umsetzte, hatte viele Gründe. Der Bedeutendste blieb die Trennung von Mark und der dunkle Abgrund, in den sie danach gestürzt war. Alle hatten ihr geraten, sich etwas zu gönnen, und Venedig - der Traum ihrer Kindheit und Jugend - sollte ihr Trost und Neuanfang werden. Auch wenn sie den bittersüßen Beigeschmack nicht leugnen konnte, der für Tage auf ihrer Zunge lag, nachdem sie die Reise gebucht hatte. Galt Venedig nicht als Stadt der Verliebten? Und hatte sie nicht insgeheim gehofft, dass Mark sie eines Tages auf Hochzeitsreise dorthin entführte?
Sie drängte den Gedanken zurück. Mark hatte es mehr als deutlich gemacht, dass er von Hochzeit nichts wissen wollte. Er hatte sogar noch die Frechheit besessen, sie vollkommen entgeistert anzustarren, an jenem schicksalsträchtigen Abend, als sie, beseelt von der Hochzeit Amelies, deren Traum in Weiß und dem Sekt, der reichlich geflossen war, damit begann, ihn zu necken. Mark hatte vorgegeben, nichts geahnt zu haben, und durchweg behauptet, dass er immer davon ausgegangen war, dass keiner von ihnen sich dem altmodischen Diktat der Gesellschaft unterwerfen wollte.
Dabei hatte sie nie einen Hehl aus ihren Wünschen gemacht. Selbst wenn sie diese nicht immer aussprach, konnte doch jeder zwischen den Zeilen lesen. Und träumte nicht jede Frau von dem Versprechen, das Liebe und Treue festigte?
Sofia schwang ihren Koffer auf die Ablage. Das hatte Mark jetzt davon. Sie reiste alleine. Und da es nun in den Sternen stand, ob sie jemals ein Hochzeitskleid tragen würde, hatte sie sich das ultimative Kostüm geleistet. Es war perfekt in jeder Hinsicht. Gekrönt von einer weißen Perücke, in der Perlen, Schleifen und filigrane Silberketten eingearbeitet waren, entfaltete sich unter dem engen Korsett, das ihre üppigen Formen geschickt zur Geltung brachte, ein fantastisch anmutender Reifrock, gerade lang genug, dass sie in ihren silbernen, hochhackigen Schuhen nicht über ihn stolperte. Der Stoff schimmerte in Abstufungen von Weiß und Silber und sie genierte sich nicht im Geringsten, dass ein Unbeteiligter den Vergleich mit einem Brautkleid durchaus anführen könnte. Schließlich konnte man sich im Karneval nach Belieben ausstaffieren, und die venezianische Maske bot Anonymität und verbot jegliche Scham.
Sie starrte aus dem Fenster des Zuges und bereute, sich den Wetterbericht nicht angesehen zu haben. Ihr Kleid füllte den Koffer derart vollständig, dass für Regenschirm oder ähnlich praktische Accessoires kein Raum geblieben war. Und dass ein Teil des weiß glänzenden Stoffes aus ihrem Rucksack hing und ein wenig Glitter verstreute, ließ sich nicht verhindern.
Sofia hob das Kinn und presste die Lippen zusammen. Sollte nur jemand etwas sagen - sie war durchaus in Stimmung, mit einer patzigen Antwort aufzuwarten. Weder Regen noch Schnee noch schiefe Blicke würden ihr das Abenteuer in Venedig madig machen. Sie zuckte zusammen, als sie ein Lachen hörte, und schalt sich gleich darauf selbst dafür. Leider war es immer noch so, dass sie hinter jeder zweiten Männerstimme Mark vermutete. Dieser Fluch konnte sich einige Monate hinziehen, so hatten die Kolleginnen ihr mehrfach prophezeit.
***
Ihr Hotel war klein, aber für ihre Ansprüche perfekt. Ein kleines Fenster erlaubte einen hübschen Blick auf einen der zahllosen malerischen Winkel der Stadt. Sie hatte sich mit dem ersten Schritt auf das Pflaster in Venedig verliebt. Nicht dass es anders zu erwarten gewesen wäre. Aber die Atmosphäre, die Klänge, das Leben auf den Straßen hielten sie gefangen und lockten, sobald sie ihre Unterkunft gefunden hatte, hinaus in die Welt des Karnevals.
Die Blicke, die ihr folgten, bemerkte sie durchaus. Das Kostüm war perfekt. Sie fühlte sich wie in einem Rausch, als sie sich unter die flanierenden Touristen mischte. So sehr, wie sie befürchtet hatte, fiel sie nicht auf. Von akkurat barocken Roben bis zu den fantastischsten, grellbunten Verkleidungen war alles vertreten. Zudem versteckten sich die meisten wie sie hinter einer kunstvollen Maske und verliehen so dem Gewimmel um den Markusplatz eine unwirkliche Note.
Es hielt sie lange in den Gassen. Sie wandelte über Brücken und entlang der Kanäle, ohne zu frieren, oder dass ihre Begeisterung nachließ. Doch als die Dunkelheit herankroch, angelte sie ihr Ticket hervor und bahnte sich den Weg in den kleinen, verschwiegenen Palazzo, den man ihr im Reisebüro empfohlen hatte. Von außen wirkte das Gebäude unscheinbar, doch kaum hatte Sofia es betreten, umfing sie der Zauber einer venezianischen Ballnacht.
Sie tanzte, bis ihre Füße schmerzten, und ließ sich dann von ihrem Tanzpartner an einen der freien Tische führen. Er versorgte sie mit Lachshäppchen und Champagner und Sofia entschied, dass dieser Tag definitiv einer der besten ihres Lebens werden sollte. Dass sie immer wieder das tiefe Lachen zu hören glaubte, welches sie so vermisste, dürfte sie nicht davon abhalten, alles mitzunehmen, was sie nur mitzunehmen imstande war.
Die kristallenen Leuchter über ihr schienen sich zu bewegen, als das kleine Orchester die Bühne verließ und der Saal sich verdunkelte. Tänzer tauchten auf und begannen mit einer Mischung aus Menuett und Artistik das Publikum zu begeistern.
Sofia gönnte sich ein weiteres Glas und ihre Augen hingen an den sinnlichen Bewegungen eines überaus gelenkigen Künstlers, der die Aufmerksamkeit auf sich zog. Sein Kostüm war eng geschnitten und überließ kaum etwas der Fantasie. Nur sein Gesicht verbarg er hinter einer Maske.
»Das ist Rudolfo«, erklärte ihr Gegenüber und reichte ihr ein weiteres Glas Champagner. »Dein Getränk geht auf mich«, fügte er hinzu und schob seine Maske in sein Haar, um ihr zuzuzwinkern. Sie nippte lächelnd. »Ich dachte, wir hätten Maskenzwang«, wandte sie schließlich ein.
»Das hoffe ich doch nicht«, murmelte Matthias und legte den Kopf schief, was ihm das Aussehen eines Hundewelpen verlieh.
Sofia schüttelte den Kopf und drohte mit dem Finger.
»Meine Maske steht nicht zur Debatte. Über den Rest lässt sich reden.« Sie leckte sich über die Lippen und fuhr mit einem Finger über den Rand der Champagnerflöte. Matthias schluckte sichtlich.
Sofia schlug ihre Beine übereinander und sah zur Bühne. »Wie ist das mit Rudolfo? Kennst du ihn?«
Matthias zog seine Augenbrauen in die Höhe. »Habe ich bereits verloren?«, erkundigte er sich und schob spielerisch die Unterlippe vor. »Wie immer, wenn Rudolfo sich sehen lässt.«
»Wir werden sehen.« Sofia kicherte hinter vorgehaltener Hand. Auch wenn Rudolfo nicht weniger war als ein Athlet in dunkler Seide, wirkte Matthias doch fraglos sympathisch und war mit seinem blonden Bart und den Strähnen, die ihm frech ins Gesicht hingen, nicht unattraktiv.
»Wir haben zusammen studiert«, erklärte Matthias nun und zog ein Foto aus seinem weinroten Samtfrack. Tatsächlich erblickte Sofia eine jüngere Ausgabe von ihm neben einem dunkelhaarigen Adonis, der weiße Zähne zeigte und seine Augen hinter einer Sonnenbrille verbarg.
»Wenn das Orchester wieder spielt, kann ich dich ihm vorstellen.«
Matthias warf ihr einen vielsagenden Blick zu, bevor er das Foto wieder einsteckte. »Ihr könntet etwas gemeinsam haben. Auch er besteht darauf, seine Maske während der Karnevalszeit aufzubehalten. Vor allem, wenn ihm eine geheimnisvolle Schönheit begegnet.«
Sofia biss sich auf die Unterlippe und sah wieder zu Rudolfo, der gerade zu einem Trommelwirbel einen Rückwärtssalto vollführte, um dann einer mit Federn geschmückten Tänzerin elegant zu Füßen zu sinken.
»Ich denke, dass Rudolfo von ausreichend Schönheit umgeben ist«, gab Sofia zu bedenken und Matthias lachte, nahm ihre Hand und presste seine Lippen darauf. »Nicht zwangsläufig. Und nicht jede von ihnen ist erpicht darauf, zu teilen.«
»Zu teilen?«
Matthias zuckte mit den Schultern. »Oder geteilt zu werden«, gab er dann zu. »Rudolfo und ich haben viel übrig für gemeinsames Vergnügen. Wie sieht es mit dir aus?«
Sofia spürte, wie ihr das Rot in die Wangen stieg und war dankbar für die schützende Maske. Gleichzeitig stieg ein angenehmes Kribbeln in ihr hoch. Es begann in den Lenden und wanderte hinauf in ihren Magen. Sie kicherte wieder. »Das ist eigentlich nicht das, was ich normalerweise tue«, antwortete sie und Rudolfo schob seine Maske wieder über die Augen und lehnte sich zu ihr. »Aber vielleicht bist du heute nicht du. Vielleicht bist du heute eine venezianische Braut, auserkoren, um der Liebe und der Leidenschaft zu frönen, solange die Nacht andauert.«