Arnold Zweig

Die Novellen um Claudia


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erzählt er mir das eigentlich, fragte sie sich in leichtem Erstaunen. Es ist nicht besonders appetitlich. Dann schämte sie sich jedoch und sagte als Buße mit hörbarer Teilnahme:

      »Ich verstehe das.« Er streifte schweigend die Asche von der Zigarre und fuhr dann fort, schneller, weil der Schluß wie ein Abgrund das Fließen der Erzählung beschleunigte, gleichsam einsog, und indem er auf ihre Hände sah, die ruhig nebeneinander auf dem Tische lagen:

      »Ich schlief schlecht diese Nacht. Am Morgen stand ich um sechs Uhr auf, am Ruhetag, am Sonntag, und ich pflegte mich sonst auch Wochentags nicht vor zehn zu erheben, ich hielt mich zur Erholung in Freiburg auf. Ich stand also um sechs auf und begab mich auf den Güterbahnhof. Natürlich traf ich keinen Menschen dort, nicht eine Seele. Ich wiederholte diese vergeblichen Spaziergänge um zehn, um halb zwölf und um vier, alle Male mit demselben Erfolge. Ich dachte nicht mehr, ich war vielmehr von der Idee besessen, das Meinige wiederzuhaben.«

      Er schwieg wieder und betrachtete seine Zigarre, die zu Ende ging. Ihr Blick ruhte nachdenklich und ein ganz klein wenig spöttisch auf ihm: eigentlich macht er davon viel Aufhebens.

      »Nun?« fragte sie endlich. Er schrak zusammen:

      »Ich bin gleich fertig,« sagte er und sah von ihrem Gesicht wieder auf den Teppich. »Montag nach neun ging mein Zug. Montag um halb sieben stand ich im Büro der Güterabfertigung. Natürlich sah ich, sowie ich eintrat, mein Paket. Es lag ordnungsgemäß da, der Mann hatte es abgeliefert, redlich, es war fertig zum Abschicken.« Er schwieg ohne aufzusehen.

      »Nun ist ja alles gut,« meinte sie geringschätzig, denn sie fühlte, daß er auf ein Wort wartete. Er stützte den Kopf in die Hand und blickte auf den Tisch:

      »Was denken Sie also, das ich getan habe?«

      »Sie haben sich entschuldigt und sind vergnügt zur Bahn gegangen«, entgegnete sie ohne Zaudern.

      »So. Ja. Nein, ich nahm das Paket an mich, sagte, es habe Eile und trug es zur Post.«

      Claudia lehnte sich langsam wie erstarrt in ihren Sessel zurück:

      »Sie trugen es zur Post?« staunte sie tief bestürzt. Und dann kam ihr die Anwandlung laut und erbarmungslos zu lachen. Sie unterdrückte sie.

      »Ja. Zu einer andern Post als das erste Mal. Ja, ich genierte mich, wissen Sie.« Er nickte mehrere Male, ohne den Kopf aus der Hand zu heben oder die Augen vom Tisch zu entfernen, lächelte traurig und sagte noch einmal: »Ja.«

      Claudias Augen sprachen von dem Schrecken, der langsam in sie hinabsank wie ein Eimer in einen dunklen Brunnen, und um ihren Mund schrieben Spott und erschrockenes Verachten eine gekrümmte Linie. Sie zürnte ihm; sie warf ihm eine stumme Frage zu: Wozu erzählen Sie mir solche läppischen Streiche? und sah ihn hart und schweigend an. Die große Uhr pochte unablässig; Doktor Walter Rohme besah reglos den Schimmer der rötlichen Lampe auf der Tischdecke, mit gebeugtem Nacken. Da sitzt er nun auf seiner Heldentat, dachte sie zornig. Warum verteidigt er sich nicht? Wo verbarg sich seine Klugheit, wo sein sonst so rührendes Zartgefühl; warum zeigte er, der bisher Grund gegeben hatte zu glauben, er werde ihren Weg vor allem Häßlichen behüten, damit nichts sie kränke und verstöre – warum zeigte er sich ihr heute so hilflos, so ausdrücklich schwach? Da saß er nun gebeugten Nackens wie ein Verurteilter und rührte sich nicht … Und sie begriff. Ein Blitz schoß auf und erleuchtete ihr alles: sie sah ihn klar wie Kristall und ganz lauter. Eine Wonne stieg aus ihr empor wie ein Eimer aus durchsonntem Brunnen, von goldenem Wasser schwer und triefend. Sie lächelte immer verstehender, immer seliger, sie fühlte eine Wärme und einen süßen Druck in ihrem Herzen und nannte es Glück. Sie hob langsam die Hand und streckte sie ihm entgegen, reichte sie ihm über den Tisch, bis die feinen Fingerspitzen seinen Handrücken berührten. Er fuhr aus toter Verzweiflung auf, blickte unbegreifend in ihre glücklichen Augen – erriet sie in einem erstickten Atemholen und küßte die Hand mit einem brennenden langen erlösten Kusse.

      »Sie müssen jetzt gehen,« sagte sie und erhob sich. »Ich danke Ihnen für diese Erzählung, ja, ich danke Ihnen.« Ihre Augen leuchteten noch immer, und noch immer hielt er ihre Hand, gerettet. »Morgen kommen Sie zum Tee, dann reden wir von Weislingen und musizieren ein wenig, wie?« Ihre Stimme klang tief und schwingend, wie er sie noch nie gehört hatte, und er drückte die geliebte Hand. »Ja,« sagte er glücklich.

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