Virginia Woolf

Die Jahre


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Einführung des Schulzwangs ...?‘« las Kitty laut.

      »Ja. Das ist es«, sagte Mrs. Malone, öffnete ihre Nähkassette und suchte nach der Schere.

      »,... hatten die Kinder reichlich Gelegenheit, beim Kochen zuzusehen, und so unzulänglich das auch war, gab es ihnen doch einen gewissen Vorgeschmack und eine Ahnung von Kenntnissen. Heute sehen und tun sie nichts anderes als lesen, schreiben, rechnen, nähen oder stricken‘«, las Kitty vor.

      »Ja, ja«, sagte Mrs. Malone. Sie entrollte den langen Streifen von Stickerei, auf den sie ein Muster von Vögeln, die an Früchten pickten, stickte – kopiert nach einem Grabmal in Ravenna. Die Stickerei war für das Gästeschlafzimmer bestimmt.

      Der Leitartikel mit seinem geläufigen Bombast langweilte Kitty. Sie suchte nach irgendeiner kleinen Neuigkeit, die ihre Mutter interessieren könnte. Mrs. Malone hatte es gern, wenn jemand mit ihr sprach oder ihr vorlas, während sie arbeitete. Abend für Abend diente ihre Stickerei dazu, das Gespräch nach dem Essen zu einer angenehmen Harmonie zu verweben. Man sagte etwas und machte einen Stich; blickte auf die Vorzeichnung, wählte eine andersfarbene Seide und stickte weiter. Manchmal las Dr. Malone aus Dichtern vor – Pope, Tennyson. Heute abend wäre es ihr lieb gewesen, wenn Kitty mit ihr gesprochen hätte. Aber sie war sich immer mehr bewußt, daß es schwierig wurde mit Kitty. Warum? Sie warf einen Blick auf sie. Was war es? fragte sie sich. Sie stieß ihren schnellen kleinen Seufzer aus.

      Kitty wandte die großen Seiten um. Schafe hatten Leberegel; Türken verlangten Religionsfreiheit; die Wahlen standen bevor.

      »Mr. Gladstone – « begann sie.

      Mrs. Malone fand ihre Schere nicht. Es ärgerte sie.

      »Wer kann sie nur wieder genommen haben?« begann sie. Kitty kniete auf den Teppich hin, um nach ihr zu suchen. Mrs. Malone wühlte in ihrer Nähkassette; dann fuhr sie mit der Hand in den Spalt zwischen dem Sitzkissen und der Stuhllehne und brachte nicht nur die Schere zum Vorschein, sondern auch ein kleines Papiermesser aus Perlmutter, das schon Gott weiß wie lange vermißt worden war. Die Entdeckung war ärgerlich; sie bewies, daß Ellen die Kissen nie ordentlich aufschüttelte.

      »Hier ist sie, Kitty«, sagte sie. Sie schwiegen beide. Es war jetzt immer eine gewisse Gezwungenheit zwischen ihnen.

      »Hast du dich gut unterhalten bei den Robsons, Kitty?« fragte sie, ihre Stickerei wieder aufnehmend. Kitty antwortete nicht. Sie blätterte in der Zeitung.

      »Da ist ein Experiment gemacht worden«, sagte sie. »Ein Experiment mit elektrischem Licht. ,Man sah plötzlich‘«, las sie vor, »,ein blendendes Licht hervorschießen, das einen durchdringenden Strahl über das Wasser zum Felsen von Gibraltar sandte. Alles dort war hell beleuchtet wie bei Tag.‘« Sie hielt inne. Sie sah das helle Licht von den Schiffen auf dem Salonstuhl ihr gegenüber. Aber da öffnete sich dieTür, und Hiscock kam herein, mit einem Billett auf einem Präsentierteller.

      Mrs. Malone nahm es und las schweigend.

      »Keine Antwort«, sagte sie. An dem Ton, in dem die Mutter das sagte, erkannte Kitty, daß etwas geschehn war. Die Mutter saß und hielt das Briefblatt in der Hand. Hiscock schloß die Tür hinter sich.

      »Rose ist gestorben!« sagte Mrs. Malone. »Meine Cousine Rose.«

      Das Billett lag offen auf ihrem Schoß.

      »Es ist von Edward«, sagte sie.

      »Tante Rose ist gestorben?« fragte Kitty. Vor einem Augenblick hatte sie an helles Licht auf einem rötlichen Felsen gedacht. Nun sah alles aschgrau aus. Eine Pause. Ein Schweigen. Der Mutter standen Tränen in den Augen.

      »Grade wenn die Kinder sie am meisten brauchen«, sagte sie und steckte die Nadel in ihre Stickerei fest. Sie begann sie sehr langsam einzurollen. Kitty faltete die »Times« zusammen und legte sie auf ein Tischchen, langsam, damit sie nicht raschle. Sie hatte Tante Rose nur ein- oder zweimal gesehn. Sie fühlte sich unbehaglich.

      »Bring mir mein Vormerkbuch!« sagte ihre Mutter endlich. Kitty holte es.

      »Wir müssen unsre Gesellschaft für Montag abend absagen«, sagte Mrs.Malone, ihre Vormerkungen durchsehend.

      »Und den Lathoms für ihre am Mittwoch«, murmelte Kitty, die der Mutter über die Schulter blickte.

      »Wir können nicht alles absagen«, sagte ihre Mutter scharf, und Kitty fühlte sich zurechtgewiesen.

      Aber es mußten Billette geschrieben werden. Sie schrieb sie nach dem Diktat der Mutter.

      Warum ist sie so bereit, alle unsre Verabredungen abzusagen? dachte Mrs. Malone, die sie beim Schreiben beobachtete. Warum freut es sie nicht mehr, mit mir auszugehn? Sie überlas die Briefchen, die ihre Tochter ihr brachte.

      »Warum nimmst du nicht regeren Anteil an allem hier, Kitty?« fragte sie gereizt und schob die Briefchen beiseite.

      »Aber Mama –« begann Kitty, die übliche Auseinandersetzung zu verhindern suchend.

      »Was willst du denn eigentlich tun?« fragte ihre Mutter beharrlich weiter. Sie hatte die Stickerei weggelegt; sie saß aufrecht, sie sah sehr einschüchternd aus.

      »Dein Vater und ich wollen nicht, daß du etwas andres tust, als was du selbst willst«, fuhr sie fort.

      »Mama, bitte, liebe Mama – «

      »Du könntest deinem Vater helfen, wenn es dich langweilt, mir zu helfen. Papa sagte mir erst neulich, daß du jetzt nie zu ihm kommst.« Sie meinte damit, wie Kitty wußte, seine Geschichte des College. Er hatte vorgeschlagen, daß sie ihm dabei helfen solle. Wieder sah sie – sie hatte eine ungeschickte Bewegung mit dem Ellbogen gemacht – die Tinte über fünf Generationen von Oxfordstudenten fließen und viele Stunden der wunderschönen Handschrift ihres Vaters unleserlich machen; und hörte ihn wieder mit seiner gewohnten höflichen Ironie sagen: »Die Natur hat dich nicht zur Gelehrsamkeit bestimmt, meine Liebe«, während er das Löschblatt darüber legte.

      »Ich weiß«, sagte sie jetzt schuldbewußt. »Ich bin in letzter Zeit nicht bei Papa gewesen. Aber es gibt auch immer so viel andres ... « Sie zögerte.

      »Natürlich«, sagte Mrs. Malone, »bei einem Mann in der Stellung deines Vaters ... « Kitty saß schweigend da. Beide saßen sie schweigend da. Beiden waren diese kleinlichen Reibereien zuwider; beide verabscheuten diese immer wiederkehrenden Szenen; und doch schienen sie unvermeidlich zu sein. Kitty stand auf, nahm die Billette, die sie geschrieben hatte, und legte sie in die Halle hinaus.

      Was will sie nur? fragte sich Mrs. Malone, zu dem Bild aufblickend, ohne es zu sehen. Als ich in ihrem Alter war ... dachte sie und lächelte. Wie gut sie sich erinnerte, wie sie an einem solchen Frühlingsabend daheim, oben in Yorkshire, gesessen hatte, meilenweit von überall. Der Hufschlag eines Pferdes auf der Landstraße war schon aus weitester Entfernung zu hören. Sie konnte sich erinnern, ihr Schlafzimmerfenster hochgeschoben und auf die dunkeln Sträucher im Garten hinausgesehn und ausgerufen zu haben: »Ist das das Leben?« Und im Winter der Schnee. Sie konnte noch immer den Schnee von den Bäumen im Garten herabplumpsen hören. Und hier war nun Kitty und lebte in Oxford, mitten drin in allem.

      Kitty kam in den Salon zurück und gähnte ein ganz klein wenig. Sie hob die Hand mit einer unbewußten Geste der Müdigkeit, die ihre Mutter rührte, vor den Mund.

      »Müde, Kitty?« fragte sie. »Es war ein langer Tag. Du siehst blaß aus.«

      »Und du siehst auch müde aus«, sagte Kitty.

      Die Turmuhren begannen zu schlagen, eine nach der andern, eine in die andre hinein, durch die feuchte, schwere Luft.

      »Geh schlafen, Kitty«, sagte Mrs. Malone. »Da! Es schlägt schon zehn.«

      »Aber kommst du nicht auch schon, Mama?« fragte Kitty, neben deren Armsessel stehnbleibend.

      »Papa wird nicht so bald zurück sein«, sagte Mrs. Malone und setzte ihre Brille wieder auf.

      Kitty wußte, es war zwecklos, sie überreden zu wollen. Es gehörte zum mysteriösen Ritual des Lebens ihrer Eltern.