als »mein guter Freund« tituliert wurden, und ich dachte mir, daß in diesem Hause Freundschaft mit seltsamer Genauigkeit einer sozialen Stufenleiter folgte. Meine Hand wurde ergriffen und vollkommen von einer muskulösen, haarigen Masse umschlossen, als sei sie eine kleine, wehrlose Pille, die zur Nacht einzunehmen war. Wir unterhielten uns eine Minute, ich erinnere mich jedoch nicht des Inhalts unseres Gesprächs, da meine Gedanken hauptsächlich mit seinen ungewöhnlich spitzen Schneidezähnen beschäftigt waren.
Unter nicht enden wollenden, entschuldigenden Verbeugungen gegen den Staatsminister begann der Gastgeber sodann, seine jetzt vollzählig versammelte Bridge-Runde zusammenzutreiben – der Spieltrieb war offenbar genauso stark entwickelt wie das Bedürfnis, sich mit Titeln zu umgeben. Doch der freigestellte Staatsminister gesellte sich mit glücklicher Miene zu Mommy aufs Sofa. Ich selbst sank in einen weinroten Fauteuil, nachdem ich eine fette Katze fortgescheucht hatte, die sich unter einem gelben, vorwurfsvollen Blick trollte.
In der Bridge-Runde herrschte offensichtlich eiserne Disziplin, da sogar der Botschafter schwieg und allein ein leises Brummeln zu hören war sowie die ein oder andere wohlartikulierte Zurechtweisung des Gastgebers gegenüber dem weniger folgsamen Apotheker. Doch als die erste Partie beendet war, entwickelte der alte Mann abermals einiges an geselliger Aktivität.
»Aber Mommy, meine Liebe, wo hast du nur deinen Kopf, bekommen wir denn heute abend gar keinen Tee? Oh, Entschuldigung, ich habe nicht gesehen, daß der Herr Staatsminister sich mit meiner Schwester unterhält! Nein, kommt nicht in Frage, daß der Herr Staatsminister jetzt geht, ohne Tee. Aber es ist in der Tat bedauerlich, daß der Herr Staatsminister meinen Sohn nicht kennenlernt ...«
Die Karten waren von neuem gemischt und verteilt worden, der Fabrikdirektor jedoch sprach über seinen Sohn, den Bankdirektor, und da mußte offensichtlich die Rücksicht auf das Spiel weichen. Er verbreitete sich über seine Verdienste, hielt sich bei Meilensteinen seiner Karriere auf und schilderte bis ins kleinste Detail Bekanntschaften und Verbindungen innerhalb der tonangebenden Kreise.
Der General war verärgert, das fiel mir sofort auf.
Anfangs schnitt er nur etwas ungeduldige Grimassen vor sich hin und trommelte leicht mit den Fingern auf der Tischplatte, doch bald begann er, Blickkontakt mit seinen Spielkameraden zu suchen. Er starrte sie vielsagend an, verdrehte die Augen und führte sich überhaupt wie ein gelangweilter Schuljunge auf, zur Stille zwar gezwungen, jedoch nicht ganz von einem gestrengen Lehrer unterworfen.
Doch dann schaute der Fabrikdirektor auf, mitten in einer sinnlosen und ausschweifenden Schilderung, wie dem Sohn der Orden des Weißen Löwen dritter Klasse von der Hand des Präsidenten der Republik verliehen wurde. Der General bot gerade dem Botschafter eine seitliche Grimasse dar, die deutlicher als alle Worte sagte: »Mein Gott, wie lange will er sich dabei noch aufhalten?«
Dem alten Mann blieb der Mund offen stehen, er glotzte, bekam die Situation spitz und schoß hoch, blaurot im Gesicht angelaufen und schrie: »Wie belieben? Wie belieben?«
Dann fielen die Wörter, die ich in einen solchen Kreis nicht für möglich gehalten hätte: »Ja, stellt euch vor, ich spreche von ihm! Und das tue ich, weil er ein Thema ist, über das man sprechen kann! Er sitzt zufällig nicht in einer Anstalt wie deine Mißgeburt von Sohn!«
Auch der General hatte sich auf die Hinterbeine gestellt. Er beugte sich über den Tisch zum Fabrikdirektor hinüber, und ich sah, wie ihm die Hände zitterten.
Keine Ahnung, was ich für eine Reaktion von ihm erwartete. Ich glaube, ich hätte ihn verstanden und eine Entschuldigung gefunden, ganz gleich, was er getan hätte – dem Alten eine aufs Maul geben, ihm ins Gesicht spucken oder ganz einfach aus dem Zimmer und dem Haus gehen.
Doch er tat nichts dergleichen.
Er stammelte unverständliches Zeug, sank auf den Stuhl zurück, nahm seine Karten wieder zur Hand und schickte mit belegter Stimme einen Appell an die Herzen.
Der Fabrikdirektor setzte sich ebenfalls. Er fröstelte, mahlte mit den Kiefern und brummelte ein wenig vor sich hin, doch schnell war er wieder beim Spiel, und es folgte eine peinlich genaue Schilderung des sich anschließenden Mittagessens in der Botschaft, nachdem der Orden dem Sohn an die Brust geheftet worden war.
Der General schaute stur auf seine Karten hinunter.
»Wie stark es regnet!«
Mommy hatte sich aus dem Sofa erhoben, stand jetzt hinter ihrem Bruder und strich ihm sanft über die Schultern, als wolle sie ihn besänftigen.
Es regnete tatsächlich, es peitschte geradezu gegen die bleiverglasten Sprossenfenster. Ich bereute meine Unvorsichtigkeit bitterlich, an diesem lauen Sommerabend ohne Mantel aus dem Haus gegangen zu sein.
»Jetzt weiß ich aber, was wir machen!«
Der Fabrikdirektor sprang mit erstaunlicher Spannkraft auf und schoß ans Fenster.
»Der Herr Staatsminister übernachtet hier, ja, der Herr Studienrat selbstverständlich auch. Dann müssen Sie nicht in dieses furchtbare Wetter hinausgehen, werden meinen Sohn kennenlernen und können morgen früh bei der Geburtstagsaufwartung dabeisein. Es ist übrigens schon abgemacht, daß der Botschafter und der General hier nächtigen, sie haben einen beträchtlichen Weg zu ihren Gütern und wollen morgen früh um sechs die Gesangseinlage nicht verpassen. Nein, es macht nicht die geringste Mühe, wir haben so viele Gästezimmer da oben bereitstehen. Nicht wahr, Mommy, meine Liebe, ist Lotta dir nicht heute behilflich gewesen? Ja, das Mädchen war kurz bei mir im Zimmer, hat gezwitschert und Unordnung angerichtet.«
Der alte Mann war zurückgesprungen und packte seine Schwester jetzt zärtlich am Ohr.
»Jetzt setzt du den Tee auf und dann gehe ich das Hotel anrufen und lasse das Gepäck der Herren herüberschicken. Und morgen ißt der Herr Staatsminister hier mit meinem Sohn zu Mittag, hoffe ich. Die Herren werden viel miteinander zu besprechen haben, sie bewegen sich ja beide sozusagen im Zentrum der Macht!«
Mommy jedoch schien nicht richtig zufrieden zu sein. Sie murmelte etwas davon, daß wir es bestimmt sehr viel bequemer in unserem Hotel hätten, doch der alte Mann wiederholte, daß in dem Mauseloch kein Schwein wohnen könne, und ich war geneigt, ihm recht zu geben. Der heilige Sebastian konnte es und womöglich auch der Staatsminister, aber ganz gewiß kein Schwein und ich schon gar nicht.
Und so wurde es gemacht. Kurz nach zehn Uhr entschuldigte ich mich mit der ermüdenden Reise, und Mommy führte mich die knarrende Treppe hinauf in ein nettes Zimmer unter dem Dach mit einer Tapete in großem Blumenmuster und gediegenen, altmodischen Möbeln.
Ich richtete mich für die Nacht ein und der Schlaf kam.
Doch mit dem Schlaf kamen auch die Träume, unerreichbar zwar für die Erinnerung, aber angsteinflößend und böse für den Schlafenden ...
Ich erwachte und dachte, der Regen, der gegen die Fenster trommelte, habe mein Unterbewußtsein gequält und mich schließlich geweckt; es sitzt seit der Kindheit in mir, daß ich mit der Angst aufwache, ich hätte nach dem Spielen bei Tag da draußen etwas vergessen.
Ich schlummerte abermals ein, doch wachte wieder auf und beschloß aufzustehen, um auf die Toilette zu gehen. Ich ließ das Licht im Flur aus, um die ringsum Schlafenden nicht zu beunruhigen, und die Sommernacht war auch nicht so dunkel, daß ich nicht gefunden hätte, wonach ich suchte. Wo war doch jetzt gleich noch der Waschraum? Bei der Treppe, lag er nicht dort?
Ich machte mich auf, und der Teppich schluckte jedes Geräusch der Schritte.
Doch durch die Dunkelheit drang eine tiefe, gepreßte Stimme an mein Ohr, kaum mehr als ein Flüstern, genauso unverständlich, unbestimmbar wie der Traum gerade eben ...
»... es geht nicht anders ... drinnen bei dem verdammten alten Knacker ... Angst, mehr Angst denn je in meinem Leben ... muß jetzt schlafen, morgen ist ein anstrengender Tag ...«
Auf dem Rückweg stand ich für einen Augenblick still im Flur, noch immer vom grellen Licht im Waschraum geblendet, noch immer etwas benommen, wie man eben ist, wenn man zu früh aufwacht und alle Müdigkeit einem noch in Körper und Geist steckt.