie hoffte durch Drolligkeit die grübelnde Schwere aus seinen Antworten zu verbannen; aber ganz vergeblich, denn er sprach trübe wie vorher: »Gut verträgt er sich … Man kann einen Typus Mann hinstellen, der alle Eigenschaften besitzt, die Mannheit zu konstituieren, nicht wahr? und zwar in höchstem Maße besitzt. Gut. Der Einzelne weicht von diesem Typus ab, und in besonders unglücklichen Fällen so weit, daß Männlichkeit nicht mehr da ist. Trotzdem geht er als Mann spazieren.«

      Das Automobil erreichte mit scharfer Kurve plötzlich eine Hauptstraße. Nach wildem Holpern auf dem leicht unebenen Pflaster schien es auf dem Asphalt den Boden überhaupt zu verlassen und zu fliegen, hinein in eine von milchigem und rötlichem Licht erregend strahlende Luft. Das Leuchten erfüllte, mit dem gedämpften Lärm der Straße eindringend, plötzlich den kleinen hastenden Raum und hob die beiden Gesichter grell in eine Art intensiverer Gegenwart.

      Claudia vergaß ihren Vorsatz und ging lebhaft auf das Thema ein, wie immer unfähig, sich Gedachtem zu verschließen: »Skizzieren Sie den Typus ein bißchen.« Sie fragte sich nebenbei, wie sich diese Analyse wohl zu seinen eigenen Eigenschaften verhalten werde …

      »Sie stimmen mir also bei,« sagte er, die Augen vor den gleitenden Lichtern beschattend. »Wir können bei Götz bleiben, denn Götz ist sehr Mann. Ich schweige von allem, wofür der Mann bekannt ist: Güte, Kindlichkeit, Mut und alledem. Auch Weislingen kann gütig sein, aus Schwäche. Grundsätzlich ist der Mann der Zeuger, der Fruchtbare …«

      Sie sprach: »Und die Frau?«

      »Empfängt, verwandelt und gibt heraus, nicht wahr? gebiert. Der Mann aber bringt hervor. Er hat die Kraft des Zusammensehens, er schafft, indem er neu sieht … Weislingen erblickt das Neue hinterher und versteht es, er sieht ein. Niemals baut er Brücken zwischen Getrenntem und sieht nur Endgültiges; Götz begriffe nie, daß es dabei Schwierigkeiten gibt … Götz nimmt die Dinge fragmentarisch, als Vielheiten, die einer Einheit bedürfen, und hat doch mehr Ehrfurcht vor ihnen als Weislingen, der sich dem einzelnen Ding oder Zustand blind hingibt und sich beständig verliert.«

      Claudia befand sich plötzlich nicht bei der Sache. Erst war ihr, als rede er irgendwie von sich, Ungünstiges. War nicht er vor allem einsichtig? Waren nicht auch Herodes, auch Kandaules irgendwie typisch männlich Handelnde, die ihm verwandter sein mußten? Warum gerade Götz, sein Widerspiel? Und dann ertappte sie sich: in seinen zögernden Sätzen klang etwas Inspiriertes mit, und sie lauschte mehr als dem Inhalt der Worte diesem Ton, der ihnen etwas schwer und langsam sich Lösendes gab, etwas Rührendes. Doch war ihr für diese Stimmung das Gesagte zu wichtig, und so nahm sie den Entschluß abzubrechen wieder auf. Eigentlich wollte sie sagen: Ihr Typus tut Ihnen Unrecht, dazu haben Sie ihn geformt; aber sie wandte es allgemein und meinte: »Ich glaube, Ihr Typus tut den Lebenden Unrecht. Nun, davon nachher; ich Barbar habe jetzt nichts als Hunger, und Mama ließ keinen Zweifel übrig, daß auch für Sie ein Butterbrot da sein würde, wenn Sie uns so spät noch Gesellschaft leisten wollten.«

      Er hörte willig auf. Es quälte ihn, von einem Gegenstand, der ihn so nahe anging, in einem Fahrtgespräch zu plaudern; auch mußte er seinen Geist dem zuwenden, was sie eben gesagt hatte. Ein Gefühl von Glück – noch eine Stunde mit ihr! und ein drängendes Unbehagen erfüllte ihn; er wußte wieder einmal nicht, ob man wirklich auf ihn als gern begrüßten Gast sah, oder ob das Gefühl des Wohlseins in diesem schönen Heim ihn über eine schmähliche Rolle als aufdringlicher und lächerlicher Besuch hinwegblendete. Er sagte leise: »Ihre Frau Mutter ist sehr gut zu mir … aber ich weiß nicht … ich hatte den Entschluß fassen wollen, nicht mehr so häufig bei Ihnen zu sein …« Ein beizender Haß gegen sich und eine augenblickliche Wut über seine widersetzlichen Organe explodierte in seiner Brust: das hatte ganz anders geformt und gesagt werden müssen – nun klang alles falsch.

      Von Zeit zu Zeit rief die Hupe mit einem lauten tiefsingenden Ton. Es lag darin die Stärke und Weisheit eines großen Tieres, das seines Weges gewiß ist und Schwächeren nicht schaden will. Manchmal antworteten andere Wagen, hell und schnarrend, sie schossen vorüber wie flüchtig oder verfolgend und aus Dunkel in Dunkel tauchend. Zu beiden Seiten lag Schwärze, aus der einzelne Laternen Bäume und Gebüsch hoben; man hatte fast ohne Übergang die Stadt verlassen und schoß auf der nächtlichen Asphaltstraße, die sich unter dem quellenden Licht der Scheinwerfer emporzuwölben schien, dem heimischen Villenort zu. Claudia wandte ihm ihr Gesicht wieder zu: »Langweilen wir Sie?« fragte sie befremdet, doch mit einer ungläubigen Miene, die davon wieder etwas wegnahm. Sie erriet ihn ungefähr, und als Antwort stellte sich eine Freude dieser Art ein: wie reizend ungeschickt kann solch ein kluger Mensch sein! Wenn er sich nur nicht so quälte …

      Er wischte mit der Hand über die Stirn und murmelte: »Sie wissen, wie sehr Sie unrecht haben, Fräulein Claudia. Aber ich bin nun schon so oft und so lange bei Ihnen,« und er redete endlich etwas freier, »daß ich nicht begreife, wie Sie und Ihre Frau Mutter … Sie wissen doch, ich bin nun einmal kein Elegant … Sie haben so viel Nachsicht für mich …« Er konnte alsbald nicht weiter, denn sie lachte ihr helles, reizendes Gelächter eines jungen Mädchens, dem sie sich um so lieber hingab, weil es sich so sehr zu rechter Zeit einstellte. Er sollte sich nicht beschämen und, nicht einmal harmlos, erniedrigen. Sie schüttelte schnell den Kopf: »Nachsicht, lieber Doktor Rohme? Aber wofür denn? Sie haben noch nie ein Nippes zerschlagen und weder Tee noch Wein auf das Tischtuch gegossen.« Mußte man ihm nicht gut sein? Unbedingt … »Aber ich könnte es jeden Augenblick tun, ich bewundere mich selbst in diesem Augenblick,« lächelte er. Ihre Heiterkeit tat ihm sehr wohl, sie entführte das Gespräch in eine Sphäre voll leichter Luft ohne Schwüle.

      »Nein, denken Sie nicht stets an das was sein könnte. Sie machen sich überhaupt zu viele Gedanken über sich, ich finde, man muß darin maßvoll bleiben,« und sie nahm einen mütterlich ermahnenden Ton an, der ihn mit körperlicher Süße durchdrang. Oh ja, allerdings, er liebte sie sehr, sehr, allzusehr! – Aber vielleicht mochte man ihn hier wirklich leiden, fand ihn erträglich, sah ihn gern? Er fragte fast froh: »Ihre Frau Mutter hat also auf mich gezählt?«

      »Mama und ich bescheidenes Wesen. Hatte ich Ihnen nicht einen Platz in unserer Loge angeboten? Ich konnte ja nicht ahnen, daß Sie den Entschluß hatten fassen wollen, uns oder mich zu negligieren.« Sie wußte gut, daß ihm der Klang des Spottes in ihrer Stimme angenehm und verständlich sein würde; es lag ihr daran, die völlige Leichtigkeit einer Konversation herzustellen, und er ging darauf ein. Er schüttelte vergnügt den Kopf, so daß ihm eine lange Strähne rötlichen Haares in die Stirn fiel, über eine weiße, sehr durchdachte Stirn, deren Haut viele Sommersprossen zeigte; er ließ den dicken rotblonden Schnurrbart durch die Hand gleiten und nahm ihren Ton munteren Spottes wieder auf, indem er ihn gegen sich kehrte:

      »Sie haben also gegen mich recht behalten. Während ich mich ankleidete,