Nataly von Eschstruth

Comödie. Band 2


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Wende verändert oft viel, und die, welche bei Sonnenschein ihr Schifflein bestiegen, endeten oft bei Nacht in Sturm und Regenflut! Sieh! Die Sonne draussen hat sich hinter Wolken versteckt, Wind und Hagelschauer geben mir das Geleit ins Leben hinaus, lass sehen, ob mich die Dunkelheit verschlingt, oder ob mir ein neuer Stern aufgeht, welcher noch höher steht und strahlender erglänzt als der deine! Va banque, Hans Burkhardt!“

      Monate sind vergangen.

      Grau in grau lasten die Nebel auf der nordischen Gross- und Handelsstadt, Winterkälte hat alles blühende Leben zu Tode gefroren, und wo Karneval seine lärmende Musik nicht hinträgt, wo der Strassentrubel fernab verhallt — da ist’s, als liege die Welt in traumlosem Schlaf wie ein armes Weib, welches unter schwerer Last zusammengebrochen.

      Im Hafen liegen die Schiffe, ernst, düster und still, wie unheimliche, gespenstische Riesen, welche das Unheil mit schwarzen Fittichen herbeitragen und das Glück auf Nimmerwiedersehen von dannen führen. Der Wind pfeift über das Wasser, in welchem sich mächtige Eisschollen übereinanderdrängen und aufstauen, um in wildgetürmten Blöcken zusammen zu frieren. Es saust und knirscht und pfeift im Tauwerk, und die Stimmen der heimkehrenden Hafenarbeiter verklingen in der Nacht. Wenig Laternen erhellen den Weg.

      Auf der Brücke schreitet langsam eine dunkle Gestalt. Eine Dame, fest eingewickelt in dunkeln Mantel, das Haupt durch ein wollenes Tuch geschützt. Sie lehnt sich auf das Brückengeländer und starrt in das dunkle, sich langsam dahinwälzende Wasser hinab. Die gefalteten Hände zittern, ein leises, krampfhaftes Schluchzen erschüttert den vorgeneigten Körper. — Das trübe Laternenlicht streift das bleiche, vergrämte Angesicht. — Aglaë.

      Ein Ausdruck dumpfer Verzweiflung liegt auf ihren Zügen, gross und brennend starren die Augen aus tiefen Schatten. Sie ist allein, kein Mensch hört und sieht sie. Ein Sprung in diese düstere, grausige Tiefe hinab, und sie hat überwunden, — sie ist frei von allem Elend und aller Not! — Ein Aufstöhnen der Todesqual! Aglaë krampft die Hände zusammen und lässt den Kopf schaudernd vornüber auf das eisglitzernde Geländer sinken — — es ist so schwer zu sterben!

      „Mich friert! — Was thut’s? Im Grab ist’s kälter noch als hier!“ klingt ihr die Melodie wie ein verworrenes Getöse durch den Sturm — und die Vicomtesse von Saint Lorrain taumelt mit leisem Wimmern zurück und klammert sich an den Laternenpfahl. Nein, sie kann nicht sterben — es ist so unheimlich, so schauerlich drunten in der Wassertiefe — und sie möchte so gern — ach so gern noch leben. Ist denn keine Menschenseele auf Gottes weiter Welt, welche sich ihrer erbarmen möchte?

      „Hans! Ach, Hans!“ schluchzt sie auf — und wie sie mit irrem Blick in das Schneegestöber starrt, welches beginnt die Luft zu füllen, da steht er wieder vor ihr, der Freiwillige auf der Schildwacht — der verachtete, verleugnete Freund, an welchem sie ehemals vorübereilte, als sei der liebevolle Ruf ihres Namens aus seinem Munde eine Schande für sie! — Und nun soll sie ihn rufen? Soll ihn um Hilfe und Mitleid anflehen — ihn, der es weiss, wie schändlich sie an ihm gehandelt? — Aglaë presst die Hände vor das Angesicht. — Sie will nicht sterben und kann sich doch auch nicht demütigen vor ihm, den sie ehemals unter die Füsse trat.

      Warum sagte sie ihm das letzte Mal in kindischem Trotz, wie falsch und schlecht sie gegen ihn gewesen? Warum bekannte sie ihre Schuld und riss damit einen Abgrund zwischen ihm und ihr auf, — den nichts wieder überbrücken kann?

      Närrin, die sie ist! Bedurfte es einer Beichte? Hat es der Worte gebraucht, um ihm erst ihr Benehmen klar zu machen? Hat er es nicht längst schon selber gewusst und empfunden, wenn sie ihn durch die verletzendsten Worte kränkte und ihn, den einzigen Freund, nicht wieder in ihres Vaters Haus lud, weil sie sich seines schlichten Namens und geraden Wesens schämte?

      Nein, es hätte ihrer Beichte nicht bedurft, er kannte sie und ihr erbärmliches Sein und Wesen! Und sie, gerade sie soll in dem niederdrückendsten Schuldbewusstsein zu ihm kommen, soll ihn zu Hilfe rufen und sagen: „Du hast abermals recht gehabt, Hans Burkhardt, ich bin wie ein eigensinniges Kind in mein Verderben gerannt, nun komm und rette mich vor dem Untergang!“

      Aglaë beisst die Zähne zusammen und hebt im alten, starren Trotz das Haupt. Nein, sie kann sich nicht demütigen — nicht vor ihm! Vorwärts — ein paar Wochen kann sie wohl noch das Leben fristen, wenn sie die rote Sammetschleppe und ihr letztes Armband verkauft. — Ihre Koffer sind allerdings schon sehr leer geworden, aber wenn sie ein Engagement findet, gibt man ihr entschieden Kredit, neue Kostüme anzuschaffen. Ein Engagement! Sie hat Wochen und Monate vergeblich darauf gewartet! Sie hat kein Geld gehabt, sich die Wege zu ebnen, und wenn die Armut tugendhaft bleiben will, dann wird sie überall unter die Füsse getreten.

      Langsam schleppt sich Aglaë weiter. — Welche Erfahrungen hat sie gemacht, welch eine nichtswürdige Sorte von Menschen hat sie kennen gelernt! Ein hilf- und schutzloses Weib ist ein vogelfrei Wild, — Wolf und Fuchs stellen ihm nach, es niederzureissen.

      Eine menschenbelebte Gasse mmmt die Einsame auf. Hellschimmernde Fenster! Musik und wüstes Gejuchze tanzender Matrosen und Dirnen! — Da drinnen ist’s, warm, warm und lustig! Und daheim in Aglaës elender Mansarde brennt kein Feuer im Ofen und kein Licht auf dem Tisch, es ist bitter kalt, — so kalt, dass die verwöhnte Millionärin sogar vor Frost zittert, wenn sie sich auf das harte Lager niederstreckt.

      Bratenduft strömt aus den geöffneten Fenstern des Restaurants — — und Aglaë hungert bereits seit dem frühen Mittag. Sie ist ausgegangen, sich für die letzten Groschen Brot zu kaufen. — Ach, und wie weh thut der Hunger! — Sie presst die erstarrten Arme fest gegen sich, aber ihre Schritte werden zögernder, und ihr fieberglänzender Blick schweift in die Fenster. — Es scheint ein übles Lokal zu sein, eines jener berüchtigten Tanzlokale, an denen Hafenstädte besonders reich sind.

      Ein altes Weib hat in der Thür gestanden und die junge, schlanke Frauengestalt beobachtet. Sie tritt schlürfend vor und schaut ihr scharf prüfend in das Gesicht. — Ein befriedigtes Grinsen. — Vertraulich fasst sie den Arm der Fremden und flüstert ihr ein paar Worte ins Ohr: „Komm mit Täubchen! Kannst dich selber überzeugen!“ schliesst sie kichernd und will Aglaë zur Thür ziehen.

      Mit einem leisen Aufschrei des Abscheus und Entsetzens reisst sich Aglaë los und flieht wie gepeitscht in die kalte, trostlose Nacht hinaus.

      Ihr verstörtes Antlitz wendet sich zum Himmel. Thränen stürzen aus ihren Augen: „Ich bin elend, Hans Burkhardt, arm und verlassen, hungernd und frierend, aber ich weiss dennoch, was ich dir gelobt habe, — und ich vergesse es nicht — ich bleibe brav und gut!“

      Viele hohe Stiegen führen bis zu der armseligen Dachstube der Vicomtesse von Saint Lorrain. — Schwer atmend, matt zum Umsinken steigt Aglaë Stufe um Stufe empor. Es flimmert ihr vor den Augen, wie ein Schauder des Entsetzens rieselt’s durch ihre Glieder: „Nicht noch krank werden! Herr Gott des Himmels — nur das nicht! Ein schwerer Schritt klingt ihr entgegen. Der Postbote kommt die Treppe herab. Er greift an die Mütze und blickt teilnehmend in das bleiche Gesichtchen des armen Fräuleins.

      „Na, Fräuleinchen! Heute habe ich einen Brief gebracht, und er sieht gerade so aus, als ob ’was Gutes drin stünde!“

      Sie zuckt empor und nickt ihm hastigen Dank, dann stürmt sie wie neubelebt die schmalen Stufen empor. — Auf der Thürklinke liegt ein Brief. Sie greift mit zitternden Fingern danach. Ein grosser roter Stempel verschliesst ihn. Aglaë nimmt sich keine Zeit, Licht in ihrem Stübchen anzuzünden, sie tritt an die Gasflamme des Treppenhauses und reisst den Umschlag von dem Briefbogen. Die Direktion des Stadttheaters zu X. fragt an, ob Fräulein Lorrain unter nachstehenden Bedingungen die Stellung einer zweiten Sängerin annehmen wolle und bereit sei, in dreimaligem probeweisen Gastspiel zuvor aufzutreten. Falls dem Fräulein die Mittel zu der Reise fehlen sollten, sei die Direktion bereit, den nötigen Vorschuss zu gewähren.

      Ein halb erstickter Aufschrei unbeschreiblichen Entzückens! Aglaë umkrampft den Brief und wankt in ihr Stübchen. Dort bricht sie in die Knie und hebt die gefalteten Hände inbrünstig zum Himmel, ihre Lippen regen sich — aber sie bleiben stumm, und dann sinkt ihr Haupt langsam vornüber auf den Stuhl. — So verharrt sie still und regungslos, als schlafe sie. Ein seelischer Schlaf der Erquickung