Laura Lippman

Die Witwe des Millionärs


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möchte. Im Gegenzug hat die Stadt sich bereit erklärt, ein wunderschönes neues Stadion zu bauen. Und alle Basketballfans sind heute hier angetreten, um der NBA zu zeigen, dass wir sehr wohl eine Mannschaft supporten können. Ja, das nenne ich Teamwork!«

      Und eine großartige Verschwendung von Steuergeldern, dachte Tess verärgert. Aber der Staat hatte dasselbe ja schon für die Orioles und die Ravens getan. Wenn jemals eine Stadt ein Selbsthilfebuch brauchte, dann Baltimore: Städte, die zu sehr in den Sport verliebt sind, und die gierigen Mannschaften, die das ausnutzen.

      »Also begrüßt bitte den Mannschaftskapitän, den Mann, der uns so weit gebracht hat, denjenigen, der allen ins Gesicht lachte, die ihm sagten, daraus würde nichts – unseren großartigen Gerard ›Wink‹ Wynkowski.«

      Ein schlanker, nicht besonders großer Mann kam auf die Bühne. Er trug keinen Trainingsanzug, sondern ein lila Polohemd, eine schwarze Jeans und eine schwarze Motorradjacke. Grau-weiße Cowboystiefel aus irgendeinem exotischen, politisch sicher zweifelhaften Leder – vielleicht Strauß oder Schlange – ließen ihn ein paar Zentimeter größer werden, sodass er neben dem Gouverneur und dem Bürgermeister bestehen konnte. Aber er hielt sich fern von den Ex-Sportlern, die ihn meilenweit überragten.

      »Seid ihr bereit für ein bisschen Basketball?«, knurrte er mit unverkennbarem Baltimore-Akzent.

      Sein Gesicht war eckig und spitz, tief gebräunt, und seine braunen Locken trug er in einer Art Afro. Tess erinnerte sich, dass eine Karikatur dieses spitzen Gesichtes und wilden Haares das Logo für eine seiner Firmen gewesen war, aber welche? Im letzten Jahrzehnt hatte Winks Holding Montrose Enterprises mindestens ein halbes Dutzend Geschäfte gegründet, jedes erfolgreicher als das zuvor.

      »Wink! Wink! Wink! Wink!«, bejubelte die Menge ihren Sportheiligen, genauso wie sie ihn vor 25 Jahren auf dem Basketballfeld der Highschool angefeuert hatten, als die Vorstellung, dass ein ein Meter achtzig großer Junge aus Polen Profi werden würde, nicht ganz so lächerlich gewesen war.

      »Ihr seid die Größten«, verkündete er der Menge. »Ihr seid an diesem Abend hergekommen, obwohl ihr nicht mal wisst, mit welcher Mannschaft ich verhandle. Stellt euch mal vor, wie viele Leute in einer Woche hier sein werden, wenn ich offiziell unsere neue Mannschaft bekannt gebe – die Baltimore Keys.«

      Die Menge grölte begeistert zurück: »Jam one! Slam dunk! Jam one! Slam dunk! Jam one! Slam dunk!«

      Tess drängte sich durch die Menge nach vorne. Neugierig wollte sie einen besseren Blick auf diesen Lokalmatador erhaschen. Winks Lebensgeschichte könnte aus einem alten Dreißiger-Jahre-Spielfilm stammen: Er war ein vaterloser Kleingauner, der es tatsächlich zu etwas gebracht hatte, nachdem er als Jugendlicher für ein paar Kleindelikte in der Jugenderziehungsanstalt Montrose gelandet war. Sie hatte gewusst, dass er reich war, aber ihr war nicht klar gewesen, dass seine Restaurants und Fitnessclubs ihm genug Geld eingebracht hatten, um sich eine Basketballmannschaft kaufen zu können.

      Als die Menschenmenge vor ihr zu dicht wurde, bog sie nach links ab und ging im Zickzack, bis sie an der Seite vorbei ganz nach vorne gelangte. Aus der Nähe waren Winks blaue Augen nicht die fröhlichen, tanzenden Lichter, die sie über so einem breiten Grinsen erwartet hätte. Sie ruhten groß und tief in seinem kleinen Gesicht, nahmen alles in sich auf und gaben nichts zurück.

      Plötzlich schubste jemand Tess brutal von hinten, und zwar mit einer Selbstgerechtigkeit, wie sie nur Päpste, Könige und Kameramänner an den Tag legten. Da der Papst in der nächsten Zeit nicht erwartet wurde und Wallis Warfield Simpson Baltimores einziger Thronanwärter in diesem Jahrhundert gewesen war, wusste Tess schon im Voraus, dass sie in die Linse eines Kameramannes schauen würde, wenn sie sich umdrehte. Sie stand mitten im Pressebereich, wo die Fernsehreporter den ganzen Quatsch für die Elf-Uhr-Nachrichten aufnahmen.

      »Du bist im Bild«, zischte der Kameramann sie an.

      »Wie ungeschickt von mir.« Sie rührte sich nicht – jedenfalls nicht gleich.

      In der Nähe standen zwei Zeitungsreporter, ein Mann und eine Frau, mit ihren Notizblöcken. Die Frau kritzelte wie wild in ihren, während der Mann Wink einfach nur anstarrte, als könnte er nicht glauben, was er sah. Einen Augenblick lang hatte Tess das Gefühl, sie sollte eine von ihnen sein, auch sie sollte einen Notizblock bei sich tragen. Dann erkannte sie den Mann – nicht an seinem Gesicht, das von ihr abgewandt war, sondern an seinen Knöcheln, die stets nackt waren, selbst an so einem Abend.

      »Feeney!«, rief sie. Er schaute müde unter dem Schirm seiner wollenen Baseballkappe auf, lächelte dann aber, als er sah, wer seinen Namen gerufen hatte.

      »Tess, meine Liebe!«, rief Kevin Feeney zurück und winkte ihr zu. »Komm hier rüber. Wir suchen bloß ein bisschen Stimmung.«

      Die junge Frau neben ihm bedachte Tess mit einem schnellen tödlichen Blick. Tess konnte praktisch hören, wie sie insgeheim Punkte verteilte, wie es manche Frauen nun einmal taten: Größer – ein Punkt für sie. Hippie – ein Punkt gegen sie. Große Brüste, lange Haare – 2 Punkte für sie. Unfrisur, nur ein Pferdeschwanz – 2 Punkte gegen sie. Älter als ich – 3 Punkte gegen sie. Gesicht okay. Klamotten weder schick noch peinlich. Tess war nicht sicher, wie sie am Ende abschnitt, aber offensichtlich ein bisschen zu gut. Die Frau bedachte sie mit einem erschreckend falschen Lächeln, das zugleich darauf hindeutete, dass sie wenig Erfahrung mit echtem Lächeln hatte, und streckte die Hand aus.

      »Rosita Ruiz.« Autsch. Die R’s rollten von ihrer Zunge wie Kugellager, und das T war eine akustische Machete. Rosita packte Tess’ Hand und zwickte sie zwischen Daumen und Zeigefinger wie ein Krebs. Tess, die oft mit einem alten Tennisball Kraftübungen machte, während sie telefonierte, genoss es, Rositas Hand zu drücken und zugleich ihre eigene Inventur vorzunehmen.

      Klein, aber Tess kamen die meisten Frauen klein vor. Sie sah aus wie eine Turnerin – schlanker Oberkörper, kräftiger Unterkörper. Gleichmäßige Züge und schwarz schimmerndes Haar – sie wäre hübsch, wenn sie nicht so säuerlich dreinblicken würde.

      »Tess Monaghan«, sagte sie, ließ Rositas Hand los und wandte sich wieder Feeney zu. »Ich kann kaum glauben, dass du hier bist. Machen so was nicht Praktikanten? Oder Sportreporter? Du gehörst doch in den Gerichtssaal, wo du echte Nachrichten verfolgen solltest.«

      »Ich hab’s dir doch schon gesagt. Wir sind hier nur auf der Suche nach ein paar Farbtupfern. Funkelnden Kleinigkeiten.«

      »Weswegen?«

      »Darf ich dir nicht sagen, meine Liebe, darf ich nicht sagen.«

      »Wenn Feeney Farbtupfer sagt, meint er es nicht wörtlich«, erklärte Rosita allen Ernstes. »Sie müssen wissen, in der Zeitung bedeuten Farbtupfer …«

      »Tess war eine von uns«, unterbrach Feeney freundlich, obwohl Tess das Gefühl hatte, keine Unterbrechung könnte für Rosita jemals freundlich genug sein. »Jetzt ist sie Privatdetektivin.«

      »Na ja, so ähnlich. Ich muss immer noch meine Lizenz beantragen. Aber ich bin jedenfalls kein Mitglied der vierten Macht mehr.« Komisch, es tat gar nicht mehr weh, das zu sagen. Der Star war tot, das Leben ging weiter, Baltimore war eine Stadt mit nur einer Zeitung, und diese eine Zeitung war – egal, wie einem das gefiel – der Beacon.

      »Sag uns Bescheid, wenn es so weit ist. Vielleicht kann Rosita was über dich schreiben, wenn du einen dicken Fall löst. Tess Monaghan, die rudernde Ermittlerin.«

      »Um diese Jahreszeit rudere ich nicht«, erinnerte ihn Tess. »So hart bin ich nun auch nicht drauf. Ich geh am ersten April wieder aufs Wasser, keinen Tag früher.«

      Feeney hörte sie nicht. Er strahlte, seine geheime Story ließ ihn von innen leuchten. Es war vielleicht etwas Politisches, vermutete Tess, wenn man bedachte, wer auf der Bühne stand. Für einen Artikel über den Gouverneur brauchte man auch immer frische Anekdoten, wie er sich wieder lächerlich machte. Oder vielleicht nutzte Familie Tucci auch ihre beachtliche Macht aus, um noch eine Müllverbrennungs-Konzession zu bekommen, obwohl immer weniger Stadtteile so eine Anlage herumstehen haben wollten. Aber wie die meisten reichen Familien beschwerten sie sich ganz schnell, wenn ihnen eine