Seglern hat die Gesellschaft 1847 den zähen Kampf gegen die Herrschaft der Meere angesagt. Wer beachtete sie damals schon? Jetzt besitzt sie zwanzig Dampfer, die nicht mehr zu übersehen sind, weder wegen ihrer Zahl noch ihrer Stattlichkeit. Woermann räuspert sich und spricht: „Unsere neuen Statuten, meine Herren, geben uns die Gewähr, daß vorerst das Notwendige getan wurde. Wir können nichts als abwarten. Als meine Firma in Gabun den ersten Kaffee geerntet hatte, haben wir ihn in der Familie mit der gebotenen Festlichkeit getrunken. Die Tasse stand mit rund fünftausend Mark zu Buch. Aber drei Jahre später konnten wir über Kakao einen Jahresgewinn von zweihunderttausend Mark erzielen. Man darf also nicht müde werden, selbst bei der Hapag nicht.“
Woermann kann in diesem Augenblick nicht ahnen, daß das gleiche Kamerun-Geschäft rund drei Jahrzehnte später – wenn auch ohne ihn – jährlich glatte zweiundsiebzig Millionen Mark ab werfen würde, nicht viel weniger als im selben Jahre die Hapag, deren riesenhafte Entwicklung er genausowenig voraussehen konnte.
Mit der Routine des hansischen Reichstagsabgeordneten fährt er fort: „Jeder von uns, meine Herren, hat mehr oder weniger selber Dampfer laufen. Sie wissen, meine Firma pflegt seit kurzem auf einer Hamburger Werft bauen zu lassen, bei Blohm & Voss. Nicht mehr, wie sonst zumeist üblich, auf englischen Werften. Das ist sehr schmerzlich für unsere englischen Freunde, und es wird eines Tages mehr als nur ein Augenzudrücken drüben und ein Augenzwinkern von uns dazugehören, um Frieden zu halten. Aber wenn die Briten argwöhnen, wir wollten die Hamburger Grenzpfähle rund um den Ozean am Kongo, Sambesi, Mississippi, La Plata und drüber hinaus am Ganges und Jangtsekiang aufpflanzen, dann überschätzen sie unsere Intensionen gewaltig. Was wir wollen, ist, wie Bismarck sagt, nur eine Luke aufstoßen, damit Seeluft hereinkommt.“
„Aber unseres Godeffroys Bruder, Cäsar VI., hat er in der Südsee verhungern lassen!“ wirft der Reeder Laeisz spöttisch ein. Woermann ist von Berlin her Unterbrechungen gewohnt und zuckt nur die Achsel: „Cäsar hätte dem Kanzler rechtzeitig eine Luxusjacht zur Besichtigung widmen sollen. Und auch dann wäre Ozeanien wenig geeignet gewesen, den Überschuß unseres Bevölkerungszuwachses aufzunehmen. Was für einen einzelnen Wagehals dort zu gewinnen ist, bedarf keiner Reichshilfe, falls er sich nicht übernimmt. Wir werden unserer aufblühenden Industrie so oder so Rohstoffgebiete sichern müssen und Absatzgebiete dazu; und durch die Tüchtigkeit unserer Kaufleute geschieht das automatisch. Kolonialgebiete? Das ist ein teures Kapitel. Wir sind ein bißchen spät an den Futtertrog gelangt, an dem die britische Bulldogge schon ein paar Jahrhunderte lang frißt. Gleichwohl mißgönnt sie uns knurrend die paar abgefallenen Brocken. So ist es verständlich, daß wir wenigstens genügend Schiffsraum haben müssen, um den Ex- und Import nicht unter fremder Flagge zu bewältigen.“
„Ein paar Panzerkreuzer zur Unterstützung täten nicht schlecht!“ ruft Herr Kirsten.
Die Runde des Aufsichtsrates lächelt. Nelsonische Anwandlungen sind in Hamburg nicht beliebt. Die Tage Störtebekers, des Störenfrieds, dem man auf die Finger geschlagen, sind seit dem Jahre 1401 so ziemlich vorbei. Aber nachdem vor kaum zwanzig Jahren zu Versailles ein neues deutsches Kaiserreich gegründet worden ist, haben auch in Hamburg Patrioten damit angefangen, über lokale Interessen hinaus der Welt die Faust zeigen zu wollen. Selbst im Verwaltungsrat der Hapag gibt es zwei Lager. Sie erhitzen sich gegenseitig.
Woermann gähnt verhalten. Dann beginnt er gedehnt von neuem: „Wir in Hamburg haben –“
Jäh wird es wieder still. Das Wort „haben“ wirkt zu Hamburg immer.
Woermann nutzt den Augenblick: „Wir haben die Hand am Puls der Welt, wir merken zuerst, wenn es auf den Kontinenten knistert. Unsere Bilanzen sind die Fieberkurven der Weltgesundheit. Das letzte Jahr gab es überall Mißernten, Fallite, geplatzte Wechsel. Was dürfen wir da anderes erwarten als mäßige Frachten, leere Kabinen und überall einen Strich in den Abrechnungen der Hapag, wo das letztemal noch etliche Prozent Dividende standen.“
Herr Kirsten sendet Wolken von Pfeifenqualm in die allgemeine Betretenheit. Auch er hat ein paar Schiffe laufen, London, New Castle, Chile. Keine Konkurrenz für die New-York-Route deren Klagen er nicht begreift: „Es gibt doch Auswanderer genug, die verhungert, getriezt und geschunden dieses blühende Europa und neudeutsche Vaterland verlassen wollen!“ ruft er behende.
„Alles nur Nusch!“ erwidert Herr Tietgens. Er denkt in Kautschuk und dehnbar. Aber bei fehlender Dividende wird die zäheste Aktiengeduld erschöpft, und so fügt er bissig hinzu: „Jedoch nicht nur den nimmt uns Carr ab.“
Carr, Reederei Edward Carr! Das ist ein Wort wie ein klirrender Sporenhieb. Der Tisch scheint sich zu bäumen, und Herr Robertson haut mit der Faust darauf. Carr hat die Frachtenraten wieder einmal unterboten.
Woermann, noch immer stehend, lacht gefällig. Die Westenfalte glättet sich über dem braven Börsenbeefsteak. Sein Lachen wirkt wohltuend, erprobt hinter dem Rednerpult der Volksvertretung, es gleicht aus und beruhigt wie ein Eiderdaunenoberbett. Doch er erwidert nichts. Er denkt immer nur an Afrika. Jetzt kommt Laeisz zu Wort, Carl Laeisz. Sein Vater Ferdinand war mit selbstgemachten Zylinderhüten groß geworden. Er hatte dem Mischmasch Südamerikas den Anschein von Gentlemen verliehen. Und hatte die Hapag mitbegründet. Die Anfangsbuchstaben seines Namens aber wehen noch immer im Vortop eigener Drei-, Vier- und Fünfmast-Segler, der weißen Flagge der Flying P-Liner, von „Pudel“ bis „Pamir“ und „Potosi“. Jetzt gehört sein Nachfolger und Sohn, wie einst er, dem Aufsichtsrat der Hapag an. Und ihm scheint dringlich, den schlappen Segeln gen USA etwas Ozon einzuflößen. „Carr mag auf hohem Roß sitzen, und wir wollen ihm seinen Pferdestall gönnen und uns nicht veräppeln lassen. Aber besser wäre es, wenn wir endlich anfingen, dem Norddeutschen Lloyd die guten Kajütspassagiere wieder abzunehmen. Das ist meine Meinung.“
Woermann, noch immer stehend, da er den Vorsitz führt, lächelt abermals. „Die Hapag ist an der Grenze ihrer Tonnagemöglichkeiten angelangt. Die Weser ist eben tiefer.“
„Tiefer gebaggert!“ sagt Kirsten.
„Dafür sind unsere Schiffe handlicher, und bis vor kurzem noch waren sie auch immer voll“, wirft Herr Tietgens ein.
Woermann antwortet: „Es wird die saure Aufgabe des neuen Vorstandes und Aufsichtsrates sein, sie wieder vollzumachen.“ Er setzt sich. „Das nennt man Vollmacht!“ kalauert Laeisz und blickt John Meyer an.
Der wacht plötzlich auf. Er hat wahrhaftig ein „büschen genickt“ bei dem Gerede, das er bis zum Überfluß kennt. So voll wie wirklich voll, so viel gibt es gar nicht, lächelt er sich zu.
Nun beugt sich Johann Witt vor. Seine Porterwangen sind prall von dem Wort, das ihm seit einer Viertelstunde auf der Zunge schwillt. Jetzt platzt es hervor, dicht an Meyers Ohr: „Und der Zollanschluß?“
Das Wort knallt wie ein Geschoß in die Sitzung.
„Prost, Mahlzeit!“ ist alles, was Meyer erwidern kann.
Da erhebt sich Oskar Ruperti, sonorer Fünfziger, Teilhaber des Bank- und Handelshauses Merck & Co., versippt und verschwägert mit allen trefflichen hansischen Namen. Die Rupertis sind gleichfalls aus dem Binnenland in den Sog des elbischen Welthafens geraten. Wie beim Stuhle Petri die Kette des Geistes nie abreißt, so hier an der Elbe die des Blutes, seitdem etwa der Heereslieferant Karls des Großen – im Tauschgeschäft norwegischen Stockfisch gegen welschen Wein liefernd – einen zu St. Gallen geborenen Leinenhändler als Teilhaber aufnahm und ihm die Hand der Tochter überließ.
Rupertis Figur vereint die Schlankheit des Vaters mit der robusten Zähigkeit seiner Merckschen Mutter. Sein männlich schönes backenbärtiges Gesicht hat seit der harten Lehrzeit in den Südstaaten der USA den Ausdruck einer straffen Beherrschtheit angenommen. Dort hat er noch Sklaven kommandiert. In seiner Stimme schwingt noch etwas von der Schmiegsamkeit frisch gepflückter Baumwolle mit, obschon die Firma sich längst auf das einträglichere Geschäft mit Chilesalpeter, ausländischen Fisch- und Fleischmehlen, heimischen Phosphaten und dem Mist überseeischer Meeresvögel, dem Guano, umgestellt hat. „Meine Herren“, sagt er verbindlich und zieht die Mundwinkel ein wenig nach unten, „lassen Sie uns dem Gedanken des Zolles so wenig Bedeutung beimessen, wie dem des Anschlusses. Es sei denn, wir freuten uns,