Nancy Farmer

Nebelrache


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an Jacks Beinen hoch. Unwillkürlich wollte er nach der Schutzrune greifen, die er schon lange nicht mehr um den Hals hängen hatte.

      Ich glaube dir nicht, sagte der Draugr.

      „Es ist die Wahrheit“, beteuerte der alte Mann. „Jeder Mord zieht seinen eigenen Ruf nach Vergeltung gegen dich nach sich. Du hast bereits dein Recht auf das Leben von Pater Severus verwirkt – wage nicht, das zu bestreiten!“, brüllte er, als die Dunkelheit plötzlich anschwoll und Äste brachen.

      Wer bist du, dich mir in den Weg zu stellen? Ich werde Rache nehmen, wo ich will. Die Bäume ächzten, als sie zur Seite gebogen wurden. Ein Teil des Himmels über dem Wald war plötzlich tiefschwarz.

      „Ich bin der Gesandte der Erdmagie! Ich stehe gegen das Unleben! Wenn du mit der Sonne zurückkehren willst, musst du mir zuhören!“

      Der Nebel waberte hoch und drückte gegen Jacks Brust, bis er kaum noch atmen konnte.

      Der Barde hob seinen Stab. „Zwing mich nicht, dich zu unterwerfen!“

      Dasselbe grausige Heulen, das Jack schon einmal gehört hatte, erfüllte die Nacht. Rehe brachen aus dem Haselwald hervor. Dachse, Füchse, ein Wolf und drei Wesen, die beinahe menschlich aussahen, rasten über die Felder davon. Jack hätte nur zu gern dasselbe getan, aber er konnte den Barden nicht im Stich lassen.

      Der alte Mann hob beide Arme, und Blitze zuckten über seinen Körper. Er schien immer größer zu werden, bis er genauso groß war wie die Dunkelheit. Jetzt war unmöglich zu sagen, wer von beiden angsteinflößender war. Einen Moment lang standen sie sich gegenüber. Der Boden bebte, und die Luft vibrierte. Dann brach das Heulen ab. Der Nebel löste sich auf, und die Dunkelheit schrumpfte zusammen, bis sie nur noch die Größe einer Frau hatte.

      Welch großartiger Angstzauber, dachte Jack, der nur am Rande mitbekam, dass er auf die Knie gefallen war. Der Barde hatte wieder seine normale Größe angenommen, aber seine Robe schimmerte immer noch in einem merkwürdigen Licht.

      „Das ist besser“, sagte er. „In ein paar Wochen werde ich nordwärts reisen und Severus sehen. Die Gerechtigkeit verlangt, dass er für das bezahlt, was er dir angetan hat, aber die Art seiner Strafe ist mir noch verborgen. Es wird geschehen, wie es geschehen soll.“

      Ich habe so lange gewartet, sagte eine Stimme, die sich nicht mehr anhörte wie der Tod, sondern wie die einer jungen, sehr besorgten Frau. Ich habe ihn doch so sehr geliebt.

      „Du musst Geduld haben, mein Kind. Kein Töten mehr. Lieg still unter den ziehenden Wolken, bis ich dich rufe. Ich schwöre vor dem Rat der neun Welten, dass ich dich sicher in die ewige Ruhe geleiten werde.“

      Durch den Haselwald hallte ein Seufzer, der sich anhörte wie eine Welle, die sanft vom Strand zurückströmt. Die Dunkelheit wurde immer dünner, bis nur noch ein gewöhnliches Gewirr aus Büschen und Gestrüpp zurückblieb. In einem nahen Bach quakte ein Frosch. Der Barde senkte die Arme und stöhnte ein wenig vor Anstrengung. „Was würde ich jetzt für einen Becher heißen Most geben“, murmelte er und stützte sich schwer auf seinen Stab.

      „Das war wundervoll!“, rief Jack und stürzte auf ihn zu, um ihm zu helfen.

      „Das war es, nicht wahr? Ich kann es immer noch – und dafür danke ich allen Göttern und Göttinnen, die gerade zuhören“, sagte der Barde. „Ich kann allein laufen, Junge. Trag du die Glocke, aber lass sie um Himmels willen nicht mehr läuten. Ihr könnt herauskommen, meine Freunde“, rief er in die Dunkelheit.

      In einiger Entfernung sah Jack zwei plumpe Wesen aus dem Boden auftauchen.

      Die Hobgoblins

      „Verwesende Pilze!“, brüllte eines der Wesen. „Mit was für Leuten habt Ihr Umgang, Drachenzunge? Ich dachte schon, der Große Wurm und seine neun Würmchen wären gekommen, um mich zu fressen!“ Eine Kreatur mit großen, im Mondlicht schimmernden Augen und einem breiten lippenlosen Mund sprang auf sie zu.

      „Nemesis?“, staunte Jack, der seinen Augen kaum traute.

      „Wer denn wohl sonst?“, fauchte der Hobgoblin. „Ganz sicher nicht dieser königliche Dummkopf hier. ‚Lass uns Jacks Dorf besuchen‘“, zitierte er. „‚Lass uns sehen, ob die entzückende Pega ihre Meinung geändert hat und mich nun doch heiraten will.‘ Schwachkopf! Was soll ein hübsches Mädchen wie sie wohl mit einem tumben Kerl wie ihm anfangen?“

      Jack musste sich das Lachen verkneifen. Während Nemesis eine Beleidigung nach der anderen ausstieß, tauchte der Bugaboo auf, schlammverschmiert und tropfnass. „In einem Sturm tut es jeder Hafen, stimmt’s?“, sagte der Hobgoblinkönig fröhlich. „Als ich dieses Heulen gehört habe, bin ich im nächsten Loch in Deckung gegangen. Pech, dass es ausgerechnet ein Schlammloch war!“

      „Ihr könnt auf dem Heimweg in einem Bach baden“, sagte der Barde.

      „Ich bin entzückt, Euch wiederzusehen“, versicherte der Bugaboo dem alten Mann. „Und dich natürlich auch, Jack. Was für eine Freude! Sag, ist Pega noch immer so hinreißend schön? Vermisst sie mich?“

      Jack wusste nicht, was er sagen sollte. Pega dankte Gott jeden Tag auf den Knien, dass sie den Hobgoblinkönig nicht geheiratet hatte und nicht mit ihm in seine muffige Höhle voller Pilze gezogen war.

      „Ich bin sicher, dass sie sofort in Ohnmacht fällt, wenn sie dich sieht“, stichelte Nemesis.

      „Es ist vielleicht ratsam, die Zahl der Menschen, die Euch sehen sollen, zu beschränken“, schlug der Barde vor. „Die Leute hier könnten Euch mit Dämonen verwechseln, und wir wollen ja nicht, dass sie Euch mit Steinen und Forken auf den Pelz rücken.“

      „So werden wir doch immer willkommen geheißen“, seufzte der Bugaboo. „Was war das für ein grauenhafter Schrei, den wir im Wald gehört haben?“

      „Diese Geschichte erzählt sich besser bei Tageslicht.“ Der alte Mann beugte sich tief über seinen Stab, und Jack erkannte, dass sein Meister vollkommen erschöpft war.

      „Wir sollten jetzt heimgehen“, sagte Jack. „Ich bin sicher, dass wir bei uns ein Plätzchen für zwei alte Freunde finden.“

      „Eigentlich sind wir nicht nur zu zweit“, sagte der Bugaboo. „Du kannst jetzt rauskommen, Blewit. Es droht keine Gefahr mehr.“

      Ein knochiger Hobgoblin kam hinter einem Busch hervor, auf dem Arm ein zappelndes Bündel. Jack war verblüfft, das lange, missmutige Gesicht von Mr Blewit zu sehen. Das Bündel befreite sich und plumpste zu Boden.

      Es war Hazel, Jacks lange verlorene Schwester.

      Das kleine Mädchen hüpfte über das Gras wie ein kleiner Sprogling, ein junger Hobgoblin. „Oh, juchhuu! Schlamm-Menschen! Meine Lieblingsspielzeuge“, jubelte das Kind.

      Jack nahm sie in die Arme und wollte sie herumschwenken, aber sie war etwa doppelt so schwer, wie er erwartet hatte. Er setzte sie wieder ab.

      „Ich bin mitgekommen, um sicherzugehen, dass ihr mir nicht mein Baby stehlt“, knurrte Mr Blewit. „Dies ist ein Besuch, vergiss das nicht. Gewöhn dich nicht zu sehr an sie.“

      An sie gewöhnen? Jack war nicht sicher, dass er das jemals tun würde. Natürlich liebte er sie. Sie war seine Schwester. Aber sie war als Baby von den Hobgoblins geraubt worden. Als er sie schließlich im Land der silbernen Äpfel fand, hatte Hazel nicht einmal gewusst, dass sie ein Mensch war. Sie machte die froschigen Ausdrucksweisen der Hobgoblins nach und zwinkerte mit einem Auge nach dem anderen, wie sie es taten. Sie versuchte, Motten mit der Zunge aus der Luft zu schnappen. Sie gliepte sogar, ein hässliches ploppendes Geräusch, das Freude ausdrückte.

      „Hör auf zu jammern, Blewit“, befahl Nemesis. „Wir schlagen noch Wurzeln, bis du endlich fertig bist. Ich werde Drachenzunge tragen.“ Der Hobgoblin hob den Barden so mühelos hoch, wie ein Mann ein Kätzchen hochnimmt. Jack war erleichtert, dass der missgelaunte Nemesis die Erschöpfung des alten Mannes bemerkt hatte. Getragen zu werden wie ein Baby, war vielleicht nicht die würdevollste