Nancy Farmer

Nebelrache


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und die Nägel ihrer Hände und Füße hatten sich zu Klauen geformt. Ihre Haut war rau, die Zähne gelb, das Haar fiel ihr aus und das, was sie noch hatte, war so zerzaust wie ein Rattennest. Ihre Bewegungen, die an Land noch nie elegant ausgesehen hatten, waren jetzt die eines plumpen Tieres. ‚Als ich sie bekam, sah sie besser aus‘, musste Pater Severus zugeben.“

      „Das ist so beim Meervolk“, unterbrach der Barde. „Solange die Frauen noch unreif sind, blenden sie mit ihrer Schönheit. Heiraten sie einen Menschen, bleibt ihnen diese Schönheit ein Leben lang erhalten. Aber wenn sie einen ihrer eigenen Art auswählen oder von einem Menschen abgewiesen werden, verwandeln sie sich in die erwachsene Form: die Meervettel.“

      „Eine Meervettel“, wiederholte Jack fasziniert. Aus dieser Geschichte konnte er ein großartiges Gedicht machen, mindestens so gut wie Beowulf oder die Geschichte von Olaf Einbraue, wie er Ivar den Knochenlosen vor den Trollen gerettet hatte. Auch Thorgils Augen funkelten angespannt.

      „Leider“, sagte Bruder Aiden, „fand der Abt, dass Pater Severus lange genug auf einer einsamen Insel meditiert und gebetet hatte. Er warf ihm vor, sich vor seinen Pflichten im Kloster zu drücken, und befahl ihm, sofort zurückzukehren. Und so packten sie die Heitere Wehklage und Kolumbans Robe ein und stachen in See.

      Die Meerjungfrau – jetzt eine Meervettel – sprang ins Wasser und versuchte, ihnen zu folgen. Die Ruderer gaben, was sie konnten. Allmählich fiel die Vettel zurück, und das Letzte, was sie von ihr sahen, war ihr schmutziger Haarschopf, der von den Wellen wie treibender Tang angehoben wurde.“

      Es herrschte betretenes Schweigen. Der Barde legte Holz ins Feuer, und Thorgil streichelte tief in Gedanken versunken Seefahrers Gefieder. Bruder Aiden ließ den Kopf hängen. Schließlich sagte Jack: „Das ist ja schrecklich. Sie haben sie dem sicheren Tod überlassen.“

      „Ich war nie sicher, ob sie es geschafft hat, zu Grims Insel zurückzuschwimmen“, sagte der Barde. „Aber jetzt sieht es aus, als wäre sie ertrunken und ein Draugr geworden.“

      „Ein untoter Geist“, sagte Thorgil.

      „Und sie ist hier“, fügte Bruder Aiden hinzu.

      Rachsucht

      Wie der Barde vorausgesagt hatte, fanden John der Böttcher und sein Suchtrupp nichts. Der Draugr war verschwunden wie Morgennebel. „Sie ist aber immer noch da draußen“, sagte der alte Mann, als er und Jack Elixiere für den Verkauf in Bebbas Town mischten. „Ich habe alle angewiesen, die Häuser und Viehpferche mit Stechpalmenzweigen zu umgeben. Sie geht nicht gern über Dornen. Wenn eine Meervettel ihren Schwanz verloren hat, sind die Füße ihr wunder Punkt.“

      Jack reihte die Gefäße auf, deren Farben anzeigten, welche Pillen sie enthielten: Rot für Fieber, Grün für Kopfschmerzen, Blau für Magenprobleme und Schwarz für Beelzebubs Wunderwaffe gegen Fliegen.

      „Draugr können zum Vierfachen ihrer Normalgröße anwachsen“, sagte der Barde. „Einer ist mal auf das Dach von König Ivars Halle gestiegen, als ich noch dort lebte, und hat den Bau fast zum Einsturz gebracht. Er hat mit den Fersen aufs Dach gehämmert. So etwas passiert im Nordland oft nach Beerdigungen – sie nennen es dort Hausreiten.“

      „Hausreiten“, echote Jack und maß sorgfältig getrockneten Wermut für ein Elixier ab.

      „In diesem Fall war es Ragnar Feuchtbart – er bekam diesen Namen wegen all des Biers, das er verschüttet hat. Eines Nachts fiel er in ein Bierfass und ertrank. Gib noch Honig in das Elixier. Der Wermut macht es bitter.“

      „Ja, Herr“, sagte Jack.

      „Ragnar war einfach einsam, die arme Seele. Er war aus seinem Grab gewandert und hat gesehen, wie seine Freunde das Totenfest feierten. Nachdem wir das Problem erkannt hatten, haben wir ihm Bier in sein Grab gegeben. Und seine großen Zehen zusammengebunden, damit er nicht weit kam.“

      Jack steckte sich den Finger in den Mund, ohne daran zu denken, dass er voller Wermut war. Er rannte nach draußen, um auszuspucken. Hausreiten! Es war typisch für die Nordmänner, dass es ihnen vollkommen gleichgültig war, wenn Draugr Löcher in ihre Dächer schlugen. Er war nur froh, dass so etwas nicht passiert war, während er im Nordland gewesen war.

      Jack spülte sich den Mund aus und hielt mit der Hand über den Augen Ausschau nach Thorgil. Sie war mit Seefahrer zu einem Übungsflug aufgebrochen. Der Albatros hatte sich eng an sie angeschlossen, und Jack hatte den Verdacht, dass er nicht mehr fortwollte. Thorgil hatte Jack noch mehr Vogelsprache beigebracht, aber so fließend wie sie würde er diese Sprache wohl nie beherrschen. Aber zumindest konnte er jetzt Dinge sagen wie Komm her oder Lass das oder Hast du Hunger? Seefahrer hatte eigentlich immer Hunger.

      Irgendwo im Süden erledigten Skakki und seine Besatzung ihre Geschäfte, wie Thorgil es genannt hatte. Vermutlich plünderten sie. Brannten Dörfer nieder. Jack wusste nicht, wie er ihnen gegenübertreten sollte, wo er doch von ihren Untaten wusste. Er ging wieder ins Haus.

      Der Barde band gerade die Deckel auf die vollen Gefäße. „Ekliges Zeug, dieser Wermut“, bemerkte er. „Ich finde, dass es nichts bringt, aber die Menschen vertrauen einer Medizin mehr, wenn sie widerlich schmeckt.“

      „Wieso war Ragnar Feuchtbart noch da?“, fragte Jack. „Ich dachte, Krieger gehen nach Walhall.“

      „Nur die, die in der Schlacht fallen.“ Der Barde stellte die Wermutfläschchen für den Transport zu Skakkis Schiff in einen Korb. Jack war sicher, wenn man vorher noch keine Bauchschmerzen hatte, dann würde ein Schluck von dem Elixier ausreichen, um welche zu bekommen. „Der arme alte Ragnar hat diese Chance verpasst. Er lungerte ein paar Monate herum, stöhnte und hämmerte gegen Türen. Sehr weit konnte er mit den zusammengebundenen Zehen ja nicht hüpfen. Schließlich verzog er sich dann doch in Freyas Himmel – oder, wenn man bedenkt, dass er ertrunken ist, ist er vielleicht doch im Reich von Ran und Ägir unter dem Meer gelandet.“

      „Es klingt, als wäre er ein netter Kerl gewesen“, sagte Jack. Fast alle Kräuter, die er gesammelt hatte, waren aufgebraucht. An der Wand standen zehn volle Körbe, aber zehn weitere warteten auf Füllung. Das bedeutete einen weiteren Ausflug in den Haselwald, eine Wanderung, auf die Jack gut verzichten konnte.

      „Ragnar? Der war so sanft wie ein Kätzchen, außer wenn er zum Berserker wurde. Unser Draugr ist allerdings ein ganz anderes Problem. Zum einen ist sie eine Meervettel, und die sind immer gefährlich. Und zum anderen hat sie einen guten Grund für ihre Wut.“

      „Wir haben ihr doch nichts getan“, sagte Jack.

      „Die Heitere Wehklage hat sie aus ihrem Grab geholt. Und jetzt wird sie nicht eher ruhen, bis sie sich gerächt hat, und wir waren am leichtesten zu finden.“ Der Barde setzte sich und bedeutete Jack, es ihm gleichzutun. Einen Moment lang schwieg er, strich sich über den Bart und betrachtete die gemalten Vögel an den Wänden des römischen Hauses. „Wir können in Bebbas Town kein Getreide kaufen, solange sie dort nicht die Ernte eingebracht haben. Außerdem ist Skakki noch unterwegs. Ich hatte vor, den Draugr mit uns zu locken, wenn wir aufbrechen, aber das Dorf kann jetzt nicht ungeschützt bleiben.“

      Es gefiel Jack gar nicht, was er da hörte. Er hatte erwartet, dass der Barde die untote Meervettel mit einem Zauber vertreiben würde. Was sollte das bedeuten, sie mit sich zu locken?

      „Es gibt Gesetze in der Welt, die ich nicht brechen darf“, erklärte der alte Mann, der wieder einmal Jacks Gedanken gelesen hatte. „Da die Meervettel einen echten Grund für ihre Rachegelüste hat, darf ich keine Magie einsetzen. Sie hat ein Recht auf Vergeltung. Deswegen werden wir beide heute Nacht in den Haselwald gehen und ihr einen Handel vorschlagen.“

      „Wir beide?“ Jack war so überrascht, dass er es beinahe schrie.

      „Bei Odins Augenbrauen! Hast du etwa geglaubt, um ein Barde zu sein, reicht es, an einer Harfe zu zupfen und Kräuter zu pflücken?“ Aus den Augen des Barden blitzte Empörung, und Jack wurde ganz verlegen. Aber nachts in den Haselwald? Wenn er dieses Heulen noch einmal hören müsste, wäre er schneller weg als eine verbrühte Katze. „Du