Laura Lippman

Die Witwe des Millionärs


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ura Lippman

      Die Witwe des Millionärs

      Tess Monaghans zweiter Fall

      Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Hoffmann

      Kampa

      Für John

      1 normaler Mann + 1 normales Leben = 0

      1 normaler Mann + 1 ungewöhnliches Abenteuer = Story

      1 normaler Ehemann + 1 normale Ehefrau = 0

      1 Ehemann + 3 Frauen = Story

      1 Bankkassierer + 1 Frau + 7 Kinder = 0

      1 Bankkassierer – $ 10000 = Story

      1 Chormädchen + 1 Bankpräsident – $ 100000 = Story

      1 Mann + 1 Auto + 1 Waffe + 1 Flasche Whiskey = Story

      1 normaler Mann + 1 normales Leben von 79 Jahren = 0

      1 normaler Mann + 1 normales Leben von 100 Jahren = Story

      GEORGEC. BASTIAN »Editing the Day’s News« (1922)

      Wenn man sich entscheidet, sein Leben mit einem Windhund zu teilen, dann ist das ein Akt, der fast so alt ist wie die Zivilisation selbst. Dies sind dieselben Hunde, die neben Pharaonen schliefen, mit den Edlen des Mittelalters jagten und die über Tausende von Jahren Künstler und Poeten inspirierten. Ohne Zweifel sind sie edel genug für uns. Die Frage ist: Sind wir edel genug für sie?

      CYNTHIAA. BRANIGAN »Adopting the Racing Greyhound«

      Drive-by-shootings sind out. Hinrichtungen sind in.

      BALTIMORE POLICE COMMISSIONER THOMASC. FRAZIER 1997 in einem Interview über die regionale Verbrechensstatistik

      1

      Vom Himmel fiel nichts Nasses. Kein Schnee, kein Eis, kein Hagel; kein Regen, der sich in Graupel verwandelte, kein Schauer, der zu Dauerregen wurde. Das allein war Grund genug, befand Tess Monaghan, zu feiern. Sie würde zu Fuß nach Hause gehen, statt wie sonst den Bus zu nehmen, vielleicht würde sie einen Zwischenstopp bei Bertha’s einlegen und die Nase über die muschelessenden Touristen rümpfen, oder sie könnte sich etwas Warmes, Alkoholhaltiges im Henniger’s gönnen. Ein Montagabend im März in Baltimore würde niemals Mardi Gras sein, nicht einmal Lundi Gras, aber es war nett, wenn man sich die Mühe machte, darauf zu achten. Und das tat Tess. Zum ersten Mal seit über zwei Jahren hatte sie einen Vollzeitjob und einen Vollzeitfreund. Ihr Leben lief vielleicht nicht wie eine dieser Ganztagspartys in der Bierwerbung, aber immerhin war es langsam so angenehm wie in einem Werbespot für International Coffee.

      Die ersten paar Blocks ihres Heimwegs war sie allein. Die Innenstadt wurde früh leer. Aber als Tess sich dem Inner Harbor näherte, war sie plötzlich von einer aufgeregten fröhlichen Menschenmenge umgeben. Tess war vielleicht keine Zeitungsreporterin mehr, aber ihre Instinkte funktionierten noch. Außerdem roch sie etwas zu essen: Hotdogs, Popcorn, Brezeln, irgendetwas leicht süßlich Angebranntes. Vielleicht Zuckerwatte – eine dieser verführerischen Sachen, die viel besser dufteten, als sie schmeckten.

      »Kostet heute alles nichts, Schätzchen«, sagte ein Hotdog-Verkäufer und drückte ihr eines seiner Kunstwerke in die Hand. »Auf Kosten der Keys.« Tess hatte keine Ahnung, wovon er redete, nahm den Hotdog aber trotzdem.

      Was würde an einem normalerweise gottverlassenen Montagabend so viele Leute hier in den Hafen locken, fragte sie sich und verschlang den Gratis-Heißhund mit drei Bissen. Geschäftsleute, die von der Arbeit kamen, junge Männer in Sportsachen und aufgedonnerte Frauen in Gabardine-Regenmänteln, deren hohe Absätze über einen Bürgersteig klickten, der gerade erst vom letzten Schneesturm freigeschmolzen war. Dann waren da noch die Vorstadtmuttis in Leggings, riesigen Pullovern und Daunenjacken, die sich fest an die Händchen von kleinen Kindern klammerten, die ihrerseits noch fester kleine schwarz-violette Fähnchen umklammerten.

      Angezogen von der Menge und der begeisterten Vorfreude, landete Tess an dem kleinen Amphitheater zwischen den beiden Pavillons im Hafen. Hunderte von Leuten drängten sich bereits vor der kleinen Bühne. Ein Mann mit einem Megaphon, der Moderator des städtischen Fernsehsenders, feuerte die Menge an. Tess brauchte einen Moment, um die verzerrten, elektronisch verstärkten Worte zu verstehen.

       »Slam dunk! Jam one! Slam dunk! Jam one!«

      Dann kamen noch ein paar Männer auf die Bühne, eine Möchtegern-Basketballmannschaft in schwarz-violettem Aufwärm-Outfit. Ein paar Kerle trugen sogar Shorts, und ihre Beine überzog in der kalten Abendluft eine lila Gänsehaut. Wer war wohl verrückt genug, in einer solchen Nacht so aufzutreten? Tess erkannte den Gouverneur. Das passte; dem hatte bisher noch jedes Kostüm gefallen. Aber auch der Bürgermeister, der nicht gerade für seine Originalität berühmt war, stand da in einem schwarzen Trainingsanzug; sein üblicher Kente-Schlips ragte gerade noch über dem Reißverschluss heraus. Tess entdeckte noch einen Fernsehtypen, zwei Senatoren und ein paar arme Säcke der ehemaligen Baltimore Bullets, die inzwischen Washington Wizards hießen, wegen der zahlreichen Morde in der Stadt. Erstaunlicherweise hatte der Namenswechsel nicht dazu beigetragen, die Zahl der Gewaltverbrechen zu reduzieren.

       »Slam dunk! Jam one! Slam dunk! Jam one!«

      Über das Grölen der Menge hinweg konnte Tess blecherne Musik hören, ein alter Jingle der Stadt, mit dem man die Leute dazu hatte bringen wollen, die Straßen sauber zu halten, indem die Bürger »Müllball« spielten. Sie konnte sich noch ungefähr daran erinnern. Die orange-weißen Mülleimer der Stadt waren mit Slogans wie Jam One! oder Dunk One! beklebt worden. Dann hatten sie die Kampagne beendet, und Baltimorabilia-Sammler hatten alle Mülleimer gestohlen, bevor man sie hatte umstreichen können.

      Nun hinkte noch ein Mann auf die Bühne, ein alternder Sportler, dessen Stock seinem scheußlichen Trainingsanzug einen eigenartig aristokratischen Touch verlieh. »Tuuuuutch, Tuuuuutch«, johlten die Männer, und ein paar Frauen kreischten tatsächlich, als er die Menge mit einem hochgereckten Daumen begrüßte. Ja, Paul Tucci sah immer noch gut aus und verfügte über den Körperbau des erstklassigen Sportlers, der er einst gewesen war, obwohl er nach der Knieoperation im Winter deutlich zugelegt hatte. Tess vermutete, dass die Frauen sich nicht so sehr für Tuccis Körper, sondern vor allem für Tuccis Geld interessierten. Er hatte mit Olivenöl angefangen und sich dann über praktisch jeden Aspekt des Lebens in Baltimore hergemacht, vom Import bis zur Müllverbrennung. »Die Tuccis spinnen Stroh zu Gold«, sagte man.

      Über die Lautsprecher wurde nun ein fröhliches »Sweet Georgia Brown« ausgestrahlt, das man mit den Harlem Globetrotters in Verbindung brachte. Der Gouverneur, der ungeschickt mit einem Basketball dribbelte, löste sich aus der Gruppe, trat vor und spielte dann dem Bürgermeister den Ball zu, allerdings warf er ihn über seinen Kollegen hinweg. Die beiden hatten noch nie gut zusammengearbeitet. Der Bürgermeister rettete die Situation einigermaßen, holte den Ball wieder und spielte ihn durch die Beine hindurch einem Senator mit einem recht neuen, recht schlechten Haartransplantat zu. Die Menge johlte begeistert. Tess fragte sich, warum um Himmels willen. Schließlich fing Tucci den Ball und ließ ihn auf der Spitze seines Krückstocks kreisen, was noch ein paar Frauen mehr kreischen ließ. Dann übernahmen die echten Basketballspieler die Bühne, sie führten ein paar ordentliche Pässe und Moves vor.

      Ein paar Minuten später trat der Fernsehmoderator ans Mikrophon. Zumindest ist er nicht blöd genug, mit nackten Beinen auf die Bühne zu kommen, fiel Tess auf.

      »Haaaaallllllllloooooooooo, Baltimore.« Die Menge jubelte. »Wie ihr wisst, gibt es seit 1972 in dieser Stadt kein Basketball mehr, und erst vor Kurzem ist Football in unsere Stadt zurückgekehrt, obwohl die National Football League zuerst zögerlich war …«

      »Nieder mit dem Commissioner!«, schrie ein durchgedrehter Fan direkt in Tess’ rechtes Ohr. »Nieder mit Tagliabue! Der verdammte Bob Irsay! Zur Hölle mit der verrottenden Leiche von Bob Irsay!« Irsay hatte die Baltimore Colts 1984 in einer Winternacht einfach weggeholt, und obwohl die Stadt mittlerweile eine neue Football-Mannschaft hatte und Irsay tot war, hasste man ihn immer noch. Baltimore vergaß vielleicht manchmal, aber vergab nie.

      Der Fernsehmoderator sprach ungerührt weiter. »Aber ein Mann hat