Hans Leip

Des Kaisers Reeder


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„Unglaublich!“ aus, das von der Geste eines Grandseigneurs begleitet wird, der soeben eine lästige Gnadenbezeugung entgegenzunehmen hatte. Ach, Albert kennt ihn so gut, weiß um den empfindlichen Stolz des Bruders. Sind sie einander darin nicht ähnlich?

      „Wenn du mehr brauchst ...“, sagt er freundlich.

      „Keine Sorge, Albertchen!“

      Der Bruder hat nun nicht länger Lust, im Hofeingang den Verkehr zu behindern und neugierige Blicke auf sich zu ziehen; es klingt mißbilligend und beugt einer Einladung ins Kontor, zur Witwe Reimers oder in ein Lokal vor. Den Hut mit zwei Fingern antippend, sagt er gönnerhaft über die Achsel: „Ich zahl’s doppelt heim, Lieber. Laß Dir’s aber gesagt sein, einzig die fluktiblen Reize der Papiere, das ist Gentlemanskunst und doch wohl etwas anderes als dieser dein Umstand hier und Plunder, mit dem du deine paar Kröten zusammenläpperst. Gehab dich wohl!“

      Im Passageraum sind zwei Angestellte damit beschäftigt, die Formalitäten für die Ausreisenden zu erledigen. Die Bettplätze fürs Zwischendeck werden hier verteilt. Ihre Nummern stehen groß auf farbigen Kärtchen, rot für Männer, blau für alleinreisende Frauen und Mädchen, grasgrün für Familienmitglieder. Auch werden zugleich die Marken zum leihweisen Empfang einer Wolldecke ausgegeben. Albert Ballin, noch benommen von dem Gespräch mit dem Bruder, kehrt an sein Pult zurück. Mit abwesendem Blick faßt er auf, daß der Andrang im Abfertigungsraum abgeflaut ist. Nur die Stimme eines seiner Angestellten klingt wendig und geschult von nebenan. Von der langen Schlange der Passagiere des Morgens sind nur noch zwei oder drei übriggeblieben. Ballin blickt auf die Uhr. Es wird Zeit, zum Sandthorkai hinüberzufahren, um den fälligen Dampfer nicht uninspiziert zu lassen und dem Kapitän und den Offizieren einen Händedruck, der Besatzung und den Fahrgästen ein ermunterndes Abschiedslächeln zu gönnen. Reeder Carr läßt sich seit längerem bei den Abfahrten nicht mehr blicken. Er hat sich einen Rennstall zugelegt. Selbst Leute, die eigentlich nicht zu seinem Ressort der Passage und Fracht gehören, wenden sich an Ballin, Ausrüstungsfirmen, Werftdirektoren, ja selbst die Besatzungsmitglieder der Schiffe.

      „Man müßte eine eigene Reederei haben“, denkt er und starrt aufs Pult. Wunderbare Schiffe malen sich auf die blauen Flächen eines Konossements über die Frachtorder auf dreizehnhundert Stück gußeiserne Christbaumfüße für Philadelphia via New York.

      Der Angestellte lugt durch die breite Wandöffnung herüber und fragt dezent: „Herr Ballin, eine Anfrage: Eine Fahrkarte nach dem Paradies ... Wie erledigen wir das?“

      „Höflich, wie immer! Paradies der Freiheit, die USA.“

      Sein Blick hat sich nicht vom Pult erhoben. Christbaumfüße für Philadelphia, rechtzeitig bestellt. In wenigen Monaten werden Tannenbäume und Kerzen hinzukommen, dort drüben, und Familienglück und Kinder und Vergessen. Vergessen? Und Möglichkeit für jedermann, der Mut und Geschick hat und keine Anstrengung scheut. Wie er.

      Mit halbem Ohr hört er, wie der Angestellte die strikte Anweisung, Kunden unter allen Umständen wie zukünftige Millionäre zu behandeln, befolgt und in sanftem Tone sagt: „Nicht die ‚Australia‘, gnädige Frau? Ganz, wie belieben. Verwechseln doch nicht mit der ‚Austria‘, die irgendwann mal unterging? Nein, gewiß nicht, dieselbe gehörte auch nicht uns, sondern der Packetfahrt.“

      „Was nichts gegen die Konkurrenz besagt haben soll!“ korrigiert Ballin freundlich von seinem Pult aus, ohne aufzusehen. Er ist noch immer wie gelähmt und starrt auf das blaue Frachtpapier voller Visionen. Gerade ist er in einer dritten Schicht des Bewußtseins zu der Einsicht gelangt, daß Herr Georg Gustav Rauert ihm Marianne nie und nimmer geben könne. Denn ist er, hier am Pulte so verloren mit offenen Augen träumend, trotz angestrengter Gepflegtheit einem gewissen Joseph nicht allzu ähnlich, ein „Sadduzäer“ von dürftigem Äußeren, ohne Vermögen, voll großer Pläne, mit recht unbestimmter Aussicht auf Erfolg, ohne Familie von Ruf und in einem Beruf der Schiffahrt, der nur gesellschaftsfähig ist, wenn man als Inhaber der Firma zeichnet und nicht nur eine Agentur besitzt. Wie hat er auch nur so verrückt sein können, sein „salomonisches“ Auge auf eine Hanseatin aus gutem evangelischem Hause zu werfen, auf ein gebildetes und begütertes Mädchen, das auch noch blond und blauäugig ist und ihn, dank ihrer hohen Absätze nach Pariser Mode, an Körpergröße um mehrere Fingerbreit übertrifft? Daß er jünger ist als sie, wird er mit Disraeli und dem kommenden Kaiser Wilhelm II. gemeinsam haben. Er sieht sie vor sich, wie sie strahlend, in Seide und Geschmeide vor der Gesellschaft glänzt, in ihrer Loge der Oper, auf Bällen und Empfängen, zu denen er bislang keinen Zutritt hatte. Er sieht sich selbst an ihrer Seite im Frack von tadelloser englischer Façon. Immer wird sie ihn überragen, ihr blondes Haar wird wie eine Sonne über seinem dunklen Haupte leuchten. Fürwahr, kein abschätzender spöttischer Blick, kein Nasenrümpfen wird ihn kränken.

      Und zwischen diesen rasch wechselnden Bildern geistern immer die riesigen Schiffe seiner Träume, neben ihr als Braut und sich als Bräutigam im Donnergetöse der Kirchenorgel von St. Petri. Er hat sich in den letzten Wochen die Hamburger Hauptkirchen von innen besehen. Mehr bedrückt als bewegt hat es ihn, zu erfahren, was aus dem Tempel Salomons und der Verehrung des Wüstengottes Jehova in Europa und hier im kühlen Norden hervorgegangen ist. An fünf Sonntagen hat er fünf verschiedene Predigten angehört voll von Zitaten aus Psalmen und Geschichten seines Volkes. Er hat kein Heimatrecht dabei verspürt und keine Hoffnung darauf bei denen, die von Zion und den Propheten mit salbungsvollem Anspruch wie Verwaltungsbeamte reden. Und er hat im Neuen Testament gelesen, alles, was über seinen „Landsmann“ Jesus aus Nazareth berichtet wird. Es hat ihn ergriffen.

      O ja, das ist ein Mensch, der Mensch an sich, nach hohem Plan, anständig und tapfer, aufrichtig, weitschauend, feinfühlig, naturliebend und den Mühseligen und Beladenen zugetan. Aber dann sind andere gekommen und haben damit einen flotten Betrieb organisiert, einen Seelenhandel, ein weltumspannendes Geschäft, das zu vielerlei Trost, Güte und Aufschwung geführt hat und zu nicht minder großer Gewalttätigkeit. Der Messias, für den jener Christus sich kaum gehalten, war als Gescheiterter zu ungeahnten posthumen Erfolgen gediehen. Sein Weltreich bestand nun bald zweitausend Jahre und hatte alle anderen überlebt. Seine guten Lehren gipfeln in der Mahnung an die Welt, mit sozialen Reformen zu beginnen. Aber Jünger und Apostel haben die schlichten Forderungen mit allerlei Mystik verdunkelt. Hier an der Wasserkante spuken ältere Geister. Das „Blut des Lammes“ hat sich nie ganz mit den Fluten nordischer Häfen vertragen. Und der Erlösungsgedanke, die Reinigung von allen Sünden allein durch den Glauben deucht dem jungen Ballin – er flüstert es nur ganz heimlich, gleichsam geduckt – ungeheuerliche, durch nichts weder zu erhärtende noch zu widerlegende Propaganda.

      In der Freien und Hansestadt hat man sich immer mehr auf die schlichte Erfahrung verlassen, daß der Gute belohnt und der Böse bestraft wird. Fraglich bleibt nur, was unter „böse“ und „gut“ zu verstehen sei, vor allem bei den Gläubigen selber. Entscheidet darüber wirklich nur das eigene Gewissen? Wer kann denn das Echo ertragen, das die Wände des Zimmers von dem angstvollen Schlag des Herzens zurückwerfen? Vielen sind die Ohren ohnehin verstopft. Die einen suchen den Lärm, der es übertönt, die anderen flüchten in Vereine, Zirkel und Kirchen. Wohl dem, der schlicht genug bleibt, sein Maß in sich selber zu finden. – Solche Betrachtungen steigen diesen Morgen wie von allein aus den trockenen Sätzen des Frachtbriefes auf von dem verbrauchten Pult, das schon die sorgenvollen Seufzer des Vaters ins Holz gesogen. Worte wie Stückzahl, Verpackung, Tara, Christbaum, Füße, Zoll, Ladegebühr, Bestimmungsort, Abnehmer verwandeln ihren Sinn in Träume, die zwischen Himmel und Hölle auf und nieder steigen.

      Was wünschen Sie denn? Wollen Sie auswandern? Das waren die ersten Worte, die Marianne ihm gegönnt. Jetzt weiß er es: Er wird stets zu denen gehören, die immer dabei sind, auszuwandern, stets aus dem Vorhandenen in ein Neues, ein Unbekanntes unterwegs und aus der vertrauten Heimat auf dem Sprung in die unbekannte Fremde.

      Ist eben nicht das Wort „Freiheit“ gefallen? Gibt es das? Es gibt nur freiwillige Bindungen. Die Lösungen bleiben ungewiß.

      Nebenan, hinter dem langen Abfertigungstisch, spricht schon lange eine Frauenstimme. Der devot gekrümmte Rücken seines Angestellten verdeckt die Sprecherin. Aber man vernimmt deutlich, was sie sagt: „Mein Herr, es ist wohl besser, ich rede mit dem Chef persönlich.“