läßt sich das selbstverständlich einrichten. Du könntest als Experte fungieren. Für Schulfragen. Mitunter haben wir beide Flügel voller Experten. Sie bekommen eine Aufwandsentschädigung und haben das Ruderboot zur freien Verfügung.«
Ich streckte mich ein wenig.
»Ja, ich habe immerhin alles in allem mehr als dreißig Jahre Erfahrung als aktiver Lehrer.«
Der Staatsminister sah mich nachdenklich an.
»Erfahrung? Erfahrung ... na ja, das ist zwar nicht schlecht, aber ... ja, du hast nicht zufällig, ähäm, eine ... Vision oder so etwas? Von der Schule der Zukunft, frei von jedem hinderlichen Zwang? Das würde sich wirklich besser machen ...«
Ich verneinte, eine Vision hatte ich nicht zu bieten und mir wurde klar, daß die Zukunft mich eingeholt hatte. Ich beschloß, mich an den Friedhof zu halten. Dort konnte ich zwischen den Gruften wandeln wie ein Toter unter Toten. Frei von Visionen, menschlicher Gemeinschaft und Aufwandsentschädigungen.
Im Eßzimmer des Hotels aß ich zu vorgerückter Stunde – apropos tote Gegenstände – etwas gekochten Dorsch naturell; meine Gedärme waren wie gewöhnlich nach einer Autofahrt mit dem Staatsminister so sehr durchgerüttelt, daß ich das Gefühl hatte, selbst wenige Löffel Eisoße seien eine unzulässige Ausschweifung.
Wir kehrten ins Zimmer zurück, wo der Staatsminister in seinen Betrachtungen über die Gräber des Ortes fortfuhr, während ich die Bekanntschaft mit dem heiligen Sebastian erneuerte.
»Ädelsta!« rief der Staatsminister plötzlich aus wie ein zweiter Archimedes in der Badewanne. »Ädelsta! Aber hier wohnt doch Mommy, meine alte Amme. Ich muß sie besuchen. Komm, wir machen uns gleich auf den Weg!«
Ich kann nicht behaupten, alte Ammen – sei es nun die des Staatsministers oder anderer Leute – übten eine größere Anziehungskraft auf mich aus, aber in diesem Augenblick beschlich mich das Gefühl, ich sollte mich an diesem Abend lieber mit dem Waschen von Leichen befassen als im Hotelzimmer zu bleiben.
So standen wir dann wenige Minuten später auf dem Bürgersteig.
Ich hätte wissen müssen, was dabei herauskommen würde.
Der Staatsminister hatte natürlich weder Adresse noch Namen – Mommy konnte schließlich ebensogut der Name einer Katze sein wie der einer Amme –, und ich kann versichern, daß es außerordentlich beklemmend ist, durch eine Kleinstadt zu wandern im Schlepptau des obersten Wächters des Rechtswesens des Landes, der ohne Unterschied die Entgegenkommenden nach seiner alten Amme befragte.
Am Ende, als er sich erinnerte, daß sie Lindberg hieß und mit ihrem Bruder zusammen wohnte, biß ein Passant an. Ein älterer, vornehmer Herr deutete mit anmutigen Bewegungen seines Spazierstockes den Weg, der unserer war.
»Ein großes, gelbes Haus mit weißen Fensterrahmen, Sie können es gar nicht verfehlen«, schloß er, und ich bedankte mich und dachte, daß er da aber den Staatsminister schlecht kannte.
Wir steuerten bezeichnete Richtung an. Ädelsta erwies sich als eine der Kleinstädte, in denen die Storgatan, die Hauptstraße, sich selbst in den Schwanz beißt und die Seitenstraßen in launischen Mustern frei verstreut lagen.
»Sie ist bei uns gewesen, bis ich in die Schule gekommen bin, dann ist sie ausgezogen, um ihrem Bruder den Haushalt zu führen, nachdem er Witwer geworden war«, erzählte der Staatsminister mit ungewohnten Seufzern der Nostalgie – wenn es denn nicht von der Steigung der Straße kam. »Die Hefewecken, die sie samstags immer gebacken hat, ich habe noch den Duft in der Nase! Sie ist ein paar Mal zu Besuch gekommen, und wir haben uns kleine Briefe geschrieben, aber dann fand ich wohl, ich sei zu groß für so etwas, wie Jungen eben so sind. Ich habe wirklich jahrelang nicht mehr an sie gedacht, bis meine alte Tante letztes Weihnachtsfest gesagt hat: ›Wenn du ohnehin in Harpsund bist, dann kannst du doch auch mal Mommy in Ädelsta besuchend.‹ Hier muß es sein!«
Es war tatsächlich ein großes, auffälliges Haus, eher ein Anwesen, und es schien mir des für die Bewohner etwas besorgniserregenden Typs zu sein, der jederzeit von fanatischen Wahrern des kulturellen Erbes ins Stockholmer Freilichtmuseum Skansen verfrachtet werden konnte. Mansardendach mit altem, geädertem Schiefer; die mit breiten Balken beplankten Wände und gedrechselten Fensterrahmen ergaben eine stattliche Fassade, die durch verschnörkelte Latten verlängert wurde, hinter denen Laubmassen einen schattigen Garten verhießen.
Der Staatsminister steuerte sogleich auf die aus Eichenbohlen gezimmerte Haustür zu, geschnitzt und ehrwürdig wie der Deckel eines Sarges, und ich spürte die übliche Unruhe, die mich befällt, wenn ich ihm auf unangemeldete Visiten in gutbürgerliche Stuben folge, wo er schnell als Störfaktor oder wenigstens als unruhestiftendes Element empfunden werden mußte. (Ich erinnere mich an eine aristokratische Tante, der offensichtlich ein erheblicher Teil der politischen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte entgangen war. Sie befaßte sich eingehend mit der Tätigkeit des Staatsministers. »Ich finde, in letzter Zeit liest man in der Zeitung so seltsame Dinge über dich. Und warum sieht man dich so häufig mit diesem Erlander zusammen? Willst du dir nicht endlich einmal eine ordentliche Arbeit suchen? Ja, du mußt mir verzeihen, daß ich es laut ausspreche, aber manchmal kommt es mir so vor, als wärst du in schlechte Gesellschaft geraten und Sozialist geworden. Deinen Eltern hätte es gar nicht gefallen. Nein, es hätte ihnen wirklich ganz und gar nicht gefallen.«)
Doch der Staatsminister, der Sehnsucht nach seiner Mommy hatte, pochte an und hämmerte mit dem Türklopfer, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, daß er einem steuerschweren Grundstückseigentümer und seinen dienstbaren Geistern wie der Gehörnte höchstpersönlich vorkommen konnte.
Die Haustür wurde geöffnet, und eine zierliche Dame stand in stummer Verwunderung auf der Schwelle. Doch dann war alles ein einziges Rufen und Umarmen.
Es war die Dame, die schließlich den Clinch auflöste.
»Aber mein Junge, laß dich richtig anschauen! Wie groß du geworden bist! Und auch so elegant! Mein Junge, du bist immer noch der alte, ich habe dich gleich wiedererkannt, obwohl es bestimmt schon an die dreißig Jahre her sein muß. Ja, ich habe dich natürlich in der Zeitung gesehen, aber das ist ja nie dasselbe. Aber wir wollen doch nicht hier draußen herumstehen!«
Und so verschwanden der Staatsminister und die alte Frau durch die Haustür, die wieder ins Schloß fiel, und ich stand, wo ich war, und kam mir vor wie ein Hautlappen, der nach einer gelungenen Operation überflüssig geworden war.
2
Nach einigen endlosen Sekunden jedoch öffnete sich die Tür abermals, und der Staatsminister zog mich ins Haus.
»Das ist mein Schwager, Studienrat Persson. Er ist Lehrer«, ergänzte er überdeutlich und laut, so wie es jüngere Leute gern in Gegenwart von überlebenden Exemplaren der älteren Generation tun, bei denen man von vornherein davon ausgehen kann, daß sie Gehör und Begriffsvermögen nahezu vollständig eingebüßt haben.
»Wie angenehm, Herr Studienrat Persson, Sie kennenzulernen! Willkommen in meinem Hause und willkommen in Ädelsta darf ich Sie wohl auch heißen!«
Sie war in der Tat eine ganz und gar wunderbare, kleine Dame, diese Mommy.
Dünn und zerbrechlich, bleiche Wangen und silbergraues Haar, so stand sie vor mir wie die Urgroßmutter aus einem Märchen. Die feste Stimme und die funkelnden, blauen Augen vermittelten dem urteilsfähigen Beobachter unmißverständlich, daß Senilität die Kommunikation hier nicht behindern würde. Um den schrumpeligen Hals ruhte ein entzückendes, krauseartiges Gebilde, und auf den knöchellangen Rock fiel die Bluse in einer Wolke aus Rüschchen und Plüschchen.
Eben so weit in meinen Beobachtungen gediehen, wurde ich von einem schwanzwedelnden, dackelähnlichen Tier überfallen, das an mir hochzuklettern versuchte, ohne Zweifel in der Hoffnung, nackte, faltige Gesichtshaut abschlecken zu können.
»Aber Pelleman, daß du dich nicht schämst! Ist ja gut, jetzt aber runter mit dir!«
Mommy hatte eingegriffen und den Hund zur Ordnung gerufen, mußte sich jedoch sogleich eines neuen kläffenden